„Wir schreiben und wir wissen nichts“ Text und Experiment bei Robert Musil

CHRISTOPH HOFFMANN

„Wir schreiben und wir wissen nichts“
Text und Experiment bei Robert Musil*

I

Claude Simon bemerkte vor einigen Wochen in einem Interview in der Zeit: „Nach Kafka, nach Proust konnte man nicht mehr normal weiterschreiben. Wozu erfindet man eine Geschichte? (…) Wozu schreibt Flaubert ‚Madame Bovary‘? Doch nicht, um die Geschichte eines Ehebruchs zu erzählen? Der Sinn eines solchen Buches ergibt sich erst beim Schreiben. Wir schreiben und wir wissen nichts“ (Radisch, 1998, S. 37).

Simon wollte damit sicher nicht sagen, daß Literatur ein völlig voraussetzungsloses Geschäft ist. Seine Prämisse macht jedoch einem Begriff des Schreibens als Wiederholung irgendeines gegebenen Referenten ein Ende. Schreiben begegnet hier – und nicht nur hier – als ein Verfahren, in dessen Procedieren allererst seine Bedeutung, sein Objekt auf den Schreibenden, den Autor, zukommt.

„Wir schreiben und wir wissen nichts“. Der Stand der Literatur nach dem Ende eines souveränen, in seinen Erkenntnismöglichkeiten noch ungebrochenen Erzählens, enthält nicht wenig von der Praxis der modernen Experimentalwissenschaften – zumal wenn man sie als Technik der Inskription faßt. Etwas abgewandelt könnte man formulieren: Wir experimentieren, um das, was wir noch nicht wissen, in einer Spur auf uns zukommen zu lassen. „Die wissenschaftliche Aktivität“, so Hans-Jörg Rheinberger, „ist nur und gerade darin wissenschaftlich, daß sie als ‚Generator von Überraschungen‘ auf dem ‚Weg ins Unbekannte‘ auftritt, daß sie also Zukunft produziert“ (Rheinberger, 1992, S. 71). Diese Festlegung auf Offenheit scheint experimentale und literarische Veranstaltungen in Beziehung zu setzen. Und dieser Bezug erhärtet sich noch, wenn man die Art und Weise in Blick nimmt, wie diese Offenheit ins Werk gesetzt, wie sie fingiert wird.

Das eigentümliche Verfahren, in dem Claude Simon den unterschiedlichsten aber fast immer gleichen Beobachtungspartikeln die Möglichkeit neuer Bedeutungen beibringt, ist an anderer Stelle mit dem Begriff von Claude Lévi-Strauss als Technik der ‚bricolage‘ charakterisiert worden (vgl. Basting, 1999, S. 26). ‚Bricolage‘ – Bastelei: d.h. mit Dingen, die zu handen sind, andere Dinge tun, als diesen ‚ursprünglich‘ zukommen, bezeichnet bei Lévi-Strauss ursprünglich einen Modus wissenschaftlicher Tätigkeit (vgl. Lévi-Strauss, 1973, S. 29-36). Theorie und Geschichte der Naturwissenschaften haben sich hierfür aber erst interessiert, als seit den 80er Jahren experimentelles Tun selbst zu ihrem Gegenstand geworden ist. Experimentelle Zusammenstellungen von Apparaten, Verfahren, Objekten, kurz von technologischen Dingen, erfüllen danach ihren Zweck, Zukunft zu eröffnen, gerade dann, wenn sie unscharf gebraucht werden. Noch einmal Hans-Jörg Rheinberger: „Die nicht-technische, ‚gebastelte‘ Anordnung von technologischen Dingen erlaubt die Emergenz von Wissenschaftsobjekten“ (Rheinberger, 1992, S. 72), d.h. von Objekten, von denen man eigentlich noch nichts weiß.

‚Bricolage‘ ist jedoch kein völlig grenzenloses Unternehmen. Es ist abhängig von den verfügbaren Materialien, es ist angeleitet von dem Wissen, das in den Materialien selbst steckt und in ihrem Gebrauch mit aufgerufen wird und es ist angeleitet von einem Wissen, wie Materialien zueinander in Beziehung gesetzt werden können (vgl. Lévi-Strauss, 1973, S. 32). Anders gesagt muß die fundamentale Tätigkeit des Anordnens, Zusammenstellens, Aneinanderbindens als Tätigkeit einer spezifischen epistemischen Praxis verstanden werden. Die neuen Objekte und Bedeutungen, die in Texten wie Experimenten Raum erhalten, sind von daher informiert, begrenzt, eingefasst.


II

In der Reihe von Namen, die Claude Simon als Genealogie seines Schreibens aufmacht, fehlt der des österreichischen Schriftstellers Robert Musil. Ich meine, daß er dazugehört und zwar nicht, weil der literaturwissenschaftliche Kanon es so will, sondern weil wir an seinen Texten ebenfalls eine experimentale Verfassung bemerken können. Dazu kommt im Falle Musils, daß sein Bildungs- und Lebensgang vielfach mit der Welt des Konstruierens, Messens und Experimentierens verwoben ist. Ich fasse die Biographie in einige, wenige Sätze zusammen.

Robert Musil, geb. 1880 in Klagenfurt, gestorben 1942 in Genf, Zögling des Militärerziehungswesens, Kadett an der Technischen Militärakademie Wien, 1898-1902 Studium des Maschinenbaus in Brünn, 1903-1908 Studium der Philosophie und Experimentalpsychologie, Nebenfächer Physik und Mathematik, an der Berliner Universität, Promotion bei Carl Stumpf mit einer Arbeit zur Erkenntnistheorie Ernst Machs, Redakteur, Bibliothekar, im August 1914 eingerückt als Offizier, Grabenkrieg in den Alpen, später Redakteur einer Soldatenzeitung, von 1920 bis 1922 Fachbeirat für Methoden der Geistes- und Arbeitsausbildung, d. i. Psychotechnik, beim Österreichischen Bundesministerium für Heereswesen, danach ohne feste Anstellung.

Diese Daten und Fakten sind nicht unbemerkt geblieben. Ingenieur der Seele, Genauigkeit und Seele, die Seele im Labor, Möglichkeitsdenken, so lauten ein paar der Schlagworte, unter denen die Schriften Musils verhandelt worden sind. Ich spreche von Schlagworten, weil hier Momente der Biographie dazu benutzt werden, die Originalität eines Werkes und die Souveränität einer Autorschaft zu konstituieren, wo doch gerade jene Originalität und Souveränität in einem experimentalen poetischen Modell auf dem Spiel stehen. Meine Absicht ist es hingegen zu beschreiben, wie Musils Dichtung in der epistemischen Praxis der Experimentalpsychologie, genauer gesagt der Experimentalpsychologie, wie sie am Berliner Institut Anfang des 20. Jahrhunderts betrieben wurde, die Gegenstände und Regelhaftigkeiten ihres Procedierens findet. Meine Anmerkungen betreffen also, mit Foucault gesagt, das Archiv, das den Aussagen von Musils Dichtung vorausliegt (vgl. Foucault, 1981, S. 183-190) und festhält, was sich im Schreiben als wißbar geben kann und wie sich Schreiben zur Formation des Wissens verhält.

Mein Vortrag gliedert sich im folgenden in drei Abschnitte. Zuerst möchte ich die epistemische Praxis psychologischer Forschung am Berliner Institut und Musils Einbindung in diese Praxis näher beschreiben. Danach werde ich einen zentralen Text Musils aufgreifen, in dem Schreiben als experimentales poetisches Verfahren sich selbst zum Vorschein bringt. Zuletzt will ich versuchen, die eingangs skizzierte Parallele zwischen dem Schreiben eines literarischen Textes und dem Procedieren eines Experiments noch etwas zu vertiefen.


III

Die Texte Robert Musils durchzieht wie ein roter Faden eine Serie von randständigen Sinnesphänomenen, Oszillationen im Kontinuum des optisch und akustisch Gegebenen. Über Zwischenfälle des Sehens und Hörens wird berichtet, und ebenso sind sie unaufhörlicher Anlaß des Berichts. Diese Serie von Vorfällen muß als Indiz verstanden werden. Denn in all diesen Geschehnissen, die so abwegig, übersinnlich und damit außer der Zeit erscheinen, wird man der Experimentaldinge einer höchst gegenwärtigen Praxis des Wissens gewahr. Was in Musils Texten wiederkehrt, sind die Erzeugnisse einer psychophysischen Forschung, die auf der Basis medialer Übertragung optische und akustische Eindrücke manipuliert, in kleinste begrenzte Empfindungsspuren zerstreut, kontinuierliche Eindrücke an die Grenzen ihres Auseinanderfalls bringt, heterogene Eindrücke zur Unkenntlichkeit verschmelzt. Was begegnet, ist Grenzwert-, Grenzfallforschung mit den Mitteln apparativer Reizerzeugung (vgl. insges. Hoffmann, 1997).

Es ist sicher keine Neuigkeit, daß die Geschichte der experimentellen Psychologie in ihren Anfängen als Erforschung sinnlicher Wahrnehmungen nicht zum wenigsten als eine Geschichte experimenteller Apparaturen aufzufassen ist. Ohne Wundts Komplikationsapparat und ohne Reaktionszeit-Anordnung hätte aus einer Hinterstube der Leipziger Universität niemals das sogenannte erste Psychologische Labor werden können [1]. Die Apparaturen des Experimentierens schaffen freilich mehr als die materielle Identität einer Disziplin. Stroboskope, Telephone, Phonographen, Sekundenpendel, Fallklappenrelais usw. bilden, noch bevor überhaupt von Psychologischen Labors die Rede ist, Quellen von Irritationen, die allererst die Sinneswahrnehmungen der mit ihnen zusammengestellten Subjekte fraglich werden lassen. Die Experimentalapparaturen der neuen psychologischen Wissenschaft sind darum nicht einfach Instrumente zur Hand. Vielmehr entfaltet sich diese Wissenschaft um Ereignisse, die eben jene Apparaturen als ihr Apriori haben. Was sie Augen sehen und Ohren hören machen, hat jenseits des apparativen Gestells keine Entsprechung. Es kann darum nicht völlig verwundern, daß die Ergebnisse und Anwendungen experimentalpsychologischer Forschung selber wieder zu einem nicht unerheblichen Teil auf jene Apparate bezogen werden oder gar selbst Apparate sind. Flügelblendendesign in Kinematographenprojektoren, Frequenzgang-analyse menschlicher Sprache, Stereoempfänger, mit etwas mehr Suchen liessen sich sicher weitere Beispiele finden. Ich möchte darum behaupten, daß Apparate das offen sichtbare, zumeist aber nur am Rand erwähnte Zentrum eines Psychologischen Instituts Anfang des 20. Jahrhunderts waren.

Auch das Berliner Psychologische Institut verfügte über beachtliche Einrichtungen, obwohl bekanntlich Carl Stumpf seine Arbeit als Gegenentwurf zu Wundts Leipziger ‚Großforschungsbetrieb‘ definierte. Kurt Lewin erwähnt 1937 im Nachruf auf seinen Lehrer Stumpf, wie das Institut von seinen Anfängen in 3 auf über 40 Räume in den Zwanziger Jahren wächst, er erwähnt die große Apparatesammlung, über 300 schon 1910, das Phonogramm-Archiv, das Stumpf, Abraham und Hornbostel 1899 gründen, das Filmarchiv, die elektrische und die mechanische Werkstätte, die nach dem ersten Weltkrieg dem Institut zuwachsen (Lewin, 1981a [1937], S. 340f.; vgl. weiter Stumpf, 1910). Was er nicht erwähnt: das System von Röhren und Sprech- resp. Beobachtungsstellen, das einige Räume des Instituts zu einer großen Experimentalanordnung für akustische Versuche vernetzt. Diese Anordnung wird in zwei der wichtigsten experimentellen Arbeiten gebraucht, die am Institut in der Zeit des Ersten Weltkriegs entstanden sind: Hornbostels und Wertheimers Arbeit über das Richtungshören und Stumpfs Untersuchungen über die Struktur der Sprachlaute. Auf letztere werde ich später zurückkommen.

Zu den Techniken der Stimulation, den Apparaten, kommt in Stumpfs Institut noch etwas zweites hinzu: Praktiken der Beobachtung, Selbstbeobachtung und Befragung, die aus beliebigen Individuen spezifisch geschulte – ich sage es mit Mitchell Ash – „suitable experimentor subjects“ machen (Ash, 1982, S. 60). Dieses Wort benennt aufs Schönste die problematische Doppeltheit solcher Individuen. In dem sehr zur Lektüre anempfohlenen Text von Kurt Lewin: „Die Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtung und die Kontrolle psychologischer Beschreibungsangaben“ aus dem Jahr 1918 heißt es: „Es ist eine besondere Eigentümlichkeit der Psychologie, daß die zu Prüfungen oder Versuchszwecken benutzten ‚Objekte‘, die Versuchspersonen (Vpn), in der Regel zugleich einen nicht unwesentlichen Teil der wissenschaftlichen Arbeit zu leisten haben. Sofern nämlich überhaupt eine Beschreibung der psychischen Vorgänge beabsichtigt ist, sind es die Vpn selbst, die als Beobachter zugleich auch die eigentlichen Objekte der Untersuchung sind“ (Lewin, 1981b [ca. 1918], S. 153).

Die Schwierigkeiten, die hieraus für die psychologische Erkenntnis erwachsen, sind in extenso seit Kant (1911 [1786], S. 471) diskutiert worden. Im Berliner Institut, der Titel des eben zitierten Textes deutet das schon an, ist man ihnen mit einer regelrechten Disponierung der Versuchspersonen entgegengetreten. Im Zentrum steht dabei die Einübung der sogenannten inneren Wahrnehmung, das heißt die Selbstbeobachtung der Empfindungen, die eine äußere Wahrnehmung begleiten. Ich will Sie nun nicht mit dem Streit behelligen, ob die gute Versuchsperson besser die ‚dumme‘ oder die ‚instruierte‘ ist. Ich will Ihnen vielmehr aufzeigen, welche Wirkungen die Disponierung der Probanden an eben jenen Techniken der Stimulation zeitigt.

Beobachternachwuchs rekrutierte man in Berlin aus dem Reservoir der Studenten, die die Einführungsübungen im Experimentieren besuchten. Doch nicht jeder Student eignet sich als „experimentor-subject“. Stumpfs Assistent Friedrich Schumann weiß davon ein Lied zu singen: „Die einen vermögen überhaupt sehr wenig zu constatiren, weil für sie im Wesentlichen nur die Außenwelt Interesse besitzt, während andere der Selbsttäuschung sehr zugänglich sind. Bei Gelegenheit von experimentellen Uebungen wird man jedoch verhältnißmäßig leicht erkennen können, ob Jemand ein guter und zuverlässiger Beobachter ist oder nicht“ (Schumann, 1900, S. 4).

Besonders geeignet, die hohe Kunst der Selbstbeobachtung zu üben, sind nach Schumanns Erfahrung tachystoskopische Versuche. Er benutzt dafür ein sogenanntes Rotationstachystoskop (Abb. 1), das er sich nach eigenen Plänen Ende der 1890er Jahre für Untersuchungen zur Psychologie des Lesens hat bauen lassen. Gegenüber den gebräuchlichen Falltachystoskopen hat dieser Apparat zwei Vorteile: erstens wird das Beobachtungsfeld für kleine Zeitintervalle fast instant geöffnet und abgeblendet, zweitens kann unmittelbar auf die Abblendung in das Auge des Betrachters ein intensives Licht geworfen und dadurch das von der Exposition zurückgebliebene positive Nachbild zerstört werden [2]. Plötzlichkeit und Blendung: technisch erzeugte Schocks als experimentale Randbedingungen, das zeichnet Experimentalpsychologie um 1900 aus. An den Probanden ist es nun, auf einen Fragekatalog des Versuchsleiters hin Umfang und Inhalt des Wahrgenommenen zu rekapitulieren.

 

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Abbildung 1: Rotationstachystoskop nach Schumannn


Eine der Versuchspersonen, die sich Schumanns ‚Leseübungen‘ unterworfen haben, ist ohne Zweifel Robert Musil gewesen. „Am Tachy[s]toskop“, so lautet die Überschrift einer Notiz in einem Tagebuchheft aus den Jahren 1904/05 (vgl. Musil, 1981a, S. 125). Musils Aufzeichnungen enthalten allerdings eine große Zahl von Wertungen und Erklärungen, die gerade das Gegenteil einer von Lewin geforderten „rein psychologischen Betrachtungsweise“ sind (Lewin, 1981 [ca. 1918], S. 187ff). Als Zeugnis, was sich da in Expositionen im Millisekundenbereich innerer Beobachtung zu beobachten gibt, kommen sie nicht in Frage. Ich zitiere daher aus den Berichten über andere Probanden.

Einige geben „mit dem Ausdruck der Verwunderung an, daß sie die 6 oder 7 exponierten Buchstaben sämtlich sehr deutlich (schwarz auf weißem Grunde, mit scharfen Konturen) gesehen, trotzdem aber keinen einzigen erkannt hätten“ (vgl. hierzu und zum folgenden Schumann, 1904, S. 36f.), während bei anderen die „merkwürdige Erscheinung“ auftritt, „daß an Stelle des exponierten Wortes ein anderes, ihm nur der optischen Gesamtform nach ähnliches angegeben wird, das die Versuchsperson gleichwohl mit sinnlicher Deutlichkeit gesehen haben will“. Und bei manchen findet sich überdies, „daß von einem Worte eigentlich kein einziger Buchstabe deutlich gesehen war, daß aber trotzdem ein ganz oder wenigstens teilweise richtiges Lautbild reproduziert wurde. In diesem Falle riskieren die Versuchspersonen häufig zuerst gar nicht irgend etwas anzugeben. Erst wenn man sie fragt, ob denn gar kein Wortbild aufgetaucht sei, nennen sie das betreffende Wort, erklären aber gleichzeitig, daß es unmöglich richtig sein könne, da sie ja eigentlich nur einen ganz verschwommenen Fleck gesehen hätten“ (ebd.)

Für diese bedenklichen Eindrücke zeichnet die konzentrierte Binnenschau der Probanden nur zu einem Teil verantwortlich. Erst die Kombination mit dem technischen Stimulus entfaltet die Verstörungen in ihrer vollen Blüte. Die „Bewußtseinsthatsachen“ (Schumann, 1900, S. 3), die sich für Schumann, Stumpf und ihre geplagten Versuchspersonen in eingehender Selbstbeobachtung ergeben sollen, sind nicht nur die Folge technischer Manipulation der Sinne, sie sind überhaupt nur im apparativen Rahmen beobachtbar. Es ist sicher kein Zufall, daß Schumanns Rotationstachystoskop auffällige Gemeinsamkeiten mit einer der ersten Kinematographenapparaturen aufweist: dem Elektrotachyscop oder elektrischen Schnellseher (Abb. 2) von Ottomar Anschütz aus dem Jahre 1877 (vgl. Eder, 1891). Daß Schumanns Apparat selbst als eine Art primitiver Kinematograph arbeitet, sollte einige Jahre später Max Wertheimers Untersuchung über das Sehen von Bewegung vorführen (vgl. Hoffmann, 1997, S. 154).

Die Übereinstimmungen an der apparativen Basis legen nahe, daß umgekehrt medientechnische Sinnesreizung gewissermaßen einen psychologischen Dauerversuch mit Zuhörern und Zusehern veranstaltet. Effekte, wie sie sich am Tachystoskop einstellten, ließen sich genausogut in einem der vielen Kinosäle beobachten, die um die Jahrhundertwende in den Hinterzimmern Berliner Wirtschaften entstanden waren. Stumpfs Schüler machen aus solchen Effekten „epistemische Dinge“ (Rheinberger, 1992, S. 68), genauer gesagt, wie Sie gleich hören werden: rätselhafte Eigenschaften der Seele, die freilich hier nicht zum Labor- sondern zum Literaturfall werden.

Der ‚Held‘ von Robert Musils literarischem Debüt, dem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, erschienen 1906, ist vermutlich eine der ersten literarischen Figuren, deren Sinne von dem neuen Medium ergriffen werden. Etwas über die Mitte des Romans stößt man auf eine denkwürdige Passage. In ihr gehen die pubertären Erregungen, die im Zentrum des Romans stehen, im letzten Stand der Technik auf. Törleß Blick fällt auf den ebenso abstoßenden wie anziehenden Mitschüler Basini: „etwas regte [sich in ihm] wie eine wahnsinnig kreiselnde Bewegung, die augenblicklich das Bild Basinis zu den unglaublichsten Verrenkungen zusammenbog, dann wieder in nie gesehenen Verzerrungen auseinanderriß. … Nie ’sah‘ er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgendeiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern vorbeihuschen“ (Musil, 1981 [1906], S. 90f.).

Kaum sind diese unglaublichen Oszillationen vorüber, sinniert Törleß schon darüber, ob die „illusionierende – und doch stets um ein unmeßbar Kleines zu wenig illusionierende – Kraft“, die diese Bilder in ihm erzeugt, „mit jener rätselhaften Eigenschaft seiner Seele zusammenhänge, auch von den leblosen Dingen, den bloßen Gegenständen, mitunter wie von hundert schweigenden, fragenden Augen überfallen zu werden“ (ebd., S. 91).

 

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Abbildung 2: Elektrischer Schnellseher nach Anschütz

Ich kann Ihnen die Geschichte des Törleß hier nicht weiter erzählen, aber es ist dies nicht die einzige Szene, in der apparativ gestellte Grenzfallwahrnehmungen mit der Selbsterforschung einer Seele zusammenfallen. Übrigens fehlen auch nicht die inquisitorischen Vernehmungstechniken, die Musil aus seinem Studentenalltag kannte. So ergründet Törleß als echter Eleve Berliner Experimentalpraktika die innere Wahrnehmung des Probanden Basini, stets gipfelnd in der entscheidenden Frage aller introspektiven Exerzitien, nämlich: „Was ging in jenem Augenblick in dir vor?“ Leider fällt aber auch Basini dazu nur wenig ein: „Nun ja, – gar nichts. Es war doch nur ein Augenblick, ich fühlte nichts, ich überlegte nichts, es war einfach plötzlich geschehen“ (ebd., S. 103).

Leider kann ich hier auch nicht dem Pfad jenes Kinematographenflimmerns weiter folgen, das Törleß zum Stimulus seiner Selbstbefragung wird, unter Psychologen aber in einem philosophischen Diskurs über Bewußtsein z. B. bei Henri Bergson, in der experimentellen Untersuchung des Bewegungssehens etwa bei Paul Linke und Max Wertheimer und schließlich bei Karl Marbe als Anlaß von Verbesserungsvorschlägen für den Kinematographen kursiert (vgl. Bergson, 1912 [1907]; Linke, 1907; Marbe, 1910; Wertheimer, 1912). Die Begebenheiten des Romans sind jedoch nicht merkwürdiger als die epistemische Praxis, die ihre Bedingungen absteckt; im Gegenteil.

 

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Abbildung 3: Farbvariator nach Musil


Unter all den Apparaturen im Berliner Institut befindet sich anno 1905 auch ein brandneuer Farbvariator zur Herstellung von Mischfarben (Abb. 3). Konstruiert hat ihn Robert Musil für den Kommilitonen und Freund Johannes Gustav von Allesch. Die Details dieser Arbeit spare ich, nur soviel: im Gegensatz zu den bis dahin üblichen Apparaten mußte man Musils Farbvariator nicht jedesmal anhalten, um Änderungen an der Einstellung der Sektorenscheiben genau zu justieren. Das hatte zur Folge, daß man während des Betriebs „in beständigem Fluß jede Farbe vorführen [konnte], die sich aus zwei gegebenen Farben überhaupt herstellen läßt“ (Musil, 1981c [1927]; vgl. ferner Traxel, 1985). An Alleschs Untersuchungen über die „ästhetische Erscheinungsweise der Farben“ hat Musil, soweit das den Auszügen aus den Versuchsprotokollen zu entnehmen ist, nicht teilgenommen. Aber auch diese Versuche werfen ein bezeichnendes Licht auf die Effekte, die apparative Reizung und introspektives Verfahren in den Köpfen von Experimentalpsychologen hinterlassen. So werden in völlig reinen Farbeindrücken gemischte Farben wahrgenommen und andernteils werden erheblich gemischte Farben als rein bezeichnet (vgl. Allesch, 1925). Diese Beobachtungen sind geradezu typisch für Probanden aus der Stumpf-Schule. Systematisch lehrt die Ausbildung ein skrupulöses Mißtrauen gegen die eigenen Empfindungen, zugleich aber führt sie die Gabe der inneren Wahrnehmung zu ungeahnten Leistungen.

Was hartgesottene „experimentor-subjects“ sich angeeignet haben, ist eine Art Extrasinn, der mehr und sehr eigenartige Dinge zu hören und zu sehen vermag, als dem Normalsterblichen je vergönnt ist. Dieser Extrasinn kann unter Versuchspersonen Verwirrung stiften, er kann aber auch eine Serie von Vorfällen in Gang setzen, die wir als Literatur bezeichnen. Ich möchte aber im folgenden noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur definiert die epistemische Praxis der Experimentalpsychologie die Gegenständlichkeiten der Musilschen Schriften: das was in ihnen als von Belang, als Positivität erscheint – für Hornbostels Experimente zur optischen Inversion, die in Musils Ästhetik und im Mann ohne Eigenschaften eine so große Rolle spielen, hat dies wunderschön Peter Berz (1993) gezeigt. Grundsätzlicher noch lassen sich die Regelhaftigkeiten, nach denen sich Erzählen bei Musil bestimmt, in Stumpfs Berliner Labor auffinden.

 

IV

Robert Musils Erzählung „Die Amsel“ ist ohne Zweifel ein Schriftstück und kein Hörspiel; wobei freilich auch ein Hörspiel zunächst ein Schriftstück sein wird. Ich spreche diesen Unterschied an, weil uns in der „Amsel“ ein Paradox begegnet: alles, was geschrieben steht und wovon man liest, ist in der Form einer Ansprache an einen explizit oder implizit anwesenden Zuhörer gehalten. Dem liegt zugrunde, daß Musil seinem Text eine novellistische Form gegeben hat, in der sich Mündlichkeit als tragendes Element in einem schriftzentrierten Erzählen erhalten hat. So auffällig aber in „Die Amsel“ das gesprochene Wort dominiert, es handelt sich gerade nicht um eine unvermittelte Mündlichkeit. Wer dort spricht oder zuhört, tut dies unter dem Apriori eines Wissens, das elektroakustische Wandler und Psychophysik verknüpft. Die Folgen dieses Schritts betreffen nicht nur die Sinnhaftigkeit der übermittelten Ereignisse, sie betreffen vor allem die Funktion eines Erzählens und das Selbstverständnis eines Autors.

Musils Text besitzt genau besehen eine doppelte Novellenstruktur. Eine innere Novelle umfasst drei merkwürdige Begebenheiten aus dem Leben einer Person namens Azwei sowie einen Erzählrahmen, in dem Azwei dieser Begebenheiten seinem Freund und Zuhörer Aeins berichtet. Eine äußere Novelle umfaßt wiederum diese innere Novelle mit einer Einführung durch einen anonymen Berichterstatter. Während in der inneren Novelle der Zusammenhang der drei Begebenheiten Thema ist, stellt sich als Thema der äußeren Novelle gerade die Herstellung dieses Zusammenhangs im Akt des Erzählens heraus. Musils Text verwickelt somit auf bemerkenswerte Weise das Lebensgeschick eines Erzählers – nämlich Azweis – mit dem Geschick des Erzählens. Vor allem diesem Geschick des Erzählens und den Bedingungen, unter denen es sich eröffnet, will ich nun folgen. Diese Bedingungen sind freilich die selben, nach denen sich das Lebensgeschick Azweis erschließt.

Zu den wenig beachteten aber wichtigen Charakteristika der Novelle gehört es, daß die Wiedergabe der Binnenerzählung zumeist zu einem bestimmten Zweck eingeleitet wird. Mit der Erzählung einer Geschichte soll etwas anderes bewirkt werden: eine Lehre, Absolution, Heilung, Rettung, Unterhaltung (vgl. Aust, 1990; Lockemann, 1973). In der inneren Rahmenerzählung der „Amsel“ weist dagegen der Erzählzweck jederzeit auf Erzählen als Verfahren selbst zurück; auf den performativen Akt des Erzählens. Die Motivation, mit der der Erzähler Azwei zu Gange ist, wird dem Zuhörer Aeins allerdings erst ganz am Ende zu Gehör gebracht. Nachdem er sich drei recht dubiose Vorfälle aus dem Leben Azweis‘ hat anhören müssen – eine falsche Nachtigall lockt mit ihrem Ruf Azwei von Heim und Herd, ein singender Fliegerpfeil läßt ihn später erwarten, daß im nächsten Augenblick Gott selbst in ihn fahre, und zuletzt tritt eine sprechende Amsel auf, die behauptet, die tote Mutter Azweis‘ zu sein – fragt Aeins etwas verwirrt: „Aber du deutest doch an, daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat? Du lieber Himmel, – widersprach Azwei – es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!“ (Musil, 1981d [1928], S. 562)

Mit diesen Worten schließt „Die Amsel“ und in der Tat geht es in allen drei der berichteten Vorfälle genau um diesen Punkt: spricht da etwas zu mir oder vernehme ich nur diffuse Klänge und Geräusche. Eine Entscheidung darüber wird jedoch gerade nicht getroffen. An ihre Stelle tritt der Bericht der Ereignisse selbst: es war mir als, es schien mir, ich hielt es für möglich, dieser dichte Teppich introspektiver Partikel bringt jedesmal den Übergang von Klängen oder Geräuschen in Gesang oder Sprache zur Beschreibung. Die Frage „flüstern oder rauschen“ betrifft allerdings nicht nur jede einzelne der Begebenheiten; sie betrifft ebensosehr den Zusammenhang, den die drei Geschichten im Akt des Erzählens erhalten, eben ihren gemeinsamen Sinn, den Aeins zum Schluß einfordert.

Mitte der Zwanziger Jahre – zu der Zeit, da „Die Amsel“ entsteht – läßt sich das Verhältnis von Flüstern und Rauschen nicht mehr auf die simple Opposition von Sinn und Unsinn reduzieren, die Aeins am Ende der Binnenerzählung ins Spiel bringt. Vielmehr werden nach Bernhard Siegert die zwei großen Fragen von Musils Text, die Frage nach dem Sinn des ganzen Gehörten und die Frage nach dem Sinn des Erzählens „in der ‚Amsel‘ wie auch historisch in der Weise entschieden, daß die Entscheidung selber ersetzt wird durch eine Theorie und Praxis von Rauschfiltern“ (Siegert, 1993, S. 194).

Diese Theorie und Praxis hat verschiedene Orte: Telephonielabors, Rundfunkversuchsstellen. Einer der für den deutschen Sprachraum wichtigsten aber war das Berliner Psychologische Institut. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beginnt Carl Stumpf dort mit einer Reihe von Untersuchungen über die Struktur der Sprachlaute. Das Thema im Grenzgebiet von Sinnesforschung und Physik hat Tradition in Deutschland. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Hermann von Helmholtz die These aufgestellt, daß die spezifische Klangfarbe der Vokale durch verschiedene harmonische Obertöne zu dem Grundton charakterisiert sei, auf dem die Vokale durch die Stimmbänder erzeugt werden (Helmholtz, 1863, S. 163ff.). Helmholtz‘ Modell bildet die Basis der Forschung in den folgenden Jahrzehnten, umstritten bleibt jedoch die Relation und Lage der später ‚Formanten‘ genannten Obertöne.

Als Stumpf sich dem Thema zuwendet, herrscht hierüber alles andere als Konsens. Das Wirrwarr der Meßwerte macht es notwendig, die Untersuchung noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Die Wiederholung von Helmholtz‘ Versuchen bestätigt zwar dessen Annahme im Allgemeinen, es zeigt sich aber, daß jeder Vokal neben einem Hauptformanten auch Nebenformanten besitzt. Um ihre Lage und Wichtigkeit weiter einzugrenzen, geht Stumpf in einer neuen experimentellen Runde dazu über, die vermuteten Formanten eines Vokals gezielt durch Interferenz auszulöschen. Schneidet man zunächst die höchsten Formanten ab, verwandelt sich beispielsweise ein E in ein ÖE. Schließt man weitere Tonstrecken aus, geht das ÖE in ein Öu und schließlich in ein dumpfes U über. Auf diese Weise kann man exakt den Schwellenwert bestimmen, an dem ein Sprachlaut zuerst undeutlich und anderen Sprachlauten ähnlich wird, ehe er dann in Klang ohne Sprachfärbung übergeht (vgl. Stumpf, 1918).

Die gleichen Versuche stellt Stumpf mit den Konsonanten deutscher Sprache und – nota bene – mit Flüsterlauten an. Obwohl diese Laute gerade auszeichnet, daß sie auf keinem konstanten Grundton hervorgebracht werden, können auch für sie charakteristische Formantgebiete angegeben werden. So verwandelt sich ein R, schränkt man den Frequenzgang durch Interferenz immer weiter ein, zuerst in ein „tonloses Gurren“, dann in ein „gurgelndes Hauchen“ und verschwindet schließlich ganz (vgl. ebd., S. 356). Stumpfs Analysen lassen keinen Zweifel: Sprachlaute einerseits und Klänge und Geräusche andererseits stellen nicht grundverschiedene Dinge dar, in ihrer Struktur sind sie vielmehr vielfach im Übergang begriffen.

Der Stumpf-Schüler Musil wird in die Feinheiten des Zusammenhangs zwischen Sprache, Klängen und Geräusch nicht im psychophysischen Versuch eingeführt, sondern im großen Experiment der Sinne, dem Ersten Weltkrieg. Es ergeht ihm wie Millionen Soldaten an den Fronten: eingegraben in der Stellung wird das Schlachtfeld für ihn zum Hörraum. Er lernt, sich mit den Ohren zu orientieren, er lernt, das Geräusch der verschiedenen Waffen auseinanderzuhalten, und er lernt, daß nicht nur jedes Geschoß, sondern jede Front ihren eigenen Klang hat. Im November 1915 notiert Musil sich über das Trommelfeuer an der Isonzofront: „Der Tod singt hier. Über unsern Köpfen singt es, tief, hoch. Man unterscheidet die Batterien am Klang. tschu i ruh oh – puimm. Wenn es in der Nähe einschlägt: tsch – sch – bam“ (Musil, 1981a, S. 324).

Das klingt nach dadasophischen Gedichten. An der Notiz frappiert aber vor allem die gegenläufige und doch parallele Tendenz zu Stumpfs Forschungen. Während nämlich Experimentalpsychologie Sprache – nicht zuletzt des Dichters – als Klang und Geräusch analysiert, hören eingerückte Schriftsteller aus Waffensound die letzten oder ersten Phoneme eines Gesangs, einer Sprache heraus.

Ganz erfaßt hat Musil die Bedeutung seiner ‚Phonoskripte‘ wohl erst, als er 1920 Stumpfs zwei Jahre zuvor erschienene Abhandlung über „Die Struktur der Vokale“ zu lesen bekommt (vgl. das Exzerpt in Musil, 1981a, S. 506). Wenn Schlachtenlärm in Sprachlaute transkribiert werden kann, und umgekehrt Vokale und Konsonanten als Klänge und Geräusche darstellbar sind, verliert die Unterscheidung zwischen gesungener, gesprochener oder geflüsterter Sprache und jedem anderen ‚sound‘, und sei es dem des Krieges, ihren absoluten Charakter.

„Flüstern oder rauschen“, das sind zunächst zwei Klang-Geräusch-Mischungen, die sich nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Erfüllen Klänge und Geräusche Formantbedingungen, hängt es für Stumpf vornehmlich von der subjektiven Einstellung und Gewöhnung des Hörers ab, ob er sie als Gesangs- oder Sprachlaute auffaßt. So vernimmt er zum Beispiel selbst in „knallartige[n]“ Geräuschen, wie zur Bestätigung von Musils Kriegsnotizen, einen gewissen Vokalcharakter (vgl. Stumpf, 1926, S. 344). Ob man Vogellaute als Gesang analysiert oder mit Musils Freund Hornbostel als „Bewegungs- und Hörspiel“ (Hornbostel, 1911, S. 128), ob man den Klang eines Fliegerpfeils als tödliche Waffe oder als „Stimme“ an der „Grenze der Atmosphäre“ qualifiziert (Musil, 1981e [1915/16], S. 754), hängt so besehen letztlich von Einstellung, nämlich von experimentaler Einstellung der Ohren im Labor ab. Und auch der letzte, sicher unglaublichste Vorfall, den Azwei erzählt, erhält in diesem Licht eine mögliche Auflösung. Was sich begibt, wenn aus dem Mund einer Amsel eine Mutter sich zu Gehör bringt, läßt sich als verborgene Szene eines ‚zur-Sprache-kommens‘ deuten. Mit den Worten Stumpfs gesagt, verdichtet sich in der Wiederholung nichts anderes als der erste Vorfall jenes „Vertrautheitscharakters“, der „im höchsten Grade den Lauten der Muttersprache“ eignet (Stumpf, 1926, S. 268) und im übrigen das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen menschlichen Vokalen und allen übrigen Klangfarben ist, sei es das „Tirili der Lerche“ oder das „Mäh des Lammes“ (ebd., S. 267). Die Szene, die sich zuletzt aus dem Mund der Amsel in Azweis Gedächtnis ruft, scheint so betrachtet die Szene der Muttersprache selbst zu sein; eine Szene der Unterscheidung, der Abstimmung, der Sozialisation, der durchaus sinnreichen Begründung eines Erzählerlebens.

Ich habe das biographische Moment in Musils Text kurz angerissen, um zu zeigen, daß Verstehen sich dort nicht als Gabe eines kritischen Einfühlens bestimmt, sondern als Ergebnis von psychophysischer Einstellung und Übung. Und ich schließe daran die These an, daß auch Erzählen in „Die Amsel“ nicht eine Aktion ist, durch die ein zu Beginn vielleicht noch verborgener, aber gewiß vorhandener Sinn gedeutet wird. Hier wird vielmehr, wie erinnerlich, erzählt, um den Sinn der Begebenheiten eines Lebens erst noch zu klären, und wenn dieser Sinn bereits fest stünde, würde mit dem Erzählen erst gar nicht begonnen.

Erzählen rückt damit aus dem Kontext der Rechtfertigung in den Kontext der Entdeckung. Dieses Erzählen begegnet dem Leser jedoch wiederum von einem Standpunkt zweiter Ordnung. Es begegnet, wie schon der Eingangssatz des Textes zeigt, als ausgestelltes Erzählen: „Die beiden Männer, deren ich erwähnen muß – um drei kleine Geschichten zu erzählen, bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet – waren Jugendfreunde; nennen wir sie Aeins und Azwei“ (Musil, 1981d [1928], S. 548).

Dieser Eingangssatz bringt das Erzählen selbst zur Sprache und er tut dies im Gestus einer experimentellen Anweisung, gesprochen zuletzt von einem „wir“, hinter dem sich das typische wissenschaftliche Kollektivsubjekt verbirgt (vgl. Eibl, 1970, S. 456). Und in der Tat werden ‚wir‘ in der ganzen Binnennovelle Zeuge eines Erzählexperiments. Eine der Randbedingungen ist dabei bereits genannt: es kommt darauf an, wer berichtet. Eine andere verhält sich zu dieser jedoch vorgängig: die Aktion ‚Erzählen‘ selbst, ihre Eigenschaft, die erzählten Begebenheiten in einen Zusammenhang zu stellen, ihr Einfluß auf das Verhältnis von Flüstern und Rauschen. Diese Randbedingung setzt Musils Text insbesondere auseinander.

Stumpfs Forschungen über die Struktur der Sprachlaute nehmen Anfang der 20er Jahre eine immer praktischere Ausrichtung. Aus einem Experimentalsystem wird eine Meßapparatur, mit deren Hilfe der Frequenzgang ermittelt wird, den elektroakustische Wandler für eine verständliche Sprachübertragung mindestens leisten müssen. Diese Wendung ist kein Zufall, die meiste Beachtung finden Stumpfs Arbeiten im Telegraphentechnischen Reichsamt, und es sind später Telephon- und Rundfunktechniker, die ihm mit das treueste Andenken halten (vgl. Meyer, 1928; Wagner, 1924). In einer dieser Meßreihen stellt Stumpf fest, daß bei gleichem Frequenzgang eines Systems „zusammenhängende sinnvolle Rede“ noch sehr lange zu verstehen ist, wo maßgebliche Teile des Lautbestands für sich bereits unverständlich sind (vgl. Stumpf, 1921, S. 186). Die Lösung für die Abweichung liegt auf der Hand: die Versuchspersonen ergänzen das Unverständliche aus dem Sinnzusammenhang. Stumpf bemerkt aber weiter, daß es sogar reicht, einen Konsonanten mitten in ein Wort zu setzen, auch wenn er dort nicht hingehört, damit er besser verstanden wird (vgl. ebd.). Konsonanten und Vokale in einen Zusammenhang zu stellen, heißt also zuallererst in ihre akustische Verständlichkeit einzugreifen; den Übergang ins Rauschen zu verschieben.

Bei Messungen an elektro-akustischen Wandlern ist dieser Effekt eine Störquelle – und zwar weil er individuell verschieden ausfällt – weshalb Ingenieure von Siemens & Halske bei sogenannten „Verständlichkeitsmessungen“ mit sorgsam kalkulierten Zufallssilben arbeiten (vgl. Mayer, 1927). In der „Amsel“ wird dieser Effekt dagegen skrupulös bedacht. Als Prämisse gilt dabei: Wenn die Gabe des Sinns in die Verständlichkeit einer Zusammenstellung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen eingreift, dann könnte im Umkehrschluß die Gabe der Zusammenstellung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen in die Verständlichkeit eines Sinns eingreifen. Damit wären wir um ein Haar wieder bei der Fiktion des auktorialen Erzählers als Deuters der Zeiten angelangt, aber nur um ein Haar. Denn das wirklich ‚Unerhörte‘ an Musils Novelle ist, daß dort die Gewalt des Erzählers sich ihre Regeln nicht selbst gibt, sondern den Regeln der Statistik unterwirft.

Das scheint mir freilich nur folgerichtig, wird damit doch die erzählerische Korrelation zwischen den drei Vorfällen durch die selbe Methode abgesichert, mit der auch in Nachrichtentechnik und Experimentalpsychologie Korrelationen zwischen Phänomenen hergestellt werden.

Amsel-Leser setzen in aller Regel genauso wie der Zuhörer Aeins voraus, daß die drei von Azwei wiedergegebenen Vorfälle einen sinnvollen Zusammenhang haben. Azwei selbst bewegt dagegen während des ganzen Berichts die Frage: ist das, was ich wiedergebe, überhaupt eine Geschichte, oder handelt es sich um mehrere, die gar nichts miteinander gemein haben? Schon während des Berichts des ersten Vorfalls läßt Azwei gegenüber Aeins einfließen: „Vielleicht habe ich unrecht, dir diese Geschichte im Zusammenhang mit zwei anderen zu erzählen, die darauf gefolgt sind“ (Musil, 1981d [1928], S. 553). Der Zweifel gründet dabei in der subjektiven Wahrnehmung des ersten Geschehnisses: Aeins ist sich nicht sicher über seinen „Eindruck“. In einem Experiment spricht man in diesem Fall von einem Beobachtungsproblem, und das ist ein wichtiger Hinweis darauf, nach welchen Regeln die Zusammenstellung der drei erzählten Begebenheiten geschieht.

Azwei äußert einmal gegenüber Aeins über den Zweck seines Berichts: „Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind“ (ebd.). Was heißt „wahr“ hier? Eine Möglichkeit erwähnt Aeins in seinem Einwurf am Ende der Erzählung. Die Wahrheit der Geschichten bemäße sich danach an ihrer Sinnhaftigkeit, an einer plausiblen Erklärung. Wie Sie sich erinnern, weist Azwei dieses ‚Ansinnen‘ ab: eine Bedeutung ist erst noch zu finden. Sie kann darum auch nicht vorgängig herangezogen werden, um die Wahrheit der Begebenheiten zu beurteilen. Vielleicht verweist das Wort „wahr“ hier aber auf etwas, was ich die implizite Wahrheit der Begebenheiten nennen würde. Wahr wären sie dann, wenn die Beobachtungen, die ihren Gegenstand bilden, wahr wären. Die Frage, ob eine Beobachtung wahr ist oder nicht, ist aber ein statistisches Problem. Aus Timerdings Die Analyse des Zufalls (1915) notiert Musil Anfang der Zwanziger Jahre: „Beobachtungen: Existenz eines wahren Werts wird vorausgesetzt, dem die beobachteten Werte mehr od. weniger nahe kommen. […] Wert dem sich arithmet. Mittel bei Häufung der Beobachtungen nähert, ist der wahre Wert“ (Musil, 1981a, S. 463).

Wahr wären die drei Beobachtungen Azweis demnach, wenn sie einen „wahren Wert“ bilden würden. Dies setzt erstens voraus, daß die Beobachtungen überhaupt Fälle ein und desselben Vorgangs sind, und es setzt zweitens voraus, daß die Werte, welche die Beobachtungen erbracht haben, eine „stationäre Reihe“ bilden, das heißt „fortwährend zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen bleiben“ (Timerding, 1915, S. 27).

Ich gebe zu, daß mein Argument nun etwas dünn wird, aber es scheint mir, daß sich die Wahrheit der Begebenheiten im Erzählen Azweis nach dem Modus einer stationären Reihe ergibt. Wenigstens werden die Beobachtungen keineswegs von Fall zu Fall qualitativ besser oder klarer. So endet der Bericht des zweiten Vorfalls zwar mit dem Wunsch, „etwas von dieser Art noch einmal deutlicher [zu] erleben“, anschließend stellt Azwei jedoch fest: „Ich habe es übrigens noch einmal erlebt, aber nicht deutlicher“ (Musil, 1981d [1928], S. 557). Diese Unsicherheit hindert ihn aber nicht an der Wiedergabe der dritten Begebenheit, im Gegenteil: „man konnte ihm anmerken, daß er gerade deshalb darauf brannte, sich diese Geschichte erzählen zu hören“ (ebd.). Und das mit gutem Grund: denn mit jeder Begebenheit, die einer Reihe von Ereignissen einverleibt wird, schärft sich – oder dementiert sich – ihr stationärer Charakter.

Den wahren Wert der erzählten Reihe von Begebenheiten kennen Sie schon: „es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können.“ Scheinbar hat die Aktion ‚Erzählen‘ also keinen Sinn generieren können. Tatsächlich ist Azwei am Ende seines Berichts jedoch durchaus schlauer als zuvor. Immerhin hat die Reihung von Buchstaben, Wörtern, Begebenheiten in einer Geschichte an die Schwelle zwischen unstrukturiertem Geräusch und Struktur eines Sinns geführt. Ich sage Schwelle, denn Flüstern und Rauschen sind nichts absolut Verschiedenes, sie sind verschiedene Zustände eines Materials. All denen, die mit Aeins nach dem „gemeinsamen Sinn“ des Ganzen fragen, wird man allerdings zugestehen müssen, daß dieses Rätsel aus dem Aussagebereich des Resultats hinausfällt. „Es hat sich eben alles so ereignet“ und darüber läßt sich nicht mehr sagen, als daß die Geschehnisse eine stationäre Verteilung zeigen. Deshalb kann Azwei sie als eine Geschichte erzählen, und das ist alles. Zu welchem Nutzen und mit welchem Selbstverständnis wird dann aber noch erzählt? Meint man es ernst damit, daß in „Die Amsel“ eine Poetik ‚in progress‘ exerziert wird, dann besteht die Funktion des Erzählens darin, in den Bestand von letztlich statistisch definierten Ereignissen, die den Menschen umfangen, Regelmäßigkeiten einzutragen. Entscheidend ist hierbei, daß Bedeutungskonstitution, hervorgebracht durch die Reihung der Worte zu einer Erzählung, nicht als Ausbreitung eines gegebenen Sinns verstanden wird, sondern als Akt der Begrenzung, als Inskription, als Einfassung.


V

Musils „Amsel“, erschienen 1928, bildet im Rückblick eine Art Scharnier zwischen den Schriften vor der Veröffentlichung der ersten Bände des Mann ohne Eigenschaften (1930-32) und der Arbeit danach, die fast ausschließlich der nicht zum Ende gekommenen Fortschreibung des Romans gilt. Ich sage: im Rückblick, weil es unverkennbar eine teleologische Verkürzung enthält, wenn man die Unabgeschlossenheit des Mann ohne Eigenschaften als notwendige Konsequenz der in der „Amsel“ vorgeführten experimentalen Poetik begreift. Der überlieferte Zustand des Romans repräsentiert, nüchten betrachtet, nicht mehr als die Tatsache, daß Musil eines Apriltages im Jahr 1942 während seiner gymnastischen Übungen verstorben ist. Gleichwohl lenken die ewigen Retardationen des Abschlusses über mehr als ein Jahrzehnt den Blick auf eine zentrale Problematik nicht nur von Musils Basteleien.

Schreiben als Schreiben in einen offenen Horizont und Erschreiben einer Schließung des Geschriebenen sieht sich anders als ein Schreiben in einem geschlossenen Spiel, das sich seiner Referenz von vornherein gewiß zu sein scheint, vor die Frage gestellt, wann es zu seinem Ziel gelangt ist, wann aus Schriften ein Buch, Literatur geworden ist. Anders gesagt: ein solches Schreiben kann jede Bedeutung, die es procediert, nur als vorübergehende, schon im nächsten Schritt des Zusammenstellens sich eventuell verlierende, auffassen. In der „Amsel“ ist dieses Problem dadurch präsent gehalten, daß die äußere Novelle sich nicht schließt: das anonyme ‚wir‘ leitet zwar das Experiment der Binnenovelle ein, benennt auch noch einige seiner Rahmenbedingungen, es findet aber kein Resümee, keine Auswertung statt. Der Fortgang des Experiments scheint darin annonciert. Darf man der philologischen Forschung glauben, so erwog Musil zuletzt im Fall des Mann ohne Eigenschaften einen etwas anderen Schritt: die Erzählung sollte einfach abbrechen und mit einem Epilog der Hauptfigur Ulrich schließen, der das bis dahin Veröffentlichte kommentiert (vgl. Frisé, 1987).

Diese Problematik bringt eine experimentale Poetik am allernächsten in Berührung mit der Praxis naturwissenschaftlichen Experimentierens. So wie eine Erzählung, ein Buch erst ist, wenn das Schreiben ein Ende hat, so ist auch das dargestellte Objekt, die neue Tatsache, der aufgetretene Effekt erst, wenn das Experimentieren ein Ende hat. How Experiments end, so lautet der Titel eines mittlerweile mehr als zehn Jahre alten Buches von Peter Galison (1987), das eben dieses ‚mit-einem-Experiment-zu-Ende-kommen‘ als vielleicht schwierigste Operation in einem Forschungsunternehmen auseinandergesetzt hat. Galison bewegen vornehmlich die Strategien, die einen Experimentator davon überzeugen, daß ein Unternehmen nun an sein Ende gelangt ist, daß ein Effekt, ein Objekt, eine Tatsache der Natur feststeht; ich könnte auch sagen eine Abhandlung, Literatur ist. Was ihn nicht interessiert, ist die Behauptung von Wissenschaftsphilosophen, daß Experimente dies überhaupt nie leisten können und somit gewissermaßen unabschließlich sind.

In der Tat ist das eher ein akademisches Argument, das in der Praxis der Wissenschaften zumindest ignoriert wird. Gleichwohl steckt in dem Titel von Galisons Buch neben der Frage: Wie enden Experimente?, auch die Frage: Wie ist es überhaupt möglich, ein Experiment zu beenden? Diese Frage stellt sich schärfer, wenn man nicht, wie Galison, Experimentieren im wesentlichen als punktuelles Messen bestimmt, sondern als ein Zusammenstellen, Ingangbringen und Intervenieren begreift, in dem Zeit selbst mitspielt. Nicht die wenigsten Entdeckungen – z. B. Galvanismus, Fotografie, Roentgenstrahlen, Radioaktivität, Penicillin – sind dadurch aufgetreten, daß eine unvorhersehbare Zusammenstellung geschah, ein Experiment überreif werden konnte. Immer da, wo Experimentieren Prozessieren bedeutet, muß wenigstens mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß in einer anderen Zusammenstellung oder mit dem Weiterlaufenlassen eines Experiments sich alles ganz anders herausstellt. Daß dies dennoch nicht zu einer ungeheuren Unsicherheit führt, liegt schlicht daran, daß Experimente nur als vorübergehend beendet, als jederzeit wieder aufzunehmende, in der Episteme der modernen Wissenschaften definiert sind.

Mit Erzählungen verhält es sich anders, wenigstens seit Erzählungen Schriebe sind und Bücher werden. Wir sind es gewöhnt, was zwischen zwei Buchdeckeln gebunden ist, als feststehend aufzufassen, und wir schieben diese Festigkeit dem Referenten, dem Sinn, der Bedeutung als ursprünglich unter. Doch müssen wir diese Festigkeit – ich sage dies mit Elisabeth Eisenstein – als Ausdruck der Persistenz verstehen, die der Druck dem Geschriebenen verleiht (vgl. Eisenstein, 1997, S. 72). Mündlichkeit kennt diese Persistenz nicht – was ein Hinweis darauf ist, welche strategische Bedeutung die Mündlichkeit der Verhandlungen in der „Amsel“ hat. In bestimmter Weise kann man sogar sagen, daß die Bewegung, die Derrida unter der Formel vom Ende des Buches und dem Anfang der Schrift gefaßt hat, vielleicht einen Tod „des gesprochenen Wortes (eines angeblich erfüllten gesprochenen Wortes)“ ankündigt (vgl. Derrida, 1983, S. 20), historisch sich aber in einem experimentalen Aufriß des gesprochenen Wortes als eines mit Sinn noch zu erfüllenden vorstellig gemacht hat.

Daß das geschriebene Wort mehr als die Verdopplung des gesprochenen Wortes umfassen kann, setzt meines Erachtens voraus, daß das gesprochene Wort selbst als etwas anderes als eine bloße Verdopplung einer außer ihm liegenden Bedeutung gegenständlich wird. Dieser Vorgang, so scheint es, nimmt seinen Ausgang nicht zum wenigsten in jenen Laboratorien des Psychischen, die ihren Probanden die Materialitäten der Sprache, Phoneme, Graphie und die Techniken ihrer Aneigung, Hören, Lesen zersetzt und zur Beobachtung bringt. Wo Bedeutung und Phonem, Phonem und Buchstabe, Buchstabe und Bedeutung nicht mehr nahtlos in eins fallen, wo das Überspringen des Signifikanten auf dem Weg zum Sinn verunmöglicht wird, da kann Sprechen und Zuhören, Aufschreiben und Lesen nicht mehr selbstverständlich als Entäußerung und Wiederfinden einer gegebenen Bedeutung funktionieren. Es ist darum sicher nicht übertrieben zu sagen, daß die epistemische Praxis der experimentellen Psychologie den Dichter Musil erst hervorgebracht hat; den „Dichter am Apparat“, wie er einmal selbst formuliert hat.

 

* Colloquium vom 28. 1. 1999

Anmerkungen

[1] Zur materialen Geschichte der Wundtschen Anordnungen vgl. Schmidgen, 1999-im Druck.
[2] Zur Beschreibung des Instruments siehe Schumann, 1904, S. 34.

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