Selbstfremdheit

DIETMAR KAMPER

Selbstfremdheit *

 

Der Mensch ist Geist, aber was ist Geist? Es ist das Selbst, aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.

(Sören Kierkegaard)

Die Dialektik des Eigenen und des Fremden erscheint wie ausgelaugt. Die wechselseitig reziproken Prozesse der Aneignung und der Entfremdung funktionieren nicht mehr. Wer auf dem „Eigenen“ insistiert, vertritt immer öfter einen hohlen Anspruch. Und das „Fremde“ erweist sich mehr und mehr als projektiver Mechanismus zur Rettung der eigenen Identität. Die Annahme, man sei aufgrund der Feindschaft mit anderen gut Freund mit sich selbst, ist inzwischen ein alter Hut, der nicht mehr als Kopfbedeckung taugt. Vielmehr ist neuerdings der Verdacht einer tiefen Selbstfremdheit aufgetaucht.

Manfred Frank hat vor einigen Jahren ostentativ beruhigend von einer „ursprünglichen Vertrautheit mit sich selbst“ als der unzerstörbaren Grundlage universaler Hermeneutik geschrieben. Er wollte eine Barriere gegen die postmoderne Toterklärung des Subjekts errichten. Dazu hat er auch Kierkegaard zitiert. Wer aber diesen Schriftsteller genauer liest, findet das Gegenteil einer Unzerstörbarkeit des Selbst, nämlich eine schleichend sich steigernde, zweifelnde Selbstfremdheit, sogar verschiedene Sorten der Verzweiflung, zum Beispiel: nicht zu wissen, daß man ein Selbst ist, verzweifelt man selbst sein zu wollen, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen etc.

Gesetzt also, es ist eine Art Selbstfremdheit, welche die Menschen zeckiert, dann wird unabweislich fortschreitend die vertraute Grundlage allen herkömmlichen Verstehens im hermeneutischen Zirkel zerstört. Davon sollte man doch Zeugnis ablegen dürfen, daß das Ungeheuerliche, das Böse, das Unheimliche, das Häßliche sich vordrängt und daß die Menschen schwanken zwischen Angst und Gleichgültigkeit, zwischen der Verachtung für alles, was ist, und der Scham, ein Mensch zu sein. Eine Monstrosität nach der anderen kommt ans Licht. Und es ist die Größe der Destruktivität, die erneut Gott auf den Plan ruft (so der Atheist Günther Anders, 1987).

Daß man sich selbst fremd sei und bis zum Rotwerden unbekannt, kehrt die sattsam bekannte Dialektik des Eigenen und des Fremden nicht um, sondern stellt sie still. Der Verdacht, daß im Zentrum der homogenisierten Systeme das Heterogene als Fremdkörper hockt – und dies zumeist in maskierter Gestalt -, führt zu einer Entmutigung aller Erkenntnisverfahren, die noch aufs Ganze gehen wollen. Selbstfremdheit ist kein Effekt historischer Entfremdung, sondern die selbsterzeugte Blockade einheitswendiger Bewegungen. Es ist aus mit dem Universum, dem Universellen und den Universitäten.

Damit wird zugleich den etablierten historischen und hermeneutischen Wissenschaften, aber auch dem lebensweltlichen Verstehen in der Kommunikation, das als ein „Immer schon verstanden haben“ auftritt, das Wasser abgegraben. Die wissenschaftlichen und die sozialen Mühlen der Verständigung mahlen nicht mehr. Sie laufen leer. Giambattista Vico hat in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegen die erklärenden Naturwissenschaften exponiert, daß man nur verstehen könne, was man selbst gemacht hat. Selbstfremdheit aber heißt, daß wir – wegen der Ungeheuerlichkeit der Wirkungen – nicht kennen und nicht verstehen, was in uns beim Machen am Werk war und ist.

Es ist zwar herausgekommen, daß die „Wut des Verstehens“ (Schleiermacher) einen allumfassenden Orbit des Imaginären, eine universale „Logik des Selben“ installiert hat, in der alles Andere tendenziell zugrundegeht und bis auf elende Reste aufgelöst wird. Die grenzenlose Homogenisierung des Heterogenen hat inzwischen die ganze Erde in eine Müllhalde verwandelt. Aber wir können den Prozeß nicht unterbrechen, ohne die Selbstfremdheit als Problem zu akzeptieren. Die sogenannte Normalität, das „Selbstverständlichste“, muß als unbeschränkt parasitäres Modell der Lebensfristung, überhaupt als inkorporiertes Kapital in den Köpfen entlarvt und bloßgestellt werden. Dann beginnt erneut die Arbeit des Denkens.

Die Kombination von Fremdheit und Selbst ruiniert notwendigerweise einen hohen Wert: eben das Selbst, das als Geist ein Verhältnis ist, das sich immer nur zu sich selbst verhält und so ursprüngliche Vertrautheit als Suggestion einsetzt. In der Selbstfremdheit erscheint dagegen unter den Masken des Monströsen der Körper des Anderen. Anstelle der universalen Hermeneutik brauchen wir ein KörperDenken, das sich nicht mehr unter den Satz des ausgeschlossenen Dritten beugt, möglichst viele Gegenteile im Leben in Anspruch nimmt und derart aufrecht in der Lage ist, weder Andere noch sich selbst zum Opfer zu bringen.

* Colloquium vom 2. 11. 1995. Der Text ist bereits erschienen in: Paragrana 6 (1997) 1, 9-11

Literatur

Anders, Günther. (1987). Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2. München.

Frank, Manfred. (1986). Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankfurt/M.

Hörisch, Jochen. (1991). Die Wut des Verstehens. Frankfurt/M.

Kamper, Dietmar. (1995). Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie. München.

Kierkegaard, Sören. (1959). Die Krankheit zum Tode. Frankfurt/M.

Vico, Giambattista. (1966). Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Reinbek.