Psychologie zwischen Subjekt und Sozialstaat

MICHAEL SONNTAG

Psychologie zwischen Subjekt und Sozialstaat *

Von der wundersamen Vermehrung der Identitäten in der Zweidrittel-Gesellschaft (Oder: Das Selbst ist auch nicht mehr das, was es mal war …)

 

In der sich kritisch verstehenden human- und sozialwissenschaftlichen, gerade auch psychologischen Literatur bezeichnet man Individuen gern als „Subjekte“. Das geschieht zweifellos in den besten Absichten. Man grenzt sich vom mainstream ab, in dem „beforschte“ Individuen nur als Objekte einer Quasi-Naturwissenschaft auftauchen. Man bringt ein mehr oder minder bestimmtes Menschenbild zum Ausdruck, das den Individuen relative Urheberschaft an ihren Handlungen einräumt. An eine „autonome Quelle des Handelns“ hat bereits Durkheim den Begriff der „Person“ gebunden, und ein Maß an unterstellter Fähigkeit zu Vernunft und autonomem Handeln schwingt im Subjektbegriff stets mit.

Dieses auktoriale Subjekt wird neuerdings aber auch gerne „dekonstruiert“, und schon lange vorher erschien es labil und gefährdet. Bei Durkheim steht es unter dem Zwang des fait social, des Sozialen, als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse taucht es bei Karl Marx wie bei Marcel Mauss auf, und in einer unübertroffenen Formulierung erklärt Lucien Febvre, „daß das Individuum immer nur das ist, was ihm sowohl seine Epoche als auch sein gesellschaftliches Milieu zu sein erlauben“ (Febvre, 1938, S. 82). Darin steckt kein Determinismus, sondern ein Feld historisch und sozial sich verändernder Möglichkeiten und Grenzen der Individuation. Auf diesem Feld kommt es zu den berühmten „Ent-Täuschungen“; man denke nur an Freud, demzufolge das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist angesichts unverfügbarer psychodynamischer Mechanismen und ihrer Effekte. Heute erweitert man solche Vorgängigkeiten gern, z. B. auf Sprache und Schrift, deren Eigengesetzlichkeiten Handeln und Reflexion bestimmen sollen. Mich interessieren demgegenüber mehr die menschlichen Möglichkeiten und ihre Be- oder Verhinderung durch historische Entwicklungen, eine bei näherer Betrachtung eher politische als philosophische oder psychologische Problematik. Ich will daher im folgenden einige Anmerkungen zu den politischen Bedingungen gegenwärtiger Zustände und Befindlichkeiten machen.

 

1. Zum Begriff des Politischen


Mit politischen Dimensionen gegenwärtiger Problemlagen sind Fragen der Ordnung und Gestaltung des Gemeinwesens gemeint, vom Staat bis zur Kommune. Der Begriff des Politischen ist dabei ausgehend von seiner klassischen Fassung in der antiken griechischen, insbesondere athenischen, Demokratie zu verstehen. Sein wesentliches Moment ist die freie, handlungsmächtige Verfügung über die Belange des Gemeinwesens, der polis (vgl. dazu Meier, 1989). Diese Handlungsmächtigkeit tritt in expliziten Gegensatz zu dem, was als automaton bezeichnet wird, dem Selbstlauf des politisch Unverfügbaren, wie es sich in göttlichen oder natürlichen Geschehnissen manifestiert, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg und unbeeinflußbar von ihnen sich buchstäblich vollziehen.

Hannah Arendt hat sich an diesem klassischen Politikbegriff orientiert und ist von daher bereits in den vierziger und fünfziger Jahren zu dem Schluß gekommen, der Verlust des Politischen sei geradezu das Signum des 20. Jahrhunderts. Aktuell begründet sie das mit der Herrschaft totalitärer Systeme und der atomaren Bedrohung; allgemeiner und langfristiger bedeutet für sie aber bereits das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft den sich abzeichnenden Verlust des Politischen. Um das zu verstehen, muß man sich zwei weitere Kriterien des klassischen Politikbegriffes vergegenwärtigen, nämlich wer über politische Handlungsmächtigkeit verfügt und welche Angelegenheiten als die des Gemeinwesens gelten.

Die polis-Demokratie basiert auf der wirtschaftlichen Autarkie ihrer Mitglieder, die ihrerseits nicht der Sphäre des Politischen angehört. Politische Rechte hat nur der polité, der Vollbürger, d. h. der männliche Vorstand eines Hauses bzw. eines Haushaltes, der für seinen Lebensunterhalt nicht zu arbeiten braucht. Nicht dazu gehören alle, die arbeiten müssen, also insbesondere die Sklaven, die Metöken [1], die Frauen und die armen Freien. Nicht zum Politischen gehört damit auch alles, was den Lebensunterhalt und die Haushaltsführung betrifft. Sie ist vielmehr Gegenstand der Ökonomik, von gr. oikos, Haus, die bei Aristoteles als Lehre von der richtigen Führung des Hauses ein untergeordneter Teil der praktischen Philosophie ist [2]. Diese ist eine Art politische Erziehungslehre, die sich unterteilt in Politik – Lehre von der guten Gemeinschaft – und Ethik – Lehre vom guten Handeln des einzelnen. Die Ökonomik befaßt sich mit dem Haus als Substrat von Herrschaft, Haushaltsführung als Herrschaft des Hausherrn, des Oikos-Despoten, über seine Frau, über die Kinder, über die Sklaven und Bediensteten. Ohne Herrschaft könnte das Haus nicht funktionieren; sie macht das Haus erst zum Oikos.

Das Haus ist die Basis der „politischen“ Ordnung und die Quelle aller politischen Rechte – „[d]enn jeder Staat ist aus Häusern zusammengesetzt,“ wie es bei Aristoteles heißt (Politik, I, 1253b 2f.: Aristoteles, 1973, S. 50). Aber der politische Raum, die politeía, ist als strikter Gegenpol zum Haus der Ort, wo nur Gleiche miteinander verkehren, Hausherren, mit politischen Rechten ausgestattete Bürger, die sich hier um die Verwirklichung des moralisch guten Lebens bemühen. Der oikos als Ort der bloßen Verrichtung der lebensnotwendigen Tätigkeiten und die gesamte Hauswirtschaft werden dort nicht verhandelt; sie unterliegen einzig dem Gebot des Oikos-Despoten. Träger des Politischen sind also die freien Bürger, die die Angelegenheiten des Gemeinwesens frei von den Bedürfnissen und Zwängen der Lebensunterhaltung verhandeln.

Diese klassische Fassung des Politischen hat über 2000 Jahre Gültigkeit [3], so lange, wie die Hauswirtschaft dominiert, also die bis ins 18. Jahrhundert bei Adel, Bürgertum und Bauernschaft verbreitete Wirtschafts- und Lebensform des ganzen Hauses (Brunner, 1980, S. 105ff.; Rosenbaum, 1982, S. 85, S. 116), und Herrschaft sich aus Hausherrschaft ableitet (s. u.). Gilt für diese 2000 Jahre die aristotelische Formel vom „Menschen“ (Vollbürger) als zoon politikon, so steht an ihrem Ende, was Foucault als „biologische Modernitätsschwelle“ der neuzeitlichen Gesellschaft bezeichnet hat. Sie „liegt dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht. Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“ (Foucault, 1979, S. 170f.).

Bezieht Foucault das auf den Siegeszug der von ihm sog. „Bio-Macht“, so zeigt sich jetzt, daß dieser „biologischen Modernitätsschwelle“ eine zweite, ganz alltägliche Bedeutung zukommt. Für Hannah Arendt entsteht „Gesellschaft“ im modernen Sinne überhaupt erst mit der Auflösung der Hauswirtschaft, „als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs“ (Arendt, 1981, S. 38) tritt. „Gesellschaft“ ist von daher diejenige „Form des Zusammenlebens“, bei der „die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen“ (ebd., S. 47).

Die „biologische Modernitätsschwelle“ ist also auch da erreicht, wo die Belange der Lebensunterhaltung zu politischen Angelegenheiten werden, wo eine eigenständige ökonomische Sphäre der Sphäre des Politischen bzw. des Staates gegenübertritt – ein „Verlust des Politischen“ im Sinne Hannah Arendts insofern, als es mit dessen „Reinheit“ von den Niederungen der Lebensfristung und ihrer gesamtgesellschaftlichen Organisation ein Ende hat. Bis dahin steht alle Ökonomie unter dem Primat von Herrschaft, nachhaltig noch einmal manifestiert in der als „Merkantilismus“ bekannten Wirtschaftspolitik des Absolutismus, als der zentralisierte Territorialstaat Produktion und Handel zu seinem und nominell zum „Gemeinwohl“ aller zu dirigieren versucht. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erzeugt aber die zunächst ökonomische, dann politische Machtergreifung des Bürgertums eine gegenüber der Sphäre von Staat und Herrschaft eigenständige Gesellschaft im Sinne der modernen „Wirtschaftsgesellschaft“ (Brunner) oder Marktgesellschaft.

Ohne die Einbeziehung dieses Auseinandertretens von Staat und Gesellschaft und ihrer jeweiligen Konstitutionsbedingungen bleiben die Entwicklungen der letzten zwei- bis dreihundert Jahre unverständlich. Sie figurieren dann z. B. unter so allgemeinen Begriffen wie „Moderne“ und „Modernisierung“, die die Totalität eines Entwicklungsvollzuges suggerieren, in dem weder die Interessenlagen der beteiligten Gruppen noch Fragen von Ordnung und Herrschaft eine Rolle spielen. Im Begriffspositivismus modernisierungsdiagnostischer Debatten wird zunehmend von der Frage Abstand genommen, wodurch die zur Diagnose Anlaß gebenden Entwicklungen eigentlich hervorgerufen wurden. Von der „Risiko“- bis zur „Erlebnisgesellschaft“ überbietet man sich gegenseitig in subtiler Verhältnisdiagnostik und erzielt Publikumserfolge, weil es in heutigen unüberschaubaren Verhältnissen schon als Kunst gilt, Entwicklungen überhaupt noch auf einen Begriff zu bringen. Auf dem Parnaß dieser Kunst sitzt dann der blanke Positivismus systemischer Gesellschaftstheorie à la Luhmann.

Es geht immer weniger darum, die Bedingungen für politische Steuerbarkeit von Entwicklungen wieder in die Hände zu bekommen. Während eine gesellschaftliche Praxis fortschreitet, in der es gegensätzliche Interessen und entsprechende Konflikte gibt, Ungleichheit in der Verteilung der Ressourcen, zunehmenden Abbau der sozialstaatlichen Garantien, die die „friedliche Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie“ (Habermas, 1985, S. 148) erst ermöglicht haben, spielt das im postmodernen Diskurs kaum eine Rolle. Statt dessen hören wir allen Ernstes von der „Überlastung der Subjekte“, die dadurch drohe, daß sie sich eigenständige Gedanken über die Gestaltung ihres Gemeinwesens machen könnten (Bialas, 1994), und erfahren, daß dann doch besser die Psychologie der Ort der „Selbstverständigung der Subjekte“ (Keupp, 1993; vgl. dazu Sonntag, 1994) sein sollte.

Die Selbstverständigung der Mitglieder eines Gemeinwesens soll nicht der Sphäre politischer Öffentlichkeit angehören, sondern, ausgerechnet, der Psychologie – eine Engführung gesellschaftlicher Auseinandersetzung auf eine expertengeleitete Großveranstaltung. Ein solches Abräumen des Politischen kennzeichnet viele „postmoderne“ Variationen zum Begriff des Politischen. Heutige Resultate historischer Prozesse werden diskursiv verdoppelt, um daraufhin mit der Unabänderlichkeit des historisch-empirisch Gegebenen zu spielen. Prototypisch funktioniert das nach dem Argument, das gesellschaftliche Ganze hätte einen derartigen Differenzierungs- und Komplexitätsgrad erreicht, daß es in autonome Teilsysteme zerfällt, die allesamt eigengesetzlich funktionieren, miteinander nicht mehr vermittelbar und schon gar nicht in irgendeiner Form steuerbar sind. Das heißt, nicht nur wird der Bereich konkreter politischer Instanzen und Entscheidungen als lediglich ein Teilsystem unter anderen angesehen, sondern der Begriff des Politischen selbst entfällt: Schon die bloße Option auf Gestaltung gilt als obskur und den „komplexen“ Verhältnissen nicht mehr angemessen. So unterstellt z. B. Luhmann hermetisch abgeschlossene interne Regelungsmechanismen von Teilsystemen wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft/Technologie usw., die „von außen“ nicht mehr beeinflußbar sind. Hier wird also eine „funktionale Differenzierung“ von Gesellschaft aus sich selbst heraus suggeriert, der gegenüber politische Intentionen nicht nur ohnmächtig, sondern völlig fehl am Platze sind. Die praktische Abdankung des Politischen wird theoretisch legitimiert: systemtheoretisch verbrämte Politikverdrossenheit. Autonome Teilsysteme regulieren sich selbst und in einer Art wundersamen Zusammenspiels die Gesamtgesellschaft gleich mit. Daher gilt bündig: „Politik kann nicht mehr das naturwüchsige Steuerungszentrum ganzer Gesellschaften sein“ (von Beyme, 1991, S. 9).

Das allerdings kann sie noch nie gewesen sein, weil „Naturwüchsigkeit“ auf der einen und Politik wie Steuerung auf der anderen Seite sich schon vom Begriff her ausschließen. Aber gelassenes Aushalten nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der eigenen Widersprüche macht vielleicht gerade den subtilen Charme postmoderner Diskurse aus. Daß es kein singuläres Steuerungszentrum mehr gibt, ist trivial, denn das ist ja gerade der Unterschied bürgerlich-parlamentarischer Demokratie zum Absolutismus bzw. zu totalitären Systemen. Von der Gewaltenteilung mal ganz abgesehen, stehen verschiedene, meist ökonomisch fundierte Interessengruppen in Konkurrenz um politische Steuerungsmacht.

Das Problem ist eher, daß die realen politischen Maßnahmen und Möglichkeiten und die Ursachen der politischen Probleme immer weiter auseinander driften. Die berühmten ökonomischen „Sachzwänge“ haben sich vervielfacht, mit technologischen, ökologischen und sozialen Folgen. Folglich ist eine „zentralstaatliche Regulierung der Detailentscheidungen von Wirtschaft oder Technologie, Gesundheits- oder Bildungswesen, Medien oder Kultur … beim erreichten Stand der Arbeitsteilung nur noch um den Preis einer Lähmung der internen Entwicklungschancen der Teilsysteme möglich“ (Meyer, 1994, S. 43). Nur ändert das erstens nichts an den realen politischen Entscheidungen mit Folgen, die alle Teilsysteme und alle Bürger betreffen, wie man an der Umverteilungspolitik der letzten Jahre und am Abbau des Sozialstaats sieht. Und zweitens stellt sich die Frage, ob die Unfähigkeit realer Politik sich tatsächlich nur dem „erreichten Stand der Arbeitsteilung“ bzw. allgemeiner dem Grad gesellschaftlicher Differenzierung verdankt.

Tatsächlich gibt es in der real existierenden Gesellschaft keine Absonderung von Politik zu einem unter mehreren Subsystemen. Vielmehr nimmt das Politische selbst neue Gestalt an, wird zu einer „Sub-Politik“, einer aus ökonomischen, technologischen, sozialen Zwängen gespeisten politischen Technologie, die die Trennung von Staat und Gesellschaft längst wieder aufgehoben hat und beide Sphären ineinander verkoppelt, die sich also eher auf Staat und Gesellschaft insgesamt ausdehnt, als daß sie sich zu einem isolierten Subsystem absondert. Diese politische Regulation geht in der Tat weniger von einem Steuerungszentrum aus, als daß sie sich aus dem Zusammenfluß der diversen Eigendynamiken gesellschaftlicher Teilbereiche ergibt. Aber gerade deswegen bildet das Politische kein „autonomes Teilsystem“ innerhalb der modernen Gesellschaften. Vielmehr nehmen gesellschaftliche Entwicklungen ihrerseits politische Qualität an, mit direkten Konsequenzen für Gestalt und Ordnung des Gemeinwesens, wie das von den ökonomischen „Sachzwängen“ seit langem bekannt ist. Sie schränken die legislative Gewalt ein und führen zu einem wiederaufgelegten Korporationismus, der gesellschaftliche (ökonomische) Macht immer direkter in politische Direktiven umzumünzen vermag. In den abgewogenen Worten eines jetzigen Richters am Bundesverfassungsgericht handelt es sich um „parakonstitutionelle Entscheidungsträger“:

„Der Staat muß … im Bereich der Wirtschaftssteuerung auf seine spezifischen Mittel von Befehl und Zwang weitgehend verzichten und statt dessen zu indirekt wirkenden Motivationsdaten greifen. Insoweit hängt die Erfüllung einer Staatsaufgabe also von der Folgebereitschaft wirtschaftlicher Entscheidungsträger ab. Diese gelangen dadurch dem Staat gegenüber in eine Verhandlungsposition. Er teilt seine Entscheidungsbefugnis mit gesellschaftlichen Mächten, die nicht in den spezifischen Legitimations- und Verantwortungszusammenhang der Verfassung eingegliedert sind. Die Verfassung regelt dann ihrem Anspruch zum Trotz die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen nur noch partiell und muß daneben parakonstitutionelle Entscheidungsträger dulden.“ (Grimm, 1987, S. 159) [4]

Das heißt im Klartext, daß Sachen und Sachzwänge Verfassungsrang erhalten haben. Mit anderen Worten, die ökonomische Stratifizierung der industriellen Gesellschaften – Trennung von Kapital und Lohnarbeit, Marktregulation bei Ungleichverteilung der Ressourcen an Macht, Eigentum, Privilegien – hat deren Einrichtungen und Funktionen sich soweit verselbständigen lassen, daß sie politische Wirkmächtigkeit erlangen, ohne kontrollierbar zu sein. Die das Prinzip und Spezifikum bürgerlicher Gesellschaft ausmachende relative Autonomie der Ökonomie gegenüber der Politik hat überhaupt erst die Komplexitätsgrade und Sachzwänge herbeigeführt, die heute als Signatur des Fragmentarischen gelten. Und „natürlich“ wälzt das Kapital auch alle ideellen „Werte“ gemäß dem Zwang zur Realisierung materiellen Werts über den Haufen, aber das Nachbeten dieser Ent-Wertung durch die postmoderne Lobrede auf eine entsprechend kleinteilige Vernunft ändert daran nichts, eher im Gegenteil handelt es sich um eine jener Sub- oder Para-Politik sich anpassende Philosophie.

Dem in der historischen Entwicklung zur Sub-Politik sich vollziehenden „Verlust des Politischen“ und der Rolle, die Subjektivität und Psychologie dabei spielen, gilt im folgenden mein Interesse.

 

2. Allgemeiner Mensch und abstraktes Individuum
Das Subjekt in der politischen Anthropologie des Bürgertums


Ein Essential des Positivismus’ ist bekanntlich das Lob der Vergeßlichkeit. Die sogenannte „Dekonstruktion“ des Subjektbegriffs zeigt erhebliche amnestische Auffälligkeiten, wo sie die politischen Implikationen des Begriffs gleich mit entsorgt. Man kritisiert den Ruf nach „Emanzipation des Subjekts“ mit dem Argument, dieses sei selbst schon „ein Produkt der Unterwerfung“ (Hegener, 1994, S. 12; Hegener zitiert hier Foucault), aber Antworten auf die Frage: Unterwerfung unter was? bleiben eher vage. Anders bei Foucault im Original, der zwar gerne postmodern beansprucht wird, dessen „Machttheorie“ aber, sieht man von ihren ontologisierenden Tendenzen ab, als substantiell moderne und politische Fragestellung gelesen werden kann. Sie erschöpft sich nicht in der „Dekonstruktion“ oder „Dezentrierung“ von „Subjekten“. Man kann vielmehr insbesondere Überwachen und Strafen und den ersten Band von Sexualität und Wahrheit als eine Archäologie des Politischen lesen, die die Mechanismen der faktischen Gestaltung, der Erzeugung von Ordnung in den neuzeitlichen Gemeinwesen thematisiert. Foucault unternimmt gleichsam von der Seite des Politischen her, was Marx mit der Kritik der Politischen Ökonomie von der Seite des Gesellschaftlichen her unternommen hat, nämlich die Konstitutions- und Funktionsbedingungen moderner Ordnung zu analysieren. Politische und ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse bestimmen nun auch die historische Genese von Subjektivität und Psychologie.

Wenn etwa die Konstruktion des zu „dekonstruierenden“ Subjektbegriffs behauptet, er stamme aus der Philosophie, die eine „traditionell-monologische Bestimmung des Subjekts“ produziert habe, „das sich … als ein selbstgesetztes, autonomes und potentiell ganzes versteht bzw. mißversteht“ (Hegener, 1994, S. 15), bin ich nicht sicher, ob hier nicht eher die abendländische Philosophiegeschichte mißverstanden wird [5]. Dieser Subjektbegriff gibt eher das bürgerliche Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts wieder, das Selbstbild des warentauschenden bourgeois’, der sich als homme autonom wähnt. Dabei handelt es sich um keinen philosophischen, sondern um einen psychologischen Begriff vom Subjekt. Sein Herkunftsort, die patriarchalische Kleinfamilie des 18. Jahrhunderts, ist Schauplatz einer psychologischen Emanzipation, die auf der ökonomischen Emanzipation beruht und sie gleichzeitig verleugnet (Habermas, 1979, S. 63 f.). Während die Eigentümer in der Konkurrenz der Marktgesellschaft Privatautonomie üben, sehen sie ihr eigentliches Menschsein in der von gesellschaftlichen Zwängen scheinbar befreiten Sphäre familialer Intimität realisiert. Ökonomische Privatautonomie ist die Voraussetzung für das Dasein als homme, „Mensch an sich“; ökonomisches und psychologisches „Subjekt“ sind nicht voneinander zu trennen.

Dieser „Mensch an sich“ steht im Kontext eines doppelten Interesses, das im 18. Jahrhundert an der Figur des „Menschen“ aufkommt, nämlich am Menschen als Gattungswesen wie am Menschen als Individuum. Der Mensch als Gattungswesen ist Gegenstand einer scheinbar anthropologischen Debatte, stellt aber in erster Linie eine ausgesprochen normative Kategorie dar, denn des Bürgers „wahre Menschlichkeit“ als „Mensch“ schlechthin wird zum Kriterium für Mensch-Sein überhaupt, das die innerlichen Verdienste der Moral und des Gemüts schon gegen die von unten drängenden Schichten, vor allem aber gegen die bloß äußerlichen Privilegien des adligen Blutes ins Felde führt.

In dieser „politischen Anthropologie“ (Sonntag, 1993; Hirschman, 1980) des Bürgertums fungiert „der Mensch“ wesentlich als Kampfbegriff. Die Geburt und das Blut können nicht mehr Garant der gesellschaftlichen Stellung sein, denn als „Mensch“ sind alle gleich. Die Humanität, das „wahre Menschsein“, wird zum Kriterium erhoben, an dem sich die Verdienste des einzelnen und der gesellschaftliche Rang, den er folglich einnehmen sollte, bemessen lassen. In diesem Sinne werden bürgerliche Kunst, Bildung, Kultur als menschliche „Natürlichkeit“ gegen die höfische Unnatur ins Felde geführt. Und während der Adel eine parasitäre Existenz führt, zeichnet es das Selbstbewußtsein des Bürgers aus, daß er für seinen Unterhalt selber sorgt. Folglich äußert sich der politische Anspruch der auf dem Markt geübten Privatautonomie darin, daß der sich als „Gesellschaft“ konstituierende ökonomische „Privatbereich“ explizit gegen die merkantilistische Wirtschaftspolitik abgegrenzt wird. Er soll den Gegenpol zur Sphäre des Staates bilden und nur den ihm immanenten Gesetzmäßigkeiten des freien Warentausches folgen, d. h. er soll insbesondere vor den Eingriffen und Abschöpfungen des Königs bzw. des absolutistischen Staates geschützt werden.

Der „Mensch an sich“ ist aber nicht einfach eine Erfindung, die das Bürgertum macht. Die Voraussetzung, daß eine solche Figur überhaupt denkmöglich wurde, war ein längerfristiger historischer Prozeß, den man zusammenfassend als Auflösung der ständischen Ordnung bezeichnen kann. Er hat eine politische und eine wirtschaftliche Seite, die nicht voneinander zu trennen sind. Marx spricht ihn an als Prozeß der Akkumulation des Kapitals, den er mit der historischen Scheidung von Lohnarbeit und Kapital gleichsetzt [6]. Es handelt sich im wesentlichen um die Auflösung der Hauswirtschaft durch die Verbreitung des Warentausches auf dem Markt, der Geldwirtschaft und der neuen Produktionsformen, die auf außerhäuslicher Lohnarbeit beruhen. Ein allmähliches Bevölkerungswachstum bei steigender agrarischer Produktivität führt zu einem wachsenden Potential an Besitzlosen als Reservoir von Arbeitskraft, die aufgrund der Verbreitung der Geldwirtschaft auch monetär entlohnt werden können. Zugleich wächst in Handel und Verwaltung bis hinunter zu den Lehrern die Zahl außerhäuslicher „Berufe“, genauso wie in Verlagswesen und Manufaktur der Bedarf an Arbeitskräften.

Diese Entwicklung beinhaltet zugleich einen Umbruch der Herrschaftsformen, denn das Haus ist seit der griechischen polis nicht nur die Basis für die ökonomische Subsistenz gewesen, sondern auch die nach modernen ökonomischen und politischen Kriterien nicht auseinanderzudividierende Einheit aller Formen von Herrschaft. Bis hin zum Absolutismus folgt jegliche Herrschaft dem Modell des oikos, mit dem pater familias an der Spitze, der keiner Familie im heutigen Sinne vorsteht, sondern der familia, dem Gesamtpersonenverband der von ihm als Hausherrn abhängigen Menschen. Grundherrschaft, Adelsherrschaft und Königtum sind abgestufte Grade der Oikos-Despotie. Das Haus, in Gestalt der hausherrlichen munt, der Schutzgewalt einschließlich der niederen Gerichtsbarkeit über die familia, ist die Quelle aller „politischen“ Rechte. Nur ein Hausherr kann vollberechtigtes Mitglied einer Gemeinde wie eines Standes im politisch-rechtlichen Sinne sein, also z. B. Sitz und Stimme in der Versammlung der Landstände haben. Das Herrenhaus ist organisatorischer Mittelpunkt und rechtliches Bezugszentrum von Herrschaft. Hausherrschaft stellt also ein unauflösbares Gemenge aus „öffentlichen“ und „privaten“ Funktionen dar, vermengt untrennbar Recht und Macht und Politik und Ökonomie. Jeder Hausherr vereint in seiner Hand Rechte, die wir nur als staatliche, als Hoheitsrechte kennen, ist Teilhaber einer „Staatsgewalt“, die nicht als Souveränität existiert.

Daher setzt sich der Absolutismus und mit ihm der moderne Zentralstaat umfassend erst durch, als er in die innersten Bereiche des Hauses und damit in den Kern der alten Formen von Herrschaft vordringt. Die Zentralisierung staatlicher Gewalt zieht zunehmend alle Bereiche der Gerichtsbarkeit an sich und stattet ihr Territorium mit einem immer dichteren Netz ihr direkt untergebener administrativer und polizeilich-militärischer Instanzen aus. Im Bestreben zur Schaffung einer allgemeinen Untertanenschaft greift die landesherrliche Gesetzgebung massiv in die tradierten Rechte des „Hausvaters“ ein, z. B. in seine Zwangsgewalt über die familia [7]. Hinzu kommt die faktische Ausschaltung aller ständischen Instanzen als dem Landesherrn oder König gegenüberstehende Teilhaber staatlicher Gewalt. Aus Menschen, die bis dahin vor allem Angehörige unterschiedlicher Stände waren und alle Rechte und Pflichten aus dieser Standeszugehörigkeit bezogen, wird eine homogene Schicht von Untertanen, deren Gleichheit in der Untertänigkeit unter den Souverän besteht.

Thomas Hobbes, mit dem man gemeinhin die politische Philosophie der Moderne beginnen läßt, definiert das Individuum über eben diese Untertänigkeit, und zwar als Subjekt. Der Repräsentant des Staates ist der absolute Souverän, der Soveraigne, der mit Soveraigne Power ausgestattet ist, und everyone besides ist his subject (Leviathan, 2, 17: Hobbes, 1994, S. 100). Das moderne Subjekt beginnt seine Karriere also als Untertan. Dem Staat allein steht alle Zwangsgewalt zu, weil nur so die Bürgerkriege zu beenden und der Friede zu sichern sind. Ihm stehen keine Stände mehr gegenüber, sondern nur noch Subjekte, einzelne, gleiche Untertanen. Sie handeln nicht mehr gemäß ihren politischen Tugenden. Moral wie Religion sind nicht mehr Hort von Wahrheit, sondern nur Gesinnung; sie wird zur Privatsache des Bürgers, die aus der Politik herausgehalten werden muß, weil gerade sie den Bürgerkrieg anheizt, wie man an den unversöhnlichen Positionen der konfessionellen Parteien sieht. So bricht Hobbes mit aller politischen Tradition, indem er Politik und Ethik entkoppelt. Die Etablierung des richtigen Staates wird zum technischen Problem der Einführung von Regeln und Institutionen. Das „gute Leben“ entspringt nicht mehr der Tugend, sondern dem Genuß des frei verfügbaren Eigentums. Der Staat hat die Menschen unabhängig von ihren Interessen und Erwartungen zu schützen, den inneren und den äußeren Frieden und das Eigentum zu sichern. Die bürgerliche Gesellschaft, die sich im Schoße des Absolutismus entwickelt, ist insofern das genaue Gegenteil der polis, nämlich eine Gesellschaft, in der der Bürger, von politischen Geschäften unbelastet, für die Zwecke der Ökonomie freigesetzt ist.

Im Zuge der Monopolisierung staatlicher Zwangsgewalt tritt das Interesse am Gattungswesen Mensch in ein beständiges Wechselwirkungsverhältnis zum Interesse am Menschen als Individuum. Als Interesse an sich selbst markiert es den Beginn der Konjunktur von Selbstbezüglichkeit und Selbstthematisierung, auf die ich noch zu sprechen komme. Hier spielt aber auch das viel ältere Kontrollinteresse an den (anderen) Individuen hinein, das sich bis auf die verschärften kirchlichen Kontroll- und Sanktionspraktiken des frühen 13. Jahrhunderts zurückverfolgen läßt (vgl. Sonntag, 1989). Als „Sozialdisziplinierung“ (G. Oestreich) hat es im Absolutismus eine spezifische Ausprägung erfahren.

Bekanntlich weist Foucault, wie Max Weber, der Disziplinierung einen entscheidenden Anteil an der „Genealogie der modernen Seele“ zu. Die Geburt der Humanwissenschaften erfolgt demnach im Zuge der Verwissenschaftlichung der Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, die von der Beurteilung der Taten auf die Beurteilung der Individuen übergeht. Daran knüpft sich ein ganzes neues psychologisches Universum: die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, der Motivlage, der Aussichten auf den Erfolg von Besserungstechniken. Aus der Schuldbehauptung wird ein wissenschaftlich-juristischer Komplex, dem Normalitätsabschätzungen und Korrekturtechniken obliegen, wofür der Einsatz wissenschaftlicher Hilfstruppen erforderlich wird: „psychiatrische oder psychologische Sachverständige, Beamte des Strafvollzugs, Erzieher, Funktionäre der Justizverwaltung“ usw. So führt eine „spezifische Unterwerfungsmethode zur Geburt des Menschen als Wissensgegenstand für einen ‘wissenschaftlichen’ Diskurs“ (Foucault, 1979a, S. 27ff.). Aufgrund einer hinter seinen Taten sich öffnenden und zu erhellenden Tiefe von Dispositionen, die man als Eigenschaften eines individuellen „Charakters“ mit seinen spezifischen „Motiven“, „Trieben“, „Leidenschaften“, mit seinen Vorzügen und seinen Defiziten entziffert, wird das Individuum in den Bereich der wissenschaftlich erkennbaren Gegenstände eingeholt. Und diese Erkennbarkeit ist stets an Experten gebunden, denn ein Verhalten, das keinem äußeren sozialen „Stand“ mehr entsprechen muß, erlaubt keinen sicheren Aufschluß über die inneren Beweggründe. Die Handlungsweisen des Individuums sind nurmehr Indizien für seinen „Charakter“, eben weil es mit einer ganzen Fülle von Motiven und Bedürfnissen, Vermögen und Defekten, Neigungen und Leidenschaften ausgestattet sein kann, die es „charakterisieren“, in denen sein „wahres Ich“ sich aber auch verbergen kann.

Allgemeiner Mensch wie persönlich zurechenbarer Charakter sind Konsequenzen der Auflösung ständischer Ordnung, die weniger bloße Menschen oder besondere Charaktere [8] als per Geburt ausgewiesene Inhaber standesspezifischer Rechte und Pflichten kannte. Mit der Herauslösung von Menschen aus diesen kollektiven Ordnungen werden sie zu einer „Ordnung in sich selbst“, zu Individuen. „Das Individuum“ ist also nicht nur etwas einzelnes und Besonderes, es ist eben darin zugleich auch etwas Allgemeines und Abstraktes. Es wird als rechtlich wie wissenschaftlich (an-)erkannte, in sich abgeschlossene „Entität“ für neue Praktiken der materiellen wie der ideellen Produktion und Reproduktion verfügbar. Erst auf diesen allgemeinen „Menschen“ oder das abstrakte „Individuum“ – statt auf das Mitglied eines bestimmten Standes – können sich die allgemeinen „Menschenrechte“ beziehen, ebenso das Prinzip der direkten Untertänigkeit gegenüber dem Souverän und die Rechtstitel des Privateigentums.

 

3. Politische Ökonomie: Gesellschaftliche und individuelle Selbstregulation

 

In den Theorien der Politischen Ökonomie wird „der Mensch“ so allgemein, daß er zu einer funktionalen Leerstelle verblaßt, deren Platz die gesellschaftliche Eigendynamik einnimmt. Nicht mehr der Souverän, aber auch kein „Mensch an sich“, sondern „Gesellschaft“ wird zum Subjekt der Geschichte. Nicht eine „Natur des Menschen“, sondern die Produktionsweisen machen die historischen Unterschiede. Die Politische Ökonomie entledigt sich daher der politischen Philosophie, indem sie die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft, die Locke noch naturrechtlich formuliert und begründet hatte, zu Naturgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft selbst erklärt.

Die Politische Ökonomie fordert den Übergang von staatlicher Lenkung zur Regulation der Gesellschaft nach Maßgabe deren eigener innerer Verlaufsgesetze. Sie begründet das mit Theorien über die menschliche Natur, die deren bis heute grundlegende Flexibilisierung mit sich bringen. Die Erfahrung zeigt, daß es kein feststehendes Wesen des Menschen gibt, welches ihn in seinem irdischen Dasein ein für allemal bestimmt. Was so bereits bei Locke und Hume formuliert wird, faßt Ferguson [9] angesichts der historischen Vielfalt menschlicher Existenzformen in das Prinzip der Führbarkeit, Biegsamkeit, der grundlegenden Plastizität des Menschen. Die verschiedenen Lebensformen verdanken sich den historisch-materiellen Bedingungen, unter denen sie sich realisieren; es gibt weder irgendeine Institution, die dem Menschen naturnotwendig beigegeben ist, noch so etwas wie ein vorbestimmtes Heil oder Verhängnis. Das Handeln von Menschen ist durch Erfahrung bestimmt, und es führt im gesellschaftlichen Zusammenhang zur Institutionalisierung erfolgreicher Handlungszusammenhänge: In den gesellschaftlichen Institutionen verkörpern sich nicht göttliche oder königliche Rechte und Gebote, sondern aus konflikthafter Austragung divergierender Handlungsziele hervorgegangene menschliche Motive und Interessen. Diese Institutionen lassen sich nicht aus einer apriorischen und höherrangigen Vernunft ableiten, sondern sind Resultate von Lernprozessen. Menschliches Handeln realisiert dabei Zwecke, an die die Akteure zunächst gar nicht gedacht hatten. Der Markt ist dafür das klassische Beispiel. Menschen tauschen zunächst Güter aus, ohne weiterreichende Ziele zu verfolgen. Sie institutionalisieren damit aber einen Zusammenhang, der zur Grundlage wirtschaftlichen Fortschritts wird. Aus solchen und ähnlichen Institutionen erwachsen Leistungen, die über ihre ursprünglichen Zwecke hinausgehen. Die Emanzipation dieser Institutionen von staatlicher Kontrolle ist darum nicht nur eine Forderung, die bestimmten gesellschaftlichen Interessen dient, sondern entspricht ganz allgemein dem Charakter menschlicher Handlungen, die umso produktiver sind, je weniger sie von außen dirigiert werden und je mehr sie sich nach den eigenen Erfahrungen richten können (Jonas, 1968, S. 97).

Auf dieser Grundlage bringt Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle die Objektivierung individueller Interessen in Institutionen mit der Internalisierung gesellschaftlicher Normen durch die Individuen in Zusammenhang. Zwar verfolgt ein jeder seinen privaten Nutzen, er steht dabei aber in einem System wechselseitigen Beobachtens und Beurteilens. Die innere Abhängigkeit von den Urteilen der Gesellschaft ist es, die die Leidenschaften kontrolliert. Die Erwartungen anderer richten gleichsam ein äußeres Subjekt in uns selbst auf: einen inhabitant of the breast, einen inner man, den „großen Schiedsrichter“ unseres Verhaltens. Das Handeln in der Gesellschaft basiert auf der enormen Triebkraft menschlicher Leidenschaften, kann diesen Leidenschaften zugleich aber in Gestalt jenes introjizierten inner man mit Distanz und Selbstkontrolle gegenübertreten. Gesellschaftliches Handeln bedarf der staatlichen Anordnung und des Eingriffes nicht nur nicht, es bezieht seine immense Produktivität überhaupt erst aus der Emanzipation von übergeordneten Gewalten, die menschliche Naturkräfte in Gestalt sich selbst regulierender Leidenschaften in einem Maße freisetzt, wie das weder obrigkeitliches Gebot noch bloße rationale Einsicht vermögen. Für John Stuart Mill wiegt dieses kontrollierte Eigeninteresse so schwer, daß der weitestgehende Ausbau privater gegenüber den öffentlichen Aufgaben auch in dem (theoretischen) Fall zu verfolgen wäre, daß die Regierung die größtmögliche Sachkenntnis erworben hätte (J. St. Mill, 1976, S. 947). Diese kontrollierte Verfolgung von Eigeninteressen findet, so Smith, in der Gruppe, der man angehört, ebenso statt wie auf dem Markt. Sie besorgt eine gesamtgesellschaftliche Integration, in der die Verfolgung des Eigennutzes bruchlos in die Mehrung des Gemeinnutzes übergeht.

Der weitgehenden Selbstregulation der Gesellschaft entspricht also eine ebenso weitgehende Selbstregulation der Individuen im gesellschaftlichen Verkehr; der Markt wird zur Instanz individueller wie kollektiver Sozialisation und gesellschaftlicher Integration. Die Moralphilosophie wird der kapitalistischen Akkumulation nachgeordnet, die Smith als entscheidende Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung herausstellt. Ist diese ein sich selbst regulierender und darum freier Handlungszusammenhang, „wie von einer unsichtbaren Hand“ geordnet, dann wird das Wirken der „öffentlichen Hand“ nicht nur unnötig, sondern ihr Eingreifen kann nur schädliche Folgen haben. Politik wird daher der Ökonomie nachgeordnet. Bereits James Steuart, der den Begriff der Politischen Ökonomie in England populär macht, wo er bald zum Inbegriff der liberalistischen Wirtschaftstheorie wird, hebt hervor, daß die Politik nicht mehr als Herr, sondern als Diener der Volkswirtschaft anzusehen sei und deren Eigengesetzlichkeiten Folge zu leisten habe [10]. Die klassischen politisch-ethischen Vorstellungen distributiver Gerechtigkeit und „guter“, d. h. tugendhafter Ordnung finden weder als Staatszweck noch als Normativ der gesellschaftlichen Abläufe einen Platz mehr. Die Legitimität bürgerlicher Gesellschaft wird explizit auf Privateigentum umgestellt und analog zur Selbsterhaltung der Natur gedacht.

 

4. Sozialstaat: Sub-Politik und Kompensationsprinzip


So repräsentiert die Politische Ökonomie die Distanz bürgerlicher Gesellschaft zum absolutistischen, aber auch zum eigenen, bürgerlichen Staat und insgesamt zur klassischen Lehre von der polis als „guter“ Ordnung, die seit Aristoteles am Maßstab der Ethik sich zu orientieren hatte. Gleichwohl verschwindet das Politische auch im klassischen Liberalismus nicht vollständig. Nominell hat Politik als verbleibender Bereich der Staatsaufgaben die Rahmenbedingungen für die Konkurrenz der freien Eigentümer bereitzustellen. Dazu zählen Verteidigung und Friedenssicherung nach innen und außen, Rechtspflege mit Gewährleistung der Vertrags-, Gewerbe-, Niederlassungsfreiheit, Bereitstellung notwendiger „öffentlicher Güter“, wie z. B. Verkehrswege. Aber die ökonomisch vermittelte „Selbstregulation“ hat Folgen, die darüber hinaus eine vor allem den neuen Problemen sozialer Integration gewidmete politische Regulation im Innern der Gesellschaft erforderlich machen.

Als mit der Auflösung der alten feudal-ständischen Bindungen nicht nur Repressions- und Ausbeutungszusammenhänge fortfallen, sondern auch Sicherungsmechanismen der täglichen Reproduktion und der Vorsorge für Notlagen, Krankheit, Alter und Tod, tradierte Werte und Sozialmilieus, Sinnorientierungen und religiöse Gewißheiten, ist eine der Folgen ein epochaler Individualisierungsschub. Die Individuen werden freigesetzt aus Familien-, Klassen-, Nachbarschafts- und Berufsbindungen usw. Diese Individualisierung geht aber aufgrund der Herausbildung neuer gesellschaftlicher Ordnungsmuster einher mit einer wachsenden Einbindung der Individuen in neuartige institutionelle und politische Kontrollen, so daß Beck von einer „institutionenabhängigen Kontrollstruktur von Individuallagen“ spricht (Beck, 1986, S. 115 ff., S. 210).

Dieses generelle Signum moderner Lebensbedingungen verdankt sich zunächst weniger der ordnenden Hand des Marktes. Dieser setzt vielmehr seinerseits die aus dem Disziplinarsystem des Absolutismus hervorgehende „policierte Gesellschaft“ voraus – befriedet im Innern, Gewalt- und Rechtsmonopol beim Staat, Binnendisziplinierung durch Anstalten, Verwaltung und Polizei –, die durch immer komplexere staatliche Regelungen die Etablierung eines „freien“ Marktes überhaupt erst ermöglicht. Subjektivität wird hier notwendig affirmativ. Die Ordnung, in der sie sich jetzt wiederfindet, ist ihre eigene. Damit stößt ihr ursprünglicher politischer Anspruch ins Leere. Soweit sie kritische Funktion hatte, ist ihr Adressat nicht mehr vorhanden, der privilegierte Geburtsadel bis hin zum monarchischen Souverän. Sie trifft nicht mehr auf das „potente“ Gegenüber, von dem sie sich ableitet, den Inhaber der summa potestas, sondern nur noch auf sich selbst. Das Bürgertum selbst besetzt jetzt die Funktionsstellen in den staatlichen Institutionen; aus seiner politischen Öffentlichkeit bilden sich die organisatorischen Formen korporativer Verbände, politischer Parteien und kommerzieller Publizistik heraus, eher die Lobby der Vertretung von Partialinteressen als die Bühne einer „Selbstverständigung“ auf der Basis einer „allgemein-menschlichen Humanität“ oder auch nur eines „gemeinen Nutzens“. Schließlich taucht auch noch ein neuer Gegner auf, der seine Interessen immer geschlossener gegen das Besitzbürgertum vertritt, nämlich die stark anwachsende Lohnarbeiterschaft. Dagegen ist mit Subjektivität wenig auszurichten; sie, die doch der „Humanität“ schlechthin und dem „allgemein Menschlichen“ verpflichtet sein sollte, wird hier zu einer spezifischen Moralistik und Pädagogik für die unteren Klassen, die in prekärer Analogie zu überkommenen ständischen Hierarchien jeder Klasse den ihr zukommenden sozialen Ort anweisen will. Psychologie als Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft des „Vierten Standes“ fördernde positive Instanz wird hier ungleich wichtiger als alle „Subjektivität“, deren „allgemein-menschlicher“ Ausgangspunkt und Ausblick auseinanderfällt angesichts der im 19. Jahrhundert offen oder implizit auf naturgegebene Anlagen zurückgeführten unterschiedlichen Tugenden und Fähigkeiten der sozialen Klassen (vgl. Jaeger & Staeuble, 1978).

Insgesamt entfaltet sich ein gänzlich neues Spannungsfeld zwischen den formalen politischen Freiheiten und den Praktiken sozialer Einpassung, die immer weniger über direkten gewaltförmigen Zwang laufen, dafür immer häufiger über Mechanismen, die die gesellschaftliche Eigendynamik aus sich selbst heraus erzeugt. Dazu zählt die von den neuen Produktionsformen erzwungene „industriöse Disziplin“ ebenso wie generell der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft auf dem Markt. Und selbst die neuartige Psychoproduktivität des 18. Jahrhunderts zeigt von Anfang an das Muster einer „regulierten Subjektivität“, einer Subjektivierung als Objektivierung von Haltungen, Einstellungen und Bedürftigkeiten, die sich über ihre diskursive Kollektivierung neuen Regelungsmechanismen darbieten. Beschwört man die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, das „Zeitalter der Empfindsamkeit“, als „Entdeckung der Innerlichkeit“ und Selbstbezüglichkeit, dann übersieht man leicht, daß alles „Innerliche“ nur durch Veräußerlichung überhaupt erst in sein Recht tritt bzw. Gestalt bekommt. Was hier stattfindet, ist weniger Entdeckung eines Inneren als seine kanalisierte Ausdifferenzierung durch Diskursivierung und Verschriftlichung, weniger Entdeckung individueller Besonderheiten als geregelter Austausch sozialer Wahrnehmungen, eine kollektive Produktion von Innenwelten, die wesentlich von Modellen lebt [11].

Schon dies macht es schwierig, hier eine besondere „Subjektivität“ zu entdecken, die als das „ganz andere“ in Gegensatz stünde zu Herrschafts- und gesellschaftlichen Prozessen. Hinzu kommt, daß das Alltägliche, die Geschehnisse der täglichen Lebensführung und die Individualisierung auch in die Herrschaftstechniken einfließen. Gibt es im 18. Jahrhundert auf der einen Seite den „erstaunlichen Aufschwung der autobiographischen, der Memoiren wie auch der diaristischen Literatur – Privatchronik, Selbstanalyse, religiöse Lebensbeichte“ (Wuthenow, 1980, S. 148), so öffnet sich der gesamte Raum von Haus, Familie und Alltag zugleich mehr und mehr den staatlichen Kontrollen (z. B. rechtliche Unterminierung der Hausherrschaft), die ihrerseits beginnen, ihre Papierberge in Akten und Archiven aufzubauen. Foucault spricht davon, daß die Vergebung der Sünden durch ihre Registrierung ersetzt werde. In den ausgeweiteten polizeilich-administrativen Praktiken

„beginnen sich die Dispute der Nachbarschaft, die Klagen der Eltern und der Kinder, die Exzesse des Weines und des Geschlechts, die öffentlichen Streitereien und vielerlei geheime Leidenschaften zu verfangen … die individuellen Variationen des Verhaltens, seine Schanden und Geheimnisse [werden] durch den Diskurs dem Zugriff der Macht dargeboten. All diese Dinge, die das Gewöhnliche, das unwichtige Detail, das Dunkle, die ruhmlosen Tage, das gemeine Leben ausmachen, können und dürfen gesagt – besser noch geschrieben werden … Lange Zeit waren nur die Gesten der Großen würdig, ohne Spott gesagt zu werden; allein das Blut, die Geburt und die Heldentat gaben ein Recht auf Geschichte … Daß in der Ordnung aller Tage so etwas wie ein Geheimnis zu heben sein könnte … das blieb ausgeschlossen …“ (Foucault, 1982, S. 52f.),

bis Individualisierung und Psychologisierung zu Herrschaftstechniken im Rahmen einer „Politischen Technologie“ wurden. Dieses „Einfließen des Alltäglichen in den Code des Politischen“ deckt sich zumindest in Teilen mit dem, was Weber als Bürokratisierung bzw. Rationalisierung bezeichnet und dient u. a. dazu, die Individuen bzw. die gesamte Organisation des Gemeinwesens in spezifischer Weise mit der neuen Ordnung der Produktion und Distribution der (materiellen wie „geistigen“) Güter zu verknüpfen.

Charakteristisch dafür ist die bereits unter dem Absolutismus eingeleitete, von Foucault im Anschluß an Marx so genannte „Politische Ökonomie der Bevölkerung“ (Foucault, 1979, S. 168 f.). In ihrem Rahmen entwickeln sich Möglichkeit und Legitimität der „Objektivierung“ von Menschen; man kann sie von nun an als Gegenstand von Rechenoperationen und instrumenteller Handhabung denken. Die Öffnung der an Hausgemeinschaft und ständische Bindungen geknüpften Zugehörigkeits- und Abhängigkeitsverhältnisse auf administrativ-politische Kontrollen hin macht aus einem in Stände qualifizierten „Volk“ eine quantifizierbare „Bevölkerung“. Sie zeichnet sich aus durch spezifische Merkmale und Ressourcen wie Geburtenrate und Sterblichkeit, Lebensdauer, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeiten, Arbeitsfähigkeit, Ernährungsweisen. Die Erfassung solcher Merkmale im Rahmen von Merkantilismus und Kameralismus wird systematisiert u. a. im Zuge der Herausbildung einer wissenschaftlichen Demographie im Dienste des Staates. 1675 schreibt Hermann Conring, es gehöre zum Verständnis der Menschen, daß man ihre Zahl oder Menge kenne; und es gehe den Staat sehr viel an, ob die Zahl seiner Bürger groß oder klein sei (Thesaurus totius orbis quadripartitus; zit. n. Mols, 1983, S. 18). Conring ist der erste Vertreter der sog. „akademischen Statistik“; in England geht dem parallel die Begründung der „politischen Arithmetik“ durch John Graunt (1661) und William Petty (1682). Die Kameralistik sieht in einer möglichst großen Bevölkerungszahl die Hauptvoraussetzung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht eines Staates und fördert entsprechende Maßnahmen („Peuplierungspolitik“; Anreize zur Erhöhung der Geburtenraten, z. B. Abgabenfreiheit bei Frühehen, Kinderprämien usw.).

Von der in diesem Umkreis entstehenden Nationalökonomie heißt es bei Hannah Arendt, ihr „wichtigstes wissenschaftliches Rüstzeug“, die Statistik, setze „die Berechenbarkeit menschlicher Angelegenheiten bereits als selbstverständlich“ voraus (Arendt, 1981, S. 42). Als Wissenschaft könne sie sich nur etablieren, weil gegen die tradierten ständischen Rechte und Pflichten „die Gesellschaft ein einheitliches Sich-Verhalten durchgesetzt hatte, dessen Formen man nun erforschen und einheitlich systematisieren konnte, weil alle Unstimmigkeiten als Abweichungen von einer in der Gesellschaft geltenden Norm und daher als asozial oder anomal verbucht werden konnten“ (ebd., S. 42f.). Normalisierung setzt also Individualisierung voraus und bedeutet für Hannah Arendt den „Sieg der Gesellschaft überhaupt“, nach dem „es außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppen schlechterdings nicht mehr gibt“ (ebd., S. 41). Normalisierung als Integration geht nach der Aufweichung der großen Sinndeutungssysteme mit ihren für die Lebensgestaltung verbindlichen Maßstäben aus einer durch die Norm strukturierten Praxis hervor. Eine Norm ist kein absolutes, z. B. göttliches, Ge- oder Verbot, sondern von Menschen erzeugt und ihrem Wesen nach veränderlich. Sie schließt ein, was bis dahin der Ausschließung anheimfiel. Zwar erhält auch die Norm „ihren Sinn, ihre Funktion und ihren Wert daraus, daß es außerhalb ihrer etwas gibt, was dem Anspruch nicht genügt, dem sie selber dient“ (Canguilhem, 1977, S. 163). Aber anders als die Herrschaftsformen im Absolutismus, die den Tod oder die Ausschließung gegen das verhängen, was ihnen sich entzieht, wie es bei Foucault heißt, funktioniert Gesellschaft über die Einschließung, die Integration der Abweichungen in ihren Zusammenhang. Für die Norm ist daher charakteristisch, daß sie „den der eigenen Geltung nicht unterworfenen Bereich des Gegebenen negativ qualifiziert und doch auf seiner Einbeziehung beruht“ (ebd.).

„Normalisierung“ funktioniert auf der Basis der Ausweitung, aber auch Flexibilisierung des Rechts, besonders seit dem späten 19. Jahrhundert, als der Staat verschärft in gesellschaftliche Abläufe eingreift. Gehlen spricht vom „Abblassen“ der Gesetze zu bloßen Verkehrsregeln (Gehlen, 1957, S. 57). Da „der Staat vorsorgend, verteilend und verwaltend in die Gesellschaftsordnung eingreift … nehmen [die Gesetze] … oft schon den Charakter verwaltender Detaildispositionen an; der Unterschied von Gesetz und Maßnahme wird unscharf … die Kompetenzen der Verwaltung [erweitern sich] derart, daß deren Tätigkeit kaum mehr als bloßer Gesetzesvollzug gelten darf … [der Begriff des Gesetzes verliert] die Merkmale der Allgemeinheit und Wahrheit …“ (Habermas, 1979, S. 214 ff.). Man kann diese Entwicklung bei Foucault wiederfinden, wenn er in der Analyse moderner Herrschaftsmechanismen das „Modell des Gesetzes“ durch „ein strategisches Modell“ ablösen will, in das dann auch politisch nicht legitimierte regulative Kompetenzen gesellschaftlicher Eigendynamiken eingehen (Foucault, 1979, S. 124).

Die Norm repräsentiert dieses „strategische Modell“. Sie ist das buchstäbliche Maß aller Dinge in einer Welt, die sich nicht mehr in gut und böse scheidet, sondern durchgreifend quantifiziert. Sie ist in eben dem Maß Ausdruck einer fehlenden Verbindlichkeit gesellschaftlicher Ordnung, wie sie dieser Ordnung neue Regeln und Sinnbestände verleiht (vgl. Canguilhem, 1977, S. 161 ff.). Dabei bezieht sie ihre Kriterien und Standards aus der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung selbst, und dieser Wegfall feststehender ethischer Kriterien ist die Bedingung ihrer Flexibilität und Effizienz. Er erlaubt die Einholung aller möglichen Sachverhalte in ihren Geltungsbereich. Man hat den Wegfall von Dichotomien wie krank/gesund, normal/anomal als Emanzipation von einer Diskriminierung der Abweichungen angesehen. Die Folge ist aber, daß der flexiblen Qualifizierung niemand mehr entkommen kann, was gleichbedeutend damit ist, daß es niemanden „außerhalb“ von Gesellschaft mehr gibt. Eine Norm bildet ein Kontinuum, aus dem man nicht herausfallen kann. Auch die größte Abweichung ist nur eine Entfernung von Mittelwerten und immer schon von Strategien der Wiederannäherung belagert. Damit aber wird Normalität selbst zur Abweichung. Es wird zur lebensgeschichtlichen Aufgabe, eine „Normalität“ zu bewahren oder zu erlangen, die als vorläufig nicht schädigender Grad einer Abweichung definiert ist.

Dieser Umstand ist gleichbedeutend mit einer instrumentellen Regulation sozialer Integration. Das heißt zum einen, daß sich sozialpolitische und psychosoziale Intervention weniger auf den Tatbestand einer außer-ordentlichen Pathologie richten als vielmehr auf Ordnung selbst, auf „eine Organisierung des Alltagslebens“, „auf das gesamte soziale Leben“ (Castel, Castel & Lovell, 1982, S. 344ff.), auf die „Konstruktion der durchschnittlichen gesellschaftlichen Subjektivität überhaupt“ (v. Kardorff & Koenen, 1981, S. 240). Frühere Prozesse alltäglicher intimer und sozialer Identitätsbildung müssen als labile und variable Plazierung im Kontinuum der Norm gesondert inszeniert werden. „Gesondert“ heißt zum zweiten gleichsam „künstlich“, eben technologisch: Normalitätsproduktion basiert auf dem Einsatz verselbständigter Mittel und Prozeduren, die keiner politischen Willensbildung entstammen, sondern sich umgekehrt einem Aggregat gesellschaftlicher Techniken und Praktiken verdanken, von denen es in den Interventionen an Menschen nur so wimmelt, etwa im psychosozialen Bereich, für den allerorten die fehlende Anbindung an eine die Praktiken leitende Theorie beklagt wird, deren Fehlen aber gerade eine der Bedingungen seiner Konjunktur darstellt.

Diese technologische Normativität kennzeichnet auch die Praxis sozialstaatlicher Kompensation, die die befreite Selbstbewegung des Kapitals nicht eindämmen, sondern angesichts deren kontraproduktiver Nebenfolgen Schadensbegrenzung leisten will. „Kompensationsmechanismen für die spezifischen Risiken und Diskriminierungen industriekapitalistischer Vergesellschaftung“ (Sachße, 1990, S. 9) sollen Gesellschaft zusammenhalten, in materieller Hinsicht, als Kompensation der systemisch bedingten Benachteiligungen, wie in „ideeller“ bzw. „psychosozialer“ Hinsicht, als Kompensation der Verluste an Ressourcen kollektiver Identitätsbildung und verbindlicher Sinnstiftung. Als die ökonomisch vermittelte Selbstregulation der Gesellschaft zur berühmten „socialen Frage“ des 19. Jahrhunderts führt, werden die den aufgelösten hauswirtschaftlichen Lebensformen eigenen Formen kollektiver Subsistenz- und Identitätssicherung zu politischen Funktionen i. S. versachlichter Staatsaufgaben, für deren Bewältigung spezifische Institutionen und Instrumentarien geschaffen werden müssen. Diese verfügen über keine verbindlichen Sinn-Kriterien mehr, da alle ethischen Bindungen des alten Politik-Begriffs gefallen sind und sich aus den gesellschaftlichen Eigendynamiken keine neuen ergeben. Vorher „lebensweltlich“ verankerte materielle wie psychosoziale Ressourcen werden zunehmend „technisch“ geregelt und gehen in den Bereich öffentlicher (staatlich-rechtlicher oder gewerblicher) Zuständigkeiten und Dispositionen über.

Solche politisch-rechtlichen Reglementierungen gesellschaftlicher Zusammenhänge beschränken sich nicht auf eine abgrenzbare staatliche Sphäre; der Staat selbst zieht in Gestalt von Staatsbetrieben und Dienstleistungsinstitutionen, in Deutschland etwa das staatlich eingesetzte Sozial- und Krankenversicherungswesen, konkreten Anteil an der vormaligen „Privatsphäre“, an sich. Es kommt also nicht einfach nur zu zunehmenden staatlichen Eingriffen, sondern zu Verflechtungen staatlicher und privater Einrichtungen, etwa im Bereich der Medizin oder des Versicherungswesens. Der ganze Sozialstaat besteht im Grunde aus solchen Mischbildungen. Das gesamte Feld sozialer Integration wird zu einer prekären und stets umstrittenen Mischung privater und öffentlicher Aufgaben und Anforderungen. Ein Bereich der Überschneidungen von Staat und Gesellschaft öffnet sich, der die Sphäre persönlicher Intimität zunehmend tangiert und in den durch staatliche wie gewerbliche Dienstleistungen ebenso zunehmend interveniert werden kann. In dieser Grauzone zwischen öffentlich und privat, zwischen Staat und Gesellschaft, agiert die Psychologie.

In dem Maße, in dem politische Normativität sich nicht mehr an den alten Tugendkatalogen ausrichtet, kann sich eine neue Psychologie von der Axiomatik der Metaphysik emanzipieren und sich als Wissenschaft positivieren über die Erkundung der „natürlichen“ Bedingungen, unter denen menschliches Verhalten steht, wobei diese „Natur“ die der Naturwissenschaften sein wird und nicht die der aristotelischen Einheit von Sollen und Sein, und wofür folglich der aus der Physiologie kommende deutsche Experimentalismus des 19. Jahrhunderts (vgl. Lenoir, 1992) die adäquate Methodologie stellt. Die „Proliferation der Psychologie“ (Rose, 1991; vgl. dazu Sonntag, 1995) in alle Ecken und Winkel der Gesellschaft hingegen hängt direkt an der Expansion des gewerblichen wie des sozialstaatlichen Dienstleistungssektors, an der Verbreitung von Institutionen und Interventionen, die die fragil und bedürftig gewordenen Lebens- und Innenwelten der Individuen infiltrieren und zu organisieren versuchen, ein ganzes Arsenal materieller und „ideeller“ Integration, das Donzelot zufolge die „Gesamtheit der Mittel“ und Prozeduren repräsentiert, „die das gesellschaftliche Leben dem materiellen Druck und den politisch-moralischen Ungewißheiten entziehen, … den Mitgliedern einer Gesellschaft einen relativen Schutz gegen ökonomische Fluktuationen bieten, … ihre Beziehungen flexibel und ihre Motivationen überzeugend genug halten, um ein Zerfallen der Gesellschaft aus Interessens- oder Glaubensverschiedenheiten zu verhüten“ (Donzelot, 1980, S. 15f.).

Dem Politischen wird also eine Apparatur „sub-politischer Dienstleistungen“ eingefügt, die nicht Kriterien politischer Gestaltung folgt, sondern gesellschaftlichen Selbstlauf verwaltet, dem sie beständig hinterher ist und dabei die Gestalt einer Politischen Technologie annimmt, die auf „Mittel und Prozeduren“ außerhalb politischer Legitimität angewiesen ist, um die gesellschaftlichen Eigendynamiken nicht gänzlich aus dem Ruder laufen zu lassen. Unter diesen Umständen hat entpolitisierte Subjektivität eine hochgradig politische oder eben sub-politische Funktion. Wie emanzipatorisch und selbstbefreiend die Diskurse und Praktiken von Subjektivität und Psychologie auf der einen Seite sich immer geben mögen, auf der anderen Seite sind sie, wie an der „Entdeckung der Innerlichkeit“ gesehen, immer auch Gegenstand und Medium einer öffentlichen Regulierung sozialer Integration, die die Individuen an sozialtechnologische Kontrollen durch neuartige Institutionen und das Aufkommen zuständiger „Experten“ bindet.

Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist auch das Schicksal der Kleinfamilie. Sie tritt mit der Trennung von Haushalt und Betrieb an die Stelle der familia, der Hausgemeinschaft, zu der manchmal mehrere Generationen, immer aber die Bediensteten gehörten. Der nun vom Arbeitsbereich geschiedene Bereich häuslich-privater Intimität eröffnet ungeahnte psychoproduktive Ressourcen. Die an den Hausstand gebundenen Definitionen von Mann und Frau weichen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert allgemeinen charakterologischen Bestimmungen. Die Ehe, bis dahin „der Zusammenschluß von Mann und Frau zum Zwecke der Sexualität, der Kinderaufzucht, des Wirtschaftens und der gemeinsamen Religionsausübung“, wird „in der Epoche der Empfindsamkeit umgedeutet als die in der Liebe vollzogene, vor allem psychische Verschmelzung der Ehegatten“ (Hausen, 1976, S. 372). Mit der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung bilden sich die bis heute nachwirkenden Geschlechtscharaktere heraus; der Mann rational-aktiv-außenorientiert, die Frau emotional-passiv-binnenorientiert; sie hat neben Hausarbeit und Kinderaufzucht vor allem das emotionale Binnenklima der Familie hochzuhalten, ein Klima, das bekanntlich die Blüte der ödipalen Trias hervortreibt, an die Freud unser Schicksal in der Kultur binden will.

Die Kleinfamilie ist aber nicht nur ein Treibhaus für „Subjektivität“ und Intimität, sie ruft auch die Instanzen zur Regulierung dieser Intimität auf den Plan. Als sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Kluft zwischen Arbeits- und Privatbereich durch die weitere Versachlichung der Arbeitsverhältnisse und die Entwicklung der industriellen und der bürokratischen Großbetriebe vergrößert, kommt es, so Habermas, zur „fortschreitenden Ausgliederung“ der Familie „aus dem Funktionszusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit“. „Mit der Einbuße ihrer Basis, mit der Ablösung des familialen Eigentums durch individuelle Einkommen, verliert die Familie über ihre Funktionen in der Produktion … hinaus auch diejenigen für die Produktion [sowie] die Möglichkeit der Selbstversorgung im Falle eines Notstandes und der Eigenvorsorge für das Alter“ (Habermas, 1979, S. 187). Von nun an befördern sich die vielbeschworene „Krise der Familie“ und der sozialpolitische Kompetenzzuwachs des Staates gegenseitig. Dabei bleibt es nicht bei der sozialstaatlichen Kompensation materieller Risiken, es kommt zur direkten Sozialisation durch Gesellschaft. Denn die ideellen Ressourcen der Familie waren an ihre materiellen gekoppelt. „Mit den Funktionen der Kapitalbildung verliert … die Familie zunehmend auch Funktionen der Aufzucht und der Erziehung, des Schutzes, der Betreuung und Anleitung, ja elementarer Traditionen und Orientierung; sie verliert verhaltensprägende Kraft überhaupt in Bereichen, die in der bürgerlichen Familie als die innersten Höfe des Privaten galten“ (ebd., S. 188). Im Zusammenwirken ökonomischer Zwänge, individueller Krisenlagen und sozialpolitischer Interventionen öffnet sich „Familie“ nahezu restlos staatlichen Zugriffen und kommerziellen Interessen.

 

5. Regulierte Identität


An die Stelle tradierter, alltäglicher Ressourcen der Identitätsbildung treten eigene, sich immer weiter ausdifferenzierende Institutionen und Expertensysteme, die unabhängig vom guten oder schlechten Willen der Beteiligten Formen sozialer Technologie darstellen. Sie zielen weniger auf Inhalte als auf die instrumentelle Sicherung von individueller Funktion und gesellschaftlicher Ordnung. Alle inhaltlichen Bestimmungen – welche Subjektivität, welche Identität, welche Wahrheit zeichnet mich als besonderes Individuum aus? – sind nur Platzhalter für den Prozeß der Individualisierung selbst. Die große Diskursivierung der Inhalte, von der Selbstthematisierung über die Identitätsarbeit bis zum Körperkult, zeigt gerade die Flüchtigkeit und Variabilität der konkreten Bestimmungen. Es handelt sich um eine Form sozialer Integration, die als Prozeß der Besonderung und Individuation auftritt, aber nur die Verpflichtung der einzelnen auf die Hervorbringung ihrer ganz persönlichen kleinen Wahrheiten betreibt, als autonome oder auch nur flexible Subjekte, in jedem Fall aber als Individuen mit individueller Verantwortung für ihr Schicksal.

Charakteristisch für eine derart individualisierte Subjektivität scheint mir auch zu sein, was seit einiger Zeit als „multiple“ oder „patchwork-Identität“ kursiert. Ich will mich gar nicht bei der Frage aufhalten, ob eine tatsächliche „multiple Identität“ nicht eher die Auflösung jedweder „Identität“ indiziert. Mich interessiert mehr das Phänomen, wie man gesellschaftlichen Zwängen hinterherstolpern und sie auch noch als Chancen für „neue“ Formen der Individuation verkaufen kann. Die Flexibilität der Individualitätsformen ist für die fortschreitende gesellschaftliche Dynamik unabdingbar geworden. Es mag ja postmodern korrekt sein, das als multiple Identität zu bezeichnen. Früher hätte man von Anpassungsfähigkeit gesprochen und darauf verwiesen, durch welche gesellschaftlichen Anforderungen sie erzwungen wird. Heute verkauft man sie als Chance selbstbestimmten Lebens. Ich halte solche terminologischen Künste für den Versuch, sich sozialtheoretisch noch irgendwie und möglichst tröstlich einzurichten in einer Misere, die man unterschwellig längst für unwiderruflich hält.

Gewiß bietet Gesellschaft einen, vielleicht den einzigen, Möglichkeitsraum für Individuation, indem sie das materielle wie das symbolische Kapital dafür bereitstellt. Aber sie tut dies nur nach ihr eigenen Funktionsgesetzen und dispositionellen Logiken, die insbesondere den Erfordernissen der Kapitalverwertung folgen. Die Individuen müssen ihre historisch ja durchaus erweiterten Handlungsspielräume in erster Linie als Käufer und Verkäufer von Waren (Arbeitskraft, Güter, Dienste) realisieren, auch in den Intermundien der Arbeitsgesellschaft, in der sog. „Freizeit“, im Privatbereich, und sie begegnen sich in dieser Realisierung notgedrungen als Konkurrenten. Dieser Konkurrenz-Status wird in den letzten Jahrzehnten aufs äußerste verschärft durch eine immense Erhöhung der Produktivkraft angesichts der technologischen Modernisierung der Produktion. Diese Entwicklung setzt massiv Arbeitskräfte frei, ebenso wie die Globalisierung des Weltmarkts und die zunehmenden Möglichkeiten der Produktionsauslagerung in Niedriglohnländer. Die resultierende strukturelle Massenarbeitslosigkeit bedroht die finanziellen Grundlagen des Sozialstaates, die auf dem Ideal der Vollbeschäftigung beruhen, was politisch auch noch verschärft wird durch Strategien von Deregulation und Entsolidarisierung. Dieser Rückbau sozialstaatlicher Absicherung führt zur erneuten Belastung privater Instanzen nach dem Subsidiaritätsprinzip, insbesondere der Familie, und er erhöht weiter den Konkurrenz- und Leistungsdruck auf die Individuen.

Neue Qualifikationen sind angesagt, zu denen an erster Stelle Flexibilität gehört. Das heißt, breite Qualifikationsbereitschaft, geringe Bindungen und erhöhte Mobilität, um vielfältig auf verbleibende Möglichkeiten reagieren zu können, auf deren Sein oder Nichtsein man kaum Einfluß hat. Charakteristisch dafür ist das aus größeren Industrie- und Dienstleistungsunternehmen bekannte Phänomen der „kontrollierten Autonomie“. Positionen des mittleren und unteren Managements erhalten vergrößerte Entscheidungsspielräume, ohne auf die Bedingungen Einfluß nehmen zu können, unter denen sie ihre Entscheidungen treffen müssen. Die Gewerkschaften sprechen hier von Leistungsverdichtung, und de facto läuft das darauf hinaus, Mitarbeitern eine erhöhte Verantwortung für die Zielerreichung zuzuschreiben, ohne daß sie auch nur den mindesten Einfluß auf die Zielsetzung nehmen können. Ihre „Flexibilität“ oder „Autonomie“ ist nichts weiter als der Ausdruck dessen, daß Unternehmen variabel auf die immer rascher wechselnden Anforderungen des Marktes reagieren müssen und die dazu notwendigen Leistungen und die Verantwortung auf ihre Angestellten abwälzen. Und von der politisch erpreßten „Flexibilität“ der Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt wollen wir gar nicht erst reden.

Eine neue Variante des altbekannten survival of the fittest steht uns bevor; und fit ist, wer flexibel ist, kreativ und vielseitig verwendbar, politisch nützlich und sozial gut integrierbar, ohne daß dem irgendwelche Gesinnungen im Wege stehen. Das ist Identität als patchwork: Gelehrigkeit als fortdauerndes survival-Training. Es mag für den Sozialwissenschaftler tröstlich sein, diese Biegsamkeit als Füllhorn neuer Chancen auszugeben; die Arbeitgeberverbände tun das ja schließlich auch. Tatsächlich werden solche Verhaltensmuster von einer krisenmobilen Gesellschaft erzwungen; die Funktionalität ihrer Abläufe erfordert sie zumindest von einer breiten Mittelschicht oberhalb des unteren Drittels.

Subjektivität und Psychologie haben selbst sub- oder para-politische Funktion, eingebunden in die komplexen und widersprüchlichen Beziehungen und Aufgabenverteilungen zwischen Staat und Gesellschaft, verflochten mit dem institutionellen Zugriff auf die Gesellschaftsmitglieder wie mit den Zwängen des Marktes. „Institutionalisierte“ Psychologie als Wissenschaft wie Subjektivität als soziales Deutungsmuster stehen für eine soziale Integration, die an die Stelle alltäglicher Ressourcen der Identitätsbildung, aber auch an die einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit getreten ist. Sie bilden ein notwendiges inneres Regulativ einer sich von der tradierten politischen Normativität „emanzipierenden“ Gesellschaft. Diese „Emanzipation“ umfaßt nicht nur die Befreiung vom Untertanenstatus, sondern auch die eines privateigentümlich definierten Staatsbürgers von den politischen Tugenden: Die neuen „Subjekte“ werden zu solchen nicht mehr als Vertreter eines Gemeinwesens, dessen Gestaltung in ihren Händen liegt, sondern als „unpolitische“, privateigentümliche Teilnehmer am Warentausch. An die Stelle der Gestaltung des Gemeinwesens rückt daher zwangsläufig die Maxime individueller Selbstgestaltung. Je unpolitischer aber die schönen Seelen und gestylten Körper der Moderne werden, desto mehr werden sie zum Politikum.

Denn angesichts einer Sub-Politik der ökonomischen Zwänge, die dauernd Revolutionen betreibt, z. B. die technologische, denen wir alle nur hinterherhinken – anything goes –, haben wir, im großen wie im kleinen, die Bedingungen unserer Lebenslagen und -perspektiven nicht mehr in der Hand. Diese Konstellation ist ein Produkt des 18./19. Jahrhunderts und insofern geradezu klassisch modern. „Postmodern“ ist nur die Kunst, es nicht gewesen zu sein, die allgegenwärtige Gnade der späten Geburt, das geschäftige Abwischen der Fingerabdrücke. Denn wenn die Sachen Zwänge ausüben können, dann nur, weil es partout niemanden geben will, der sie erzeugt hat. Sie als von Menschen uneinholbar zu erklären, macht sie zu einer neuen Art von Transzendenz, die sich wieder, wie einst die grausame Natur und unberechenbare göttliche Mächte, mit Zwangsläufigkeit über die Köpfe der Menschen hinweg vollzieht – als automaton. Daher der etwas paradoxe Umstand, daß Politik in den entwickelten Industriegesellschaften vor allem darin besteht, möglichst wenig Politik zu machen. Das macht die Sachzwänge zur self-fulfilling prophecy.

Sind wir also wieder beim automaton angelangt, und damit in die Zeit des griechischen Mythos’ zurückgekehrt, finden wir dort vielleicht Antwort auf die Frage, wo die politischen Tugenden geblieben sind. Der Sophist Protagoras erzählt im gleichnamigen platonischen Dialog (Protagoras 320c-323a: Platon, 1957, S. 61-64), Zeus hätte den Götterboten Hermes damit beauftragt, die politischen Tugenden unter die Menschen zu verteilen. Hermes aber ist, neben vielen anderen ihm zugeschriebenen Beschäftigungen [12], der Gott der Kaufleute und Diebe, und er ist selbst ein meisterlicher Dieb. Als er noch in den Windeln liegt, entwendet er seinem Bruder Apollon bereits eine ganze Rinderherde. Zwar ist nicht sicher, ob der Diebstahl der Rinder und das Verschwinden der politischen Tugenden in ursächlichem Zusammenhang stehen. Das aber wäre immerhin eine Erklärung dafür, daß das Herdenvieh zum Symbol der politischen Gleichheit hat werden können.

* Colloquium vom 13.06.1996

 

Anmerkungen

[1] Freie Nichtbürger, die den Großteil des Handels, Gewerbes und der freien Berufe ausüben.

[2] Aristoteles unterscheidet theoretische und praktische Philosophie gemäß dem Unterschied zwischen physis und nómos, Natur und Gesetz, also zwischen dem, was unabhängig vom Menschen existiert, und dem, was menschlich gemacht ist.

[3] Mit Ausnahme der mittelalterlichen Gemeindebildung in Stadt und Dorf, wo gerade die „Arbeit“ als Kaufmann oder Zunftmitglied bzw. Bauer die vollwertigen Gemeindemitglieder auszeichnet.

[4] Inzwischen spricht Grimm von expliziten „Aushandlungssystemen“. Der Staat erledige eine Reihe seiner Aufgaben nicht mehr durch Gesetze und Anordnungen, sondern handele seine Politik mit Unternehmen und Verbänden aus. Sie machen Verhaltenszusagen, im Gegenzug verzichtet der Staat auf gesetzliche Regelungen etwa in der Umweltpolitik. Parlament und Bürger bleiben außen vor; auch gerichtliche Kontrolle ist nicht möglich (Frankfurter Rundschau vom 23. 12. 94, S. 4).

[5] Als instruktive Darstellung der Intentionen Hegels und des Deutschen Idealismus vgl. man demgegenüber Sturma (1991).

[6] „Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. … Der Prozeß, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozeß des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel.“ (Marx, 1962, S. 742)

[7] Daß aus dem Oikos-Despoten als verkörpertem Prinzip von Herrschaft der biedere „Hausvater“ werden konnte, wie wir ihn vor allem aus der „Hausväter-Literatur“ des 17. und 18. Jahrhunderts kennen, hat damit zu tun, daß die Blüte dieser Literaturgattung in eine Zeit fällt, in der zum einen die Landesherrschaft längst begonnen hat, in die „hausväterlichen“ Rechte einzugreifen und den eigentlichen Kern der Hausherrschaft, die hausherrliche Munt, zu beschneiden, in der zum anderen das Moment des Herrschaftlichen an der Hausherrenrolle durch die Gefühligkeit der neuen, zunächst religiösen, dann bürgerlich-sentimentalen Innerlichkeit ergänzt und tiefgreifend moderiert wird. „Das Wort ‘Hausvater’ war aber im 16. und 17. Jahrhundert durch die Bibelübersetzung Martin Luthers jedermann vertraut. Hier gibt es den ‘oikodespotes’ des neutestamentlichen Griechisch, den ‘pater familias’ der Vulgata wieder [Matt. 20,1]. Wenn vom ‘Hausvater’ die Rede ist, hat man an den hellenistischen ‘oikodespotes’, an den ‘pater familias’ des römischen Rechts und an den ‘Wirt’ mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Rechtsquellen und nicht an den ‘sentimentalen’ Familienbegriff des 18. Jahrhunderts zu denken“ (Brunner, 1980, S. 112).

[8] Den Begriff Charakter gab es hier auch, aber als Prototypus einer sozialen Rolle, die sich über Herkunft, nicht über individuell zurechenbare Eigenschaften definierte.

[9] Adam Ferguson (1723-1816), u. a. Prof. für Pneumatik und Moralphilosophie in Edinburgh: An Essay on the History of Civil Society (1767 [Reprint: 1971]); Principles of Moral and Political Science (1792 [Reprint: 1975]).

[10] So in An enquiry into the principles of political oeconomy (1767). In der schottischen Moralphilosophie wird die Ökonomie als Lehre vom Haus zunächst noch getrennt vom Naturrecht dargestellt, aus dem dann Markt- und Preislehre auf vertragstheoretischer Grundlage entwickelt werden. So heißt es bei Steuart (1712-1780) noch: „What oeconomy is in a family, political oeconomy is in a state.“

[11] So der „psychologische Roman“, den Arnold Gehlen (1957, S. 58) als die „eigentlich repräsentative Kunstform der westlichen Welt“ bezeichnet hat, oder die vielen, meist von vornherein zu Zwecken der Veröffentlichung verfaßten Briefe. Vgl. Sonntag, 1989.

[12] Er ist u. a. der Gott der Reisenden und Wanderer, und als Hermes psychopompos geleitet er die Seelen ins Jenseits.


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