Zu: Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster: Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt/M.: Fischer 1995 (Original 1993). 283 Seiten.
(aus: Handlung, Kultur, Interpretation 10, 1997, 127-137)
Jeder von uns weiß, daß Marx es mit Gespenstern hatte, daß er sich über die Angst vor dem Gespenst lustig gemacht hat, die Angst der Kapitalisten vor dem Gespenst des Kommunismus. Wie konnte Derrida das „vergessen“ haben, wie kann er uns zumuten, das zu glauben, wie er es in seinem neuesten Buch über Marx‘ Gespenster tut.
Aber andererseits: haben wie es denn nicht vergessen, haben wir diesen Umgang mit den Gespenstern denn so ernst genommen, wie Derrida es tut und wie er zeigt, daß wir es hätten tun sollen: wir haben die Gespensteraustreibung in der „Deutschen Ideologie“ eher ungeduldig überschlagen und wir haben den Gespenstertanz der Ware im „Kapital“ als bloßes Lächerlichmachen der bürgerlichen Ökonomen eher mißverstanden. Nie ist uns auch nur der Verdacht gekommen, Marx sei vielleicht zu weit gegangen in der Austreibung der Gespenster und schon gar nicht, daß man das ganze totalitäre Erbe des Marxschen Denkens als eine Panikreaktion vor dem Gespenst erklären könnte (57), als Folge einer – verängstigten – Feindseligkeit gegenüber den Geistern, die Marx mit seinen Gegnern gemeinsam gehabt haben wird (81): „als wenn sie vor jemandem in sich Angst gehabt hätten“ (S. 169).
Diese Exposition einer Wiederaufnahme der Auseinandersetzung mit Marx im letzten Buch von Jacques Derrida, einem der bekanntesten Philosophen unserer Zeit, ist aufregend. Natürlich ist es bereits eine Provokation, Marx überhaupt wieder in die postmoderne Diskussion einzuführen, eine Diskussion, die durch die Überzeugung gekennzeichnet ist, Marx sei überholt oder gar überwunden. Es läßt aufhorchen, daß Derrida diese Haltung als „das Dogma vom Ende des Marxismus und der marxistischen Gesellschaften“ bezeichnet und von diesem sagt, es sei „heute tendenziell ein ´herrschender Diskurs`“ (S. 93).
Dieser „herrschsüchtige Diskurs“ nehme oft die „manische, jubilatorsiche und beschwörende […] Form an, die Freud der sogenannten Phase des Triumphs in der Trauerarbeit zuschrieb“. Sie trachte zu verleugnen, daß „noch niemals, nie und nimmer zuvor in der Geschichte, der Horizont über den Modellen, deren Überleben man feiert (das heißt über all den alten Modellen der kapitalistischen und liberalen Welt), so dunkel, so bedrohlich und so bedroht war“ (S. 89).
Derrida zählt ihre „Wunden“ rücksichtslos auf:
„1. Die Arbeitslosigkeit, die „neue Armut“: „die Funktion von sozialer Inaktivität, Nicht-Arbeit oder Unterbeschäftigung tritt in ein neues Zeitalter ein“ (S. 133). Diese reguläre Störung eines neuen Marktes, neuer Technologien, einer neuen weltweiten Wettbewerbsfähigkeit wird größtenteils verleugnet – „ein Leiden, das um so mehr und um so unzugänglicher leidet, als es seine gewohnte Sprache und seine gewohnten Modelle verloren hat“ (S. 133).
„2. Der massive Ausschluß obdachloser Bürger von jeder Teilnahme am demokratischen Leben der Staaten, die Ausweisung oder Abschiebung so vieler Exilanten, Staatenlosen und Immigranten […] kündigt bereits eine neue Erfahrung von Grenzen und – nationaler oder bürgerlicher – Identität an“ (S. 133).
„3. Der gnadenlose Wirtschaftskrieg […] beherrscht alles“ (S. 133).
„4. Die Unfähigkeit, die Widersprüche im Begriff, in den Normen und in der Realität des liberalen Marktes zu meistern“ (S. 133).
„5. Die Vergrößerung der Auslandsschulden“ treibt „einen großen Teil der Menschheit in Hunger und Verzweiflung“ (S. 134) und bedingt zahlreiche geopolitische Fluktuationen.
„6. Rüstungsindustrie und Waffenhandel […] sind in die normale Steuerung der wisenschaftlichen Forschung, der Wirtschaft und der Kollektivierung der Arbeit in den abendländischen Demokratien eingeschreiben. Ohne eine unvorstellbare Revolution kann man sie nicht suspendieren“ (S. 134).
„7. Die Ausweitung […] der atomaren Bewaffnung […] überbordet nicht nur die Grenzen staatlicher Kontrolle, sondern die Grenzen jedes regulären Marktes“ (S. 134).
„8. Die interethnischen Kriege […], geleitet von einem archaischen Phantasma und einem archaischen Begriff […] der Gemeinschaft, des Nationalstaats, der Souveränität, der Grenzen, des Bodens und des Bluts“ (S. 134).
9. Kapitalistische „Phantom-Staaten“ der Mafia und des Drogenkonsortiums überwuchern nicht nur das sozioökonomische Gewebe, die allgemeine Zirkulation des Kapitals, sondern auch die staatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen (S. 135f).
1o. Der Zustand des internationalen Rechts; die Inkohärenz, die Diskontinuität, die Ungleicheit der Staaten vor dem Gesetz; „die Hegemonie bestimmter Staaten über die militärische Macht im Dienst des internationalen Rechts“ (S. 136f).
Der Kommunismus sei immer gespenstisch gewesen. Aber damit meint Derrida zugleich: Sein Kommen steht immer aus. Ihn zu verleugnen hieße, das Unleugbare selbst zu verleugnen (S. 16o).
Die neue Weltordnung heute, die Derrida als „eine neue, weltweite Unordnung“ charakterisiert, die ihren Neo-Kapitalismus zu installieren versucht (S. 67), habe Ähnlichkeit mit jener großen „Verschwörung“ gegen das Gespenst des Kommunismus (S. 86), in deren Verlauf allein sich der Totalitarismus konstituieren konnte (S. 57), einer Verschwörung gegen den Marxismus, gegen das, was er weiterhin repräsentiert (S. 86). Sie organisiere und beherrsche überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum (S. 89). Die Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur, und der akademischen Kultur zielen alle auf den Punkt der größten Kraft hin, um die Hegemonie und den Imperialismus zu sichern. Sie werden durch diesselben Apparate verschmolzen, dank der Vermittlung der Medien. Die Hegemonie vollzieht sich über die techno-mediale Macht; eine Macht, die jede Demokratie zugleich bedingt und gefährdet (S. 92). Die Hegemonie organisiert immer die Unterdückung, aber damit zugleich die Bestätigung einer Heimsuchung (S. 67). Es gelingt keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen (S. 67). „Noch nie in der Geschichte […] haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen“ (S. 137).
Gegenüber der Verneinung, die nicht gelingt, bleibt nur, das Erbe anzunehmen: dies ist die andere Bedeutung von Verschwörung und Beschwörung. Eine Verschwörung, die darin besteht, die Verantwortung zu übernehmen (S. 87). Unsere Verantwortung sei es, das Erbe des Marxismus zu übernehmen (S. 92).
Alle Menschen seien heute in gewissem Maß die Erben von Marx und des Marxismus, Erben der absoluten Einzigartigkeit eines Projektes – oder Versprechens – von philosophischer oder wissenschaftlicher Form (S. 145) unter Vorschlag eines neuen Begriffs vom Menschen, von der Gesellschaft, von der Wirtschaft, der Nation, und mehrerer Begriffe vom Staat und von seinem Verschwinden (S. 148). Das „Jahrhundert des Marxismus“ werde das Jahrhundert einer wissenschaftlich-technischen und effektiven Dezentrierung der Erde gewesen sein, auch des Anthropos in seiner onto-theologischen Identität, des ego cogito und des Begriffs des Narzißmus selbst (S. 158). Diese marxistische „Kränkung“ sei vielleicht die tiefste Verletzung, tiefer noch als die „Freudsche“. Ihr Trauma höre nicht auf, verleugnet zu werden (S. 159). Marx sei noch nicht aufgenommen worden: der Unheimliche. Er gehöre einer Zeit der Disjunktion an, einer „time out of joint“ (S. 274). Es handelt sich um eine Zeit ohne gesicherte und ohne bestimmbare Konjunktion (S. 38), in der sich mühevoll, schmerzvoll und tragisch ein neues Denken der Grenzen anbahnt, eine neue Erfahrung der Häuslichkeit und der Ökonomie (S. 274).
Dieses Projekt des Marxismus stelle die Forderung, uns in die Zukunft zu begeben, ohne Begriff und ohne Versicherung einer Bestimmung, ohne Wissen, ohne die synthetische Zusammenfügung der Konjunktion oder der Disjunktion oder vor dieser (S. 55). Die Heterogenität (disjonction) der Sprachen von Marx sei kein Fehler, sie öffne im Gegenteil, lasse sich öffnen, vom Einbruch dessen, was hereinbricht, oder noch aussteht – einzig vom anderen her (S. 61). Heterogenität als die einzige Chance einer reaffimierten Zukunft (S. 66). „Es wird immer ein Fehler sein, Marx nicht zu lesen (S. 32). Wir haben „keine Entschuldigung mehr, […] uns von dieser Verantwortung abzuwenden. Ohne das wird es keine Zukunft geben. […] Keine Zukunft ohne Marx“ (S. 32).
Diese Verantwortung wird von Derrida als ethische eingeführt, als Frage nach dem richtigen (gerechten) Leben. Lernen zu leben, „von sich selbst […], sich selbst lehren, zu leben […] – ist das […] nicht eine Unmöglichkeit?. […] Trotzdem ist nichts notwendiger als diese Weisheit. Es ist die Ethik selbst“ (S. 1o). Es würde heißen, anders zu leben und besser, nein: gerechter. „Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, wird […] der ´Intellektuelle` von Morgen […] lernen müssen, zu leben, […] indem er lernt, […] sich mit […] dem Gespenst […] zu unterhalten, ihm das Wort zu lassen […], und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich“ (S. 276). „Es gibt kein Mitsein mit dem anderen […] ohne dieses Mit-da, das uns das Mitsein im allgemeinen rätselhafter macht denn je“ (S. 11). „Was zwischen zweien passiert […], das kann sich nur dazwischen halten und nähren dank eines Spuks“ (S. 1o).
Die psychologischen Implikationen des Spuks, des Gespensts springen in die Augen. Derrida erinnert daran, daß das Idiom dieses „Es spukt“ in allen Texten, wie in „Das Unheimliche“ von Freud, eine einizgartige Rolle spielt. Überall, wo es Ich oder Mich gibt, spukt es, „sucht es heim“. „Ich bin“ würde also heißen „Ich bin heimgesucht“: von mir selbst. „Ich = Gespenst“. Dieses Ich, das lebendige Individuum, „würde durch die Gespenster gebildet, deren Gastgeber es von da an ist“ (S. 2o9). Das Gespenst: das ist der Geist – ein Begriff, der ja im Deutschen genau die Doppelbedeutung besitzt, mit der der Text von Derrida spielt. Der Geist von Hamlets Vater, der ihn heimsucht. Derrida reinszeniert – mit Shakespeares Hilfe – seine Wiederkehr. Marx hatte das bereits getan. Der Geist des Vaters, er kommt nicht zur Ruhe, er beunruhigt uns, er fordert uns heraus, uns ihm zu stellen, er arbeitet – in uns. Der Geist des Vaters, oder der Mutter, das ist – auch – das, „was man sich einbildet […] und was man projiziert“ (S. 162): „die flüchtige und ungreifbare Sichtbarkeit des Unsichtbaren oder die Unsichtbarkeit eines sichtbaren X, jene unsinnliche Sinnlichkeit, von der `Das Kapital` in Bezug auf einen gewissen Tauschwert spricht[…], die berührbare Unberührbarkeit von jemandem als jemand anderem. […] Dieser gespenstische jemand anders sieht uns an und wir fühlen uns von ihm angesehen, […] gemäß einem absolut unbeherrschbaren Mißverhältnis“ (S. 23). „Die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden“: Das ist „das höchste Insignium der Macht“ (S. 25). Wir sind ihrer Stimme ausgeliefert (S. 24), der des Unheimlichen, des Unerwarteten, Unerklärbaren. Es macht Angst. Dagegen wird ein erbarmungsloser Kampf (der Verleugnung) geführt. Dieser ist aussichtslos: das Gespenst ist nicht zu vertreiben, es kehrt wieder.
„Lernen, mit den Gespenstern zu leben“ (S. 1of.), den Gespenstern das Wort zu lassen, das könnten wir noch von Marx, der es auch verstanden hatte, die Gespenster in Freiheit zu lassen, zu emanzipieren (S. 274f). Der Marxismus sei immer noch notwendig, aber nur unter der Voraussetzung, daß man ihn anpaßt an neue Bedingungen und an ein anderes Denken der Ideologie (S. 1oo). Dieser Notwendigkeit war sich Marx durchaus bewußt. „Wer hätte jemals zur künftigen Transformation seiner eigenen Thesen aufgerufen? […] um darin der Unvorhersehbarkeit neuer Kenntnisse, neuer Techniken, neuer politischer Gegebenheiten […] Rechnung zu tragen? Kein anderer Text der Tradition erscheint so hellsichtig im Bezug auf die stattfindende weltweite Ausdehnung des Politischen und den irreduziblen Anteil des Technischen und Medialen am Fortgang noch des tiefschürfendsten Denkens“ (S. 31).
Das Erbe des Marxismus übernehmen bedeute, „dem treu bleiben, was aus dem Marxismus […] immer zuerst eine radikale Kritik gemacht hat“. Damit meint Derrida ein Vorgehen, „das bereit ist, sich selbst zu kritisieren“ (S. 143). Ohne eine radikale und unabschließbare (theoretisch und praktisch) Kritik sei das dekonstruktive Denken nicht denkbar. Diese Kritik rechnet Derrida der „Bewegung einer Erfahrung“ zu, die offen ist „für die absolute Zukunft dessen, was kommen wird, […] dh einer notwendig unbestimmten, […] ausgelieferten, exponierten Erfahrung, […] die ausgesetzt bleibt […] ihrer Erwartung des anderen und des Ereignisses“ (S. 146), einer „nicht antizipierbaren Andersheit“; „Erwartung ohne Erwartungshorizont, Erwartung dessen, was man noch nicht oder nicht mehr erwartet, vorbehaltlose Gastfreundschaft, […] die der absoluten Überraschung des Eintreffenden im vorhinein gewährt werden, ohne das Verlangen einer Gegenleistung oder eine Verpflichtung […], gerechte Öffnung, die auf jedes Besitzrecht verzichtet, […] Öffnung für das, was kommt, […] was man nicht als solches erwarten und also auch nicht im voraus erkennen kann“, welche Derrida „messianische“ nennt, Öffnung „für das Ereignis als das Fremde selbst, für jemanden, […] für den man im Eingedenken der Erwartung immer einen Platz freihalten muß“ – und das sei „der Ort der Spektralität oder der Gespenstigkeit selbst“. Es sei „leicht zu zeigen, daß eine solche vorbehaltlose Gastfreundschaft das Unmögliche selbst ist und dennoch die Bedingung der Ereignisse und also der Geschichte bleibt“ (S. 110)
Der Geist des Marxismus: dazu rechnet Derrida nicht nur die kritische Idee oder die fragende Haltung, sondern zugleich „eine gewisse emanzipatorische und messianische Affirmation“ (S. 145), eines „Messianismus ohne Religion“, einer Idee der Demokratie – „die wir von ihrem aktuellen Begriff und ihren Prädikaten, wie sie heute bestimmt werden, unterscheiden“: Demokratie als Begriff einer Verheißung – und einer Idee der Gerechtigkeit – „die wir immer noch vom Recht […] unterscheiden“ (S. 1o1). Ohne dieses Messianische laufe die Gerechtigkeit Gefahr, „sich erneut auf Regeln, Normen […] zu beschränken, in einem unvermeidlich totalisierenden Horizont“ (S. 54). Die Gerechtigkeit als Bezug zum anderen setze „den irreduziblen Exzeß eines Bruchs“ voraus, „out of joint“, der, „gerade indem er immer das Übel, […] die Ungerechtigkeit […] riskiert, gegen die es keine kalkulierbare Versicherung gibt, allein dem anderen als dem anderen Gerechtigkeit erweisen oder widerfahren lassen könnte […], Möglichkeit der Gerechtigkeit“, das, „was sich der Singularität des anderen ausliefern muß“ (S. 53). „Der notwendige Bruch […], die de-totalisierende Bedingung der Gerechtigkeit, […] ist hier die Bedingung der Gegenwart […] und […] der Präsenz des Gegenwärtigen […]. Sonst ruht sie sich auf dem guten Gewissen erfüllter Pflichten aus, sie verliert die Chance der Zukunft, des Versprechens […], des Begehrens […], jenes Messianismus der Wüste […], in der Erwartung […] der Ankunft des anderen […] als Gerechtigkeit“ (S. 54).
Derrida reiht sich also nicht ein in den Chor derer, die das Ende der Geschichte verkünden, sondern es geht ihm darum, eine andere Geschichtlichkeit zu denken, eine andere Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit, die es erlaubte, den Zugang zu eröffnen zu einem affirmativen Denken des messianischen Versprechens. „Dieses Versprechen ist emanzipatorisch“. Wir müssen am emanzipatorischen Begehren festhalten. Das sei „Bedingung der Re-politisierung“ (S. 124).
Und „ein Versprechen muß versprechen, daß es gehalten wird“. Das heißt, „es muß versprechen, nicht ´spirituell` oder ´abstrakt` zu bleiben, sondern Ereignisse zu zeitigen, neue Formen des Handelns, der Praxis, der Organisation usw.“ (S. 145). Derrida beschwört diese unter dem Namen einer „neuen Internationale“. Sie beziehe sich auf eine tiefgreifende, auf lange Dauer berechnete Veränderung des internationalen Rechts. Die „neue Internationale“: sei „nicht nur das, was durch diese Verbrechen hindurch nach einem neuen internationalen Recht sucht;“ sie sei „ein Band der Verwandtschaft, des Leidens und der Hoffnung, ein […] fast geheimes Band […] wie um 1848. Ein unzeitgemäßes Band ohne Status, ohne Titel und ohne Namen, kaum öffentlich, auch wenn es nicht verborgen ist“ (S. 139). Sie sei eine Allianz jener, die sich „weiterhin von wenigstens einem der Geister Marx‘ oder des Marxismus inspirieren lassen […], und zwar um sich konkret, real, in einer neuen Welt zu verbünden, auch wenn diese Allianz nicht mehr die Gestalt der Partei oder der Arbeiterinternationale annimmt, sondern die einer Art Gegen-Verschwörung in der (theoretischen und praktischen) Kritik des internationalen Rechts, der Begriffe von Staat und Nation usw.: um diese Kritik zu erneuern und um sie vor allem zu radikalisieren“ (S. 14o).
Bei der Frage des Erbes des Marxismus gehe es zugleich auch um Auswahl, und die Anpassung an veränderte Bedingungen. „Ein Ensemble von Transformationen aller Art (insbesondere technisch-wissenschaftlich-ökonomisch-mediale Mutationen) überschreiten sowohl die traditionellen Gegebenheiten des marxistischen Diskurses als auch die des liberalen Diskurses, der sich ihm entgegensetzt“ (S. 118). Sie zwingen uns, „die Virtualisierung des Raums und der Zeit zu denken, die Möglichkeit virtueller Ereignisse, deren Bewegung und Geschwindigkeit uns von jetzt an verbieten […], die Präsenz ihrer Repräsentation gegenüberzustellen, […] die Wirklichkeit ihrem Simulakrum, das Lebende dem Nichtlebenden, […] dem Lebendig-Toten seiner Gespenster“ (S. 266).
Die Analyse marxistischen Typs erscheine da „radikal unzureichend“ (S. 1oo), wo sie „im Namen der lebendigen Präsenz als materieller Wirklichkeit“ (S. 168) ebenfalls gegen das Gespenst kämpfe: So wenn das Manifest behauptet: die kommunistische Internationale werde „die endgültige Inkarnation, die reale Präsenz des Gespensts sein und damit das Ende des Gespenstischen“ (S. 165f.). Das heißt für Derrida, daß Marx, der sich lustig machte über die Angst vor dem Gespenst des Kommunismus, der die Gespenster denunzierte, verjagte durch kritische Analyse (S. 81), nicht aufhört, „seine Kritik […] des gespenstigen Simulakrums auf eine Ontologie gründen zu wollen“ (S. 267). Diese „kritische Ontologie“ vermöge zwar „die Möglichkeit zu entfalten, das Gespenst als das ein Subjekt repräsentierendes Bewußtsein aufzulösen, […] es zu beschwören“, und sie vermöge „diese Repräsentation auf ihre Bedingungen in der materiellen Welt der Arbeit, der Produktion und des Tauschs zurückzuführen“ (S. 268). Aber sie versuche zugleich, das gespenstische Moment vollkommen zu negieren, zu vertreiben. Derrida zeigt dies am Beispiel der Darstellung des mystischen Charakters der Ware im „Kapital“. Zu sagen, daß dieser „nichts mit dem Gebrauchswert zu tun“ habe (S. 235), daß „dasselbe Ding […] als Ware auftritt, nachdem es in seinem Gebrauchswert nichts als ein gewöhnliches Ding gewesen ist“, heiße, „dem gespenstigen Moment einen Ursprung zu geben“ (S. 251). Alles nehme seinen Anfang vor dem Anfang. Marx wollte wissen, „wo, in welchem Augenblick […] das Gespenst die Bühne betritt“, und das sei „eine Art Exorzismus, eine Art, es auf Abstand zu halten“ (S. 253f.).
Die „Grenzen der Phantasmagorisierung“ lassen sich nicht mehr durch „die einfache Entgegensetzung von Anwesenheit und Abwesenheit, Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Sinnlichem und Übersinnlichem kontrollieren oder bestätigen“. Es sei eine „andere Annäherung an diese Differenzen“ notwendig (S. 256), eine andere Logik, andere Begriffe: „die Logik des Gespensts“ (S. 107). Man müsse „den Spuk schon in die Konstruktion eines Begriffs aufnehmen“ (S. 253). Diese „Logik des Gespensts“ überschreite die „binäre Logik“, „jene Logik, die Wirklichkeit […] und Idealität […] einander gegenüberstellt“ (S. 1o7), die vertraut auf die einfache „Opposition zwischen Wirklichem und Nichtwirklichem“, und das heißt auch: die „auf eine allgemeine Zeitlichkeit […] vertraut, die aus einer sukzessiven Verkettung mit sich selbst identischer und mit sich selbst gleichzeitiger Gegenwarten besteht“ (S. 117). „Das dekonstruktive Denken der Spur, der Iterabilität, der künstlichen Systhese, der Supplementarität usw.“ führe – so Derrida – „über diese Oppsition hinaus und über die Ontologie, die sie voraussetzt“. Es schreibe „die Möglichkeit des Zurückverwiesenseins auf den anderen oder das andere ein, also die Möglichkeit der radikalen Alterität und Heterogenität, der Differänz, der Technizität und der Idealität im Ereignis der Präsenz selbst“ (S. 125).
Marx, für den das Gespenst nichts sein durfte, habe zu viele Gespenster vertrieben (S. 81) durch die ontologische Antwort – „eine kritische, aber prä-dekonstruktive – Ontologie der Präsenz als tatsächlicher Wirklichkeit und Gegenständlichkeit“ (S. 267f.). Diese sei zwar nicht falsch, überflüssig; charakterisiere aber „ein relativ verfestigtes Wissen“, das nach Fragen verlange, die „radikaler sind als die Kritik selbst und als die Ontologie, in der die Kritik gründet“. Diese Fragen seien „destabilisierend, […] praktische Ereignisse“. Diese Ereignisse kommen aus der Zukunft. „Einer aus den Fugen geratenen […] Zeit, ohne die es weder Ereignis noch Geschichte, noch das Versprechen der Gerechtigkeit gäbe“ (S. 268).
Eine ethische Begründung für die Forderung, das Erbe des Marxismus anzutreten: ist das nicht eine verrückte Idee? Jedenfalls soweit nicht, als dieser ethische Bezugsrahmen uns die Wahl offen läßt, und dh auch, uns eine Auswahl zu treffen abverlangt unter den Geistern des Marxismus, die wir nicht vertreiben, sondern zur Erscheinung kommen lassen sollen: die kritischen und emanzipatorischen, gesellschaftskritischen und revolutionären Geister des Marxismus.
Der ethische Horizont ist nicht neu für Derrida. Der Theoretiker der Schrift und der Lektüre von Texten als Kunstwerken hat sich immer schon in einem ethischen Diskurs befunden. Aber zugleich wird seit einiger Zeit ein ethischer Diskurs innerhalb der kritischen Intelligenz geführt, vor allem unter dem Namen „Kommunitarismus“. Ein Vergleich mit dieser inzwischen sehr einflußreichen, oder sagen wir besser medial gehätschelten Position würde sich lohnen. Ich muß mich hier auf einige Randglossen beschränken.
Die Grundidee des Kommunitarismus ist eine gegen die Neoliberale Welle, an deren Adresse sozusagen, gerichtete alte (Marx’sche) Einsicht, daß der Kapitalismus ein nichtkapitalistisches Umfeld zu seiner – nicht nur Entfaltung, sondern – Aufrechterhaltung braucht. Der Kapitalismus in Reinform wäre sein Ende, er kann aus sich heraus seine eigenen Existenzbedingungen nicht erschaffen. Diese Einsicht wird aber vom Kommunitarismus nicht als Argument gegen den Kapitalismus gebraucht, im radikalen Sinn gegen diesen gerichtet, sondern in subsidiärer Form, als Forderung, jene Ressourcen zu erhalten, oder besser: zurückzugewinnen, die der Kapitalismus gerade zerstört. Die Haltung der Krankenschwester am Krankenbett des Kapitalismus.
Marx‘ Manifest entwirft bereits das Szenario dieser Zerstörung. Die Kommunitaristen wählen daraus lediglich die soziale Dimension der Beziehungen (vor allem Familie, Nachbarschaften, usw.) und die ethischen Werte. Sie seien wieder zu reinstallieren. Unter dem Druck der beschriebenen Dynamik der Zerstörung ein anrührendes Unterfangen, oder besser: ein frommer Wunsch. Aber es zündet – vielleicht – weil auf die (marxistische, ökonomische) Analyse der Bedingungen der Zerstörung verzichtet wird und nur die Idee hervorgekehrt wird, das Kapital sei auf diese von ihm selbst zerstörten Voraussetzungen seiner Existenz angewiesen. Die fatale Schlußfolgerung der Kommunitaristen, es sei ein „neuer“ Konsens für die Gemeinschaft herzustellen, übersieht aber, daß es diesen Konsens bereits gibt: wenn auch nicht auf der Ebene des Sozialen, sondern der Ökonomie und Politik, den Konsens über die Richtigkeit des (neo)liberalen Modells; die Zerstörung ist die Folge eines grundlegenden Konsens: des Konsens der Profitrate.
Was die Kommunitaristen tun, ist also – ebenfalls – nichts anderes als eine Beschwörung: eine Beschwörung der Idee der Gemeinschaft und des Konsens. Aber eine Beschwörung, durch die die tatsächlich bedrohlichen Gespenster: der Idee der Demokratie und der Gerechtigkeit und ihre Voraussetzung: die „unwahrscheinliche Revolution“ des Kapitalismus, ausgegrenzt bleiben. Die „Wunden der neuen Weltordnung“ werden nicht einmal zur Kenntnis genommen. Es wird, um im Bild zu bleiben, nur versucht, dem Poltern der Gespenster zu wehren, statt sich ihnen zuzuwenden. Darin liegt die Differenz. Für Derrida ist sie die Ethik selbst. Daß der Kapitalismus seine eigenen Voraussetzungen zerstört – keine Frage; daß dazu auch die ethische Dimension gerechnet werden muß, ist eine verblüffende Vorstellung. Die Frage ist allerdings, ob immer dieselbe Sache gemeint ist: ob der Kapitalismus dieselbe Ethik braucht, wie wir, ob wir die Ethik des Kapitalismus brauchen können, ob unsere nicht eine ganz andere sein müßte, vielleicht sogar gegen die des Kapitalismus gerichtet – wie Foucault sagen würde.
Foucault hat in seinen letzten Schriften ein Programm ethischer Reflexion entworfen, das tatsächlich einen Vergleich mit dem Derridaschen Entwurf lohnt. Es ist eine „Ethik der Subjektivierung“, die das Verhalten, Denken nicht an einem vorausgesetzten Gesetz mißt, sondern daran, ob die jeweilige Existenzweise jenen Regeln der Selbstregierung oder Selbstregulierung gehorcht, die der freien Wahl überlassen sind. Im Unterschied zu traditionellen Ethiken, die von einem wesenhaften „Ich“ ausgegangen sind und erklärten, daß dieses „Ich“ dann ein moralisches sei, wenn es sich einem allgemeinen Gesetz, einer Autorität unterwirft, ist bei Foucault das Subjekt ein historisches, sich veränderndes, das sich in jedem Augenblick neu erschafft, das ein anderes würde, indem es sich durch gänzlich neue und andere Erfahrungen ständig transformiert. Foucault hält damit an Rationalität, Reflexivität, Freiheit und Emanzipation des Subjekts in dem Sinne fest, daß sie anders und im Hinblick auf andere Ziele zu denken seien, nämlich „im Modus der Aktualität“.
Das Subjekt Foucaults ist ein sich selbst Konstituierendes und Transformierendes. Subjektivität fällt mit dem Prozeß der Subjektivierung zusammen – Subjektivierung zugleich als eine Form der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Nach dem Ende der traditionellen Formen der Kritik und des Widerstandes werde „heute der Kampf gegen die Formen der Subjektivierung, die die Individuen in Machtnetze einspannen, gegen die Unterdrückung durch Subjektivierung zunehmend wichtiger, auch wenn die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind.“ (Foucault 1982, 247) Politische Kämpfe seien heute zunehmend Kämpfe um eine neue Subjektivität, bzw. Kämpfe gegen all das, was das Individuum an es selber fesselt und dadurch anderen unterwirft. „Wir müssen neue Formen von Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.“ (25o) Für die Individuen ginge es darum, die Praktiken, durch welche sie in die Machtnetze eingebunden werden, zu durchschauen – in einem „aktiven Schweigen“ „sich von sich selbst zu lösen“ – und ihnen Praktiken der Freiheit, die die Macht unterlaufen entgegenzusetzen, dh sich anders zu subjektivieren, „eine verändernde Erprobung seiner selber“ durchzuführen, „eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken“. (Foucault 1984, 16)
Ein befreites Subjekt heute müßte den Glauben an das Subjekt des Begehrens außer Kraft setzen. Das wäre eine neue Form der Subjektivierung (Ästhetik der Existenz). Das Mittel dazu ist für Foucault die „Genealogie“. Sie legt die historischen Umstände offen, unter denen „der abendländische Mensch sich jahrhundertelang als Begehrenssubjekt zu erkennen hatte.“ (Foucault 1984, 12) In der heutigen Disziplinargesellschaft wird Normalisierung nicht durch direkte Machteinwirkung hergestellt, sondern durch „politische Technologie des Körpers“ (in Schule, Kaserne, Fabrik und Hospital). Die Geständnisprozedur wird zur „Geständniswissenschaft“ ausgebaut. Die „Sexualität“ ist ihr Zentrum. Das Begehren – im christlichen Diskurs negativ besetzt – erhält nun ein positives Vorzeichen. Die Heilsordnung wird therapeutisch.
Es müsse ein Selbstbezug erarbeitet werden, der die Individuen nicht versklave. Dieser sei nicht durch die Vorgabe eines bestimmten Wissens oder universell gültiger Regeln zu erreichen. Neue Subjektivierungsweisen können nur experimentell erarbeitet werden. Damit könnte „das Leben eines jeden … ein Kunstwerk werden“ (Foucault 1982, 273) Diese „Ästhetik der Existenz“ sei unter den gegenwärtigen Bedingungen des Normalisierungsdruckes unverzichtbar, entspringe einer „Diagnose der Gefahr“. Die Frage seiner Ethik als einer Ästhetik der Existenz, aus der Foucault diese Subjektkonzeption entwickelt hat, ist die nach den Praktiken, die es dem Individuum gestatten, zu einer Form des Verhältnisses zu sich selbst zu finden, in der es sich als Subjekt einer moralischen und gesellschaftlich anerkannten Lebensführung konstituiert. Sie erfordere die Arbeit am reflektierenden Subjekt. Diese sei unverzichtbares Instrument für seine Freiheitspraxis, für die Erkundung neuer Wege der Subjektivierung.
Nicht die politische Dimension unterscheidet die Ethik Foucaults von der Derridas – diese wird konstitutiv für die Ethik (in) der Postmoderne; ebenso wie die prominente Position der „ersten Person“, des Subjekts, des Selbst, der Bezug zu mir, der in beiden Konzeptionen zentral ist. „Lernen zu leben, von sich selbst, […] sich selbst lehren, zu leben“ (Derrida, S. 1o) Bei Foucault heißt dies „Selbst-Regierung“. Sie bedeutet zugleich „Ästhetisierung der Existenz“, die „Selbst-Stilisierung des Lebens als Kunstwerk“. Der Bezug zu mir, der bei Derrida als ein Bezug zum anderen gefaßt wird, realisiert sich im Gespräch mit dem anderen (in mir selbst).
Ein Selbstgespräch in Anwesenheit des anderen: das ist zugleich eine gute Charakterisierung von Therapie. Psychologie müßte sich der gespenstischen Dimension ihrer Praxis nur bewußt werden, um sie nicht in ideologischer Verblendung auszuüben. Therapie als Gespräch – mit den Gespenstern, als Dialog mit dem Unheimlichen, dem Unerwarteten. Was das Buch für Psychologen so anregend macht, ist daß dieses Gespräch nicht nur postuliert wird, sondern tatsächlich vorgeführt.