Pädagogische Theoriebildung und Narrativität

HANSJÖRG NEUBERT


Pädagogische Theoriebildung und Narrativität*

 

Seit einigen Jahren führe ich im Rahmen der Ausbildung von Pädagogen und Lehrern an der Freien Universität Berlin Veranstaltungen zur „Einübung in pädagogisches Verstehen“ durch. In diesen Veranstaltungen, in denen es um selbstreflexives und biographisch orientiertes Lernen geht, spielt das Erzählen und die Reflexion eigener Erziehungsgeschichten eine große Rolle.

In den folgenden Überlegungen geht es um die Frage, inwieweit dieser narrative Zugang geeignet ist, in pädagogisches Sehen und Denken einzuführen und eine besondere Form selbstreflexiver Theoriebildung darstellt.

 

I

Die pädagogische Theoriebildung zielt auf Einsicht in die Erziehungswirklichkeit. Die Rede von der Erziehungswirklichkeit ist aber nur dann unbedenklich und erliegt keinem objektivistischen Fehlschluß, wenn die sprachliche Vermitteltheit dessen, was wir so leichthin als Erziehungswirklichkeit bezeichnen, immer mitgedacht wird. Die Sprache ist die wohl entscheidendste Voraussetzung, daß wir mit der Welt in eine Erkenntnisbeziehung eintreten, über sie reflektieren, sie verstehen und uns über sie verständigen können. Das, was als Erziehungswirklichkeit überhaupt erkannt wird und vor allem welche Konturen der Erziehungswirklichkeit weiterer theoretischer Betrachtung zugeführt werden, hängt entscheidend davon ab, in welcher Weise wir über diese Wirklichkeit reden und sie uns als solche immer wieder neu erschließen.

Die folgenden Überlegungen sind der Versuch, eine Form des Redens über die Erziehungswirklichkeit zu beleuchten, die die alltäglichen pädagogischen Deutungs- und Orientierungsbemühungen, die lebensgeschichtliche Befangenheit sowie die Stimmung und Gestimmtheit der erzieherischen Situation, kurz, das Pathos des erzieherischen Umgangs schärfer in den Blick rückt. Ich spreche von der Narrativität.

In der alltäglichen Erziehungspraxis sind narrative Verstehens- und Klärungsversuche pädagogischen Handelns gang und gäbe: Man erzählt sich Geschichten über schwierige, problematische, klärungsbedürftige, aber auch über gelingende pädagogische Situationen. Erziehungsgeschichten, Schülergeschichten, Lehrergeschichten usw. sind aus dem pädagogischen Alltag nicht wegzudenken und bilden eine unerschöpfliche Quelle von Einsichten, Reflexionen und Hilfen.

Im wissenschaftlichen Handeln dagegen sind Narrationen selten. Wissenschaft vollzieht sich im wesentlichen über den argumentativen Diskurs, der – und das ist gerade in den Erziehungswissenschaften eine häufige Kritik – lebensweltliche Bezüge und vor allem Handlungsrelevanz vermissen läßt.

Ich hoffe, in einer Zeit zunehmender Distanz der erziehungswissenschaftlichen Forschung von der pädagogischen Alltagspraxis, in einer Zeit zunehmender Abstraktion der pädagogischen Sprache zeigen zu können, daß über die Narrativität theoretisch wieder etwas von jener Gestaltenfülle in den Blick gerät, die das alltägliche Erziehungsgeschäft so vielschichtig, aber zugleich auch so schwierig macht.

 

II

Zunächst einige allgemeine Hinweise zur Narrativität selbst und ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung: Das für die Narrativität maßgebende „Sprachspiel“ sind Geschichten bzw. das Geschichtenerzählen. Geschichten sind Deutungen der Lebenswelt. Ihnen liegt das Bedürfnis zugrunde, Erfahrungen einen Sinn zu geben , sie besser zu verstehen und mit schon früher gemachten Erfahrungen zu verbinden. Im Erzählen von Geschichten wird gelebtes Leben ausgelegt und (neu) verstanden. Das Alte erscheint in neuem Licht, wird umgedeutet, gewinnt neue Aspekte und Wertigkeiten, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Sinngebung und Bewältigung der aktuellen Lebenssituation.

Den Begriff „Narrativität“ werde ich sehr weit fassen: Ich verstehe darunter alle Formen des mündlichen Geschichtenerzählens, aber auch alle literarischen Erzählgattungen wie den Roman, die Biographie, die Parabel, die Kurzgeschichte, das Märchen usw. Oder um es pädagogisch-konkret zu sagen: Die Geschichten, die von den tagtäglichen Erziehungserfahrungen, vom pädagogischen Umgang und dessen Problemen erzählen, gehören ebenso zur Narrativität wie der Bildungsroman, die pädagogische Erzählung und die Schriften von u.a. Pestalozzi, Makarenko oder Korczak.

Wenn ich im folgenden über pädagogische Theoriebildung und Narrativität spreche, dann steht die erkenntnistheoretische Fragestellung im Vordergrund, also die Frage, ob die Narrativität geeignet sein könnte, das herrschende, weitgehend szientistische Paradigma der pädagogischen Theoriebildung durch ein erfahrungsoffenes und potentiell selbstreflexives Paradigma zu ergänzen, in dem die eigenen Lebens- und Erziehungsgeschichten und das alltägliche pädagogische Umgangswissen und Können zum Ausgangspunkt pädagogischen Denkens gemacht werden können. Oder anders gewendet: Es stellt sich die Frage, ob die Narrativität die methodologische Chance bietet, Lebenszusammenhänge von Personen und Erkenntniszusammenhänge von Wissenschaft miteinander zu verbinden und die durch den Szientismus hervorgerufene Trennung von Erfahrungswissen und theoretischem Wissen im Akt der Selbstreflexion aufzuheben und zugleich die Chance bietet, über konkrete Lebens- und Erfahrungsbezüge Engagement, Nachdenklichkeit und professionelle Phantasie anzuregen, ohne die eine Einübung in pädagogisches Verstehen, in die „réflexion engagée“, nicht möglich ist. Gerade jene „réflexion engagée“, die in der Theorie die Verantwortung für die erzieherische Praxis grundsätzlich mitdenkt und auf den für die pädagogische Tradition bedeutsamen Topos des „pädagogischen Taktes“ verweist, sollte aber für das erziehungswissenschaftliche Denken maßgebend sein.

 

III

Ich möchte eine knappe und eher phänomenologische Beschreibung der Erziehungswirklichkeit bzw. ihrer Vielschichtigkeit und Gestaltenfülle geben, die die Richtung weist für die weiteren Überlegungen.

Die Erziehungswirklichkeit ist ein höchst vielgestaltiges und dynamisches Feld, das sich aus einer Vielzahl miteinander verwobener und rasch wechselnder Situationen zusammensetzt. Diese Situationen werden zum Teil geplant, zum Teil ereignen sie sich, treten überraschend auf, wechseln ihren Charakter und vergehen ebenso schnell, wie sie gekommen sind – nicht jedoch ohne ihre Spuren hinterlassen zu haben. Die psychosoziale Dynamik des Erziehungsfeldes geht einher mit seiner Undurchschaubarkeit. Das Erziehungsgeschehen ist unentwirrbar, mehrschichtig, mit zum Teil paradoxen Gefühls- und Handlungsaspekten. Vergangenes und Unerledigtes mischt sich mit Gegenwärtigem, alte Geschichten, alte Themen tauchen plötzlich auf und bilden die Inszenierungsmuster für das Heute – dies alles aber höchst diffus, unwägbar und unscharf. Auch die Ausdrucksformen von Erziehung sind gleicherweise vielschichtig, schillernd und sprunghaft. Da verflechten sich gezielte Absichten mit plötzlichen Affekten, die geplante Aktion mit dem zufälligen Geschehen. Wie sich in diesem Labyrinth zurecht finden? Wie diese Gestaltenfülle verstehen?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht das rasche „Auf-den-Begriff-Bringen“, die terminologische Zusammenbündelung, die den Blick trübt für die ungeheure Erfahrungs- und Affektvielfalt, die sich unter dem Begriff „Erziehungswirklichkeit“ verbirgt. Hier bedarf es einer eher begriffslosen, impressionistischen und erfahrungsoffenen Denk- und Redeweise, die die subjektiven Anteile des Erziehungsgeschehens gleicherweise nachzeichnen kann, wie dessen umwegige, verwickelte und transitorische Struktur. Und die zugleich geeignet ist, pädagogisches Alltagswissen, professionelle Phantasie und Selbstreflexion in das pädagogische Theoretisieren zurückzugewinnen. Ich meine die Narrativität.

An vier Aspekten will ich aufzuzeigen versuchen, welche Bedeutung die Narrativität für eine so verstandene pädagogische Theoriebildung haben könnte.

 

IV

1. Narrativität und teilnehmendes Verstehen

„Ich möchte das Leben in all seinen Äußerungen verstehen und nicht ausschließlich den Logos des wissenschaftlichen Denkens erhellen.“ Dieser Satz von Erich Rothacker, der in der Einleitung zu seinem letzten großen Werk „Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins“ [1] steht, knüpft an ein Thema an, das über Diltheys Aussage „Hinter das Leben kann die Erkenntnis nicht zurückgehen“ [2] bis hin zu Wagenscheins Ausruf „Rettet die Phänomene!“ [3] die geisteswissenschaftlich-pädagogische Forschung immer wieder umtreibt: Es ist die Differenz von Leben und Erkenntnis. Wenn diese Differenz auch unaufhebbar ist, so ist es doch Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Forschung und vor allem der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, soweit sie sich als eine praktische Handlungswissenschaft begreift, die jedem wissenschaftlichen Handeln eigene distanzierende Abstraktion und Lebensferne durch eine möglichst enge Fühlungnahme mit der Wirklichkeit in Grenzen zu halten. Die Pädagogik muß sich um eine – wie es Horst Rumpf ausdrückt – „nicht-distanzierende Weltvergegenwärtigung“ [4] bemühen, die in teilnehmendem Verstehen die existentielle Befangenheit und das Pathos des gelebten Lebens wenn auch nicht wiedergeben kann, so doch zumindest aufscheinen läßt.

Vieles, was Erziehung ausmacht, entzieht sich strenger Begrifflichkeit und ist analytisch nicht zu fassen: Die Erfahrung von Freude, Leid, Fröhlichkeit, Verlassenheit, Gewalt, Nähe, Vertrautheit, Macht, Mitgefühl, Aufmerksamkeit usw. Diese Erfahrungen dürfen wegen bestimmter methodologischer Vorentscheidungen und eines abstrakt-wissenschaftlichen Sprachreglements aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung nicht herausfallen, da ohne sie das Erziehungsgeschehen und dessen existentielle Dramatik nicht verstanden werden kann. Sie müssen vielmehr in teilnehmendem Verstehen zur Sprache kommen, über eigene Erinnerungen und Erfahrungen bewußt gemacht und aufgeklärt werden. Hierzu bedarf es der Wiederbelebung einer der elementarsten Formen des Sich-gegenseitig-Mitteilens und des Sich-über-etwas-Verständigens: dem Erzählen von Geschichten. Allein das Geschichtenerzählen ist teilnehmende, empathische Rede, in der die Lebenswelt bedeutungsvoll aufscheint und in der die genannten existentiellen Erfahrungen ihre biographischen Konturen und subjektiven Wahrheiten bekommen. In seiner Büchner-Preis-Rede 1973 sagt Peter Handke: „Wenn ich jemandem Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Geduld beibringen will, befremde ich ihn nicht mit der abendländischen Logik, sondern versuche ihm zu erzählen, wie es mir selbst einmal ähnlich erging…“ Müssen also die Dichter sagen, was Erziehung ist? Mit dieser bezeichnenden Frage überschreibt Jürgen Ölkers seinen brillanten Essay, in dem er im Anschluß an Handkes „Kindergeschichte“ auf die möglicherweise nur poetische Zugänglichkeit der – so Handke – „Großen Wörter“ der Erziehung wie „Vertrauen“, „Sorge“, „Not“, „Verlassenheit“ hinweist [5]. Über Formen jener poetisch-narrativen Zugänglichkeit und vor allem über entsprechende Gütekriterien narrativer Reflexion wäre in diesem Zusammenhang weiter nachzudenken.

2. Narrativität und die Kultivierung pädagogischer Wahrnehmung

Vor allem pädagogischen Verstehen, vor allem pädagogischen Tun liegt die Kunst der Wahrnehmung, das richtige Beobachten, das Sich-Vertrautmachen mit der Situation. Die Einübung in pädagogisches Sehen, in die Kunst pädagogischer Wahrnehmung tut not. Erziehung läuft fehl, wenn der pädagogische Blick ungeübt ist. Die Wahrnehmung von Fakten, Sachverhalten, Tatsachen ist zu wenig. Die Nuancen, Schattierungen, das Angedeutete, die Stimmung müssen erkannt werden. Die eher generalisierende pädagogische Wissenschaft gibt hier wenig Hilfe. Ihre Sprache ist durch eine seltsam hermetische Begrifflichkeit, durch eine seltsame Weltflucht geprägt, die sich ausschließlich von der argumentativen Logik her begründet. Alles Bewegliche, Tastende, Vorläufige, Anschauliche, das die Qualität gerade der praktisch-pädagogischen Erkenntnis auszeichnet, ist dieser Sprache fremd. Sie ist klassifikatorisch, systematisierend und neigt zum analytisch-distanzierenden Blick.

Die vorzeitige Anstrengung des Begriffs deformiert jedoch die Reichhaltigkeit der Phänomene und verstellt den Blick für die Gestaltenfülle der Erziehungswirklichkeit und vor allem für die Vorwissenschaftlichkeit allen erzieherischen Tuns. Was für den theoretischen Diskurs nützlich ist, ist hinderlich für den lebendigen Umgang, für die Kultivierung pädagogischer Wahrnehmung und Einbildungskraft. Im 1. Buch der „Nikomachischen Ethik“ schreibt Aristoteles: „… es kennzeichnet den Gebildeten, in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zuläßt.“ [6] Mir scheint, daß gerade die Erziehungswissenschaften einem „ungebildeten“ Präzisierungs- und Exaktheitszwang verfallen sind, der die lebendigen Phänomene und die transitorische Wirklichkeit in ihrer Kontingenz, Gestaltenfülle und Subjektivität nicht erfassen kann.

Nicht, daß hier verschwommener Begrifflichkeit und argumentativ nicht einklagbaren Sprachspielen das Wort geredet wird – aber die Kunst der pädagogischen Wahrnehmung ist nicht eine Frage begrifflicher und argumentativer Logik, sondern hängt wesentlich damit zusammen, inwieweit die Sprache die Sache zur Anschauung bringt. Anschauung – die Etymologie wie die Begriffsgeschichte weisen darauf hin – hat etwas mit Schau, Kontemplation, Weilen und Verweilen zu tun – ist also eine Form des gestalthaften und die Sache immer wieder umkreisenden Betrachtens, die um so wichtiger ist, je mehr die Sache sich dem raschen Zugriff entzieht, je vieldeutiger, vielschichtiger, unabgeschlossener, ja brüchiger sie ist. Und was kann man anderes vom pädagogischen Tun behaupten?

In der Narrativität gewinnen Anschauung und die mit der Anschauung einhergehende didaktische Kategorie „Anschaulichkeit“, sowohl in ihrer intellektuellen wie vor allem auch sinnlich-ästhetischen Form, eine eigene Qualität. Da ist einmal die Konkretheit und Anschaulichkeit der erzählenden Sprache. In ihr gibt es nichts Abgehobenes, dem Leben Fernes, keine gespreizte Begrifflichkeit. Die erzählende Sprache ist einfach, lebendig und verständlich. Die Worte haben den Bezug zum alltäglichen Leben noch nicht verloren. Man kann in ihnen seine eigenen Worte und die eigene Sprache wiederfinden. Niemals verläßt diese Sprache das Greifbare, Bildhafte, Sinnliche – oder es ist schlechtes Erzählen. Erzählen ist Reden und Denken in Anschauung.

Allein das Narrative ist von seinem sprachlichen Formenreichtum und seinem assoziativ-sinnstiftenden Gehalt das geeignete Medium, um die lebendige Gestaltenfülle, das Atmosphärische, die Schattierungen und subtilen Nuancen der Erziehungswirklichkeit zum Ausdruck zu bringen und damit in pädagogisches Sehen einzuüben. Dem Geschichtenerzählen eignet der physiognomische Blick. Ereignisse werden lebendig, Szenen tauchen auf. Aus dem diffusen Phänomen „Erziehung“ werden plötzlich sehr konkrete Geschichten, in denen Menschen und Situationen Konturen gewinnen. Die Stimmung, das Detail, die kleinen Dinge und Vorfälle, das, was der französische Soziologe Michel Maffesoli treffend als die „respiration sociale“ [7] bezeichnet, kann nur erzählend bedacht und gedeutet werden. Und die erzählten Geschichten rufen wieder andere Geschichten in Erinnerung, mit neuen Sichtweisen und neuen Deutungen und alle diese Geschichten tasten die (nie auszulotende) Physiognomie der Erziehungswirklichkeit immer wieder neu ab, lassen aufmerken und Merkwürdiges aufspüren. In diesem Sinne schreibt Rumpf: „Ich bemühe mich, über das Aufschreiben von Geschichten das Flüchtige, das Passierende, das Wirbelige, das Mehrdeutige erziehungsbedeutsamer Geschehnisse präsent zu halten, weil ohne solche Präsenz das Nachdenken und Forschen leicht zur Scholastik wird…“ [8]

Die Kultivierung der pädagogischen Wahrnehmung ist die Kunst des Denkens in Geschichten, des „fabelnden Denkens“, so wie es Ernst Bloch in seinem Werk „Spuren“ für das philosophische Denken in unnachahmlicher Weise vorführt: „Kurz, es ist gut, auch fabelnd zu denken. Denn so vieles eben wird nicht mit sich fertig, wenn es vorfällt, auch wo es schön berichtet wird. Sondern ganz seltsam geht mehr darin um, der Fall hat es in sich, dieses zeigt oder schlägt er an. Geschichten dieser Art werden nicht nur erzählt, sondern man zählt auch, was es darin geschlagen hat oder horcht auf: was ging da. Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, das sonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schon ist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Beispiele. Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu erzählen wäre …“ [9]

Gegenüber einer allzu verfrühten methodischen Exaktheit und begrifflichen Fixierung dient das Narrative der Kultivierung pädagogischer Wahrnehmung und ist die Voraussetzung für eine leibgebundene, nicht distanzierende Selbst- und Welterfahrung, in der die für den Pädagogen so wichtigen ästhetischsinnlichen Erkenntnisweisen wie Imagination, Phantasie, Einbildungskraft ihren Platz haben.

3. Narrativität und Umgangswissen

Das konkrete erzieherische Handeln steht unter hohem Handlungsdruck. Rasch wechselnde Situationen müssen rasch bewältigt werden und zwar in pragmatisch-kluger wie in pragmatisch-verantwortlicher Hinsicht. Das für ein derart kontingentes Handeln notwendige Wissen ist nicht das theoretische Wissen, sondern ein Umgangswissen, das in eigenen Erziehungserfahrungen, intuitiven Einsichten, gesellschaftlichen Wertvorstellungen, theoretischen Relikten, Routinen, ja simplem Rezeptwissen wurzelt. Dieses Umgangswissen ist, wenn man will, gelebtes Wissen, das, gleichsam mimetisch, die ursprüngliche Vielgestaltigkeit und Breite der täglichen Erziehungsarbeit widerspiegelt und diese handlungsmäßig verfügbar macht.

Es ist nicht verwunderlich, daß eine Wissensform von derart subjektiver, situativer und z. T. diffuser Qualität in der wissenschaftlichen Pädagogik wenig Platz hat. Um der diskursiven Logik zu gehorchen, filtert man aus dem Erfahrungswissen alle subjektiven und wertenden Anteile, trennt den Entdeckungs- vom Begründungszusammenhang und blendet alle Erkenntnisquellen aus, die sich nicht dem Schema von Intersubjektivität und Generalisierbarkeit fügen. Das damit einhergehende Theorie-Praxis-Problem ist bekannt.

Im Kontext des herrschenden Wissenschaftsparadigmas ist dieses Problem nicht zu lösen. Es bedarf vielmehr eines erweiterten, also erfahrungsoffenen Wissenschafts- und Rationalitätsbegriffs, der auch dem Umgangswissen Raum gibt, ja dieses zu einer genuin pädagogischen Wissensform erklärt.

Dieser Gedanke ist nicht neu. In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, vor allem bei Hermann Nohl, fand er seinen Ausdruck in dem Gegensatzpaar Wissenschaft versus Kunde. Die Kunde im Unterschied zur Wissenschaft und zur Information ist teilhabendes und teilnehmendes Wissen, das in lebendiger Anschauung Einsicht gibt in Lebenszusammenhänge und subjektive Deutungs- und Handlungsmuster. Es ist ein Umgangswissen, das im alltäglichen Leben gewonnen, immer wieder geübt und erprobt wird und durch seine Lebensnähe, Leibabhängigkeit und direkte Verfügbarkeit praktische Handlungsrelevanz besitzt. Voraussetzung für die Erziehung – so Herrman Nohl – ist „…die tiefe und allseitige Anschauung der Wirklichkeit des Kindes…aller seiner Beziehungen zu Vater, Mutter und Geschwistern, seiner Lebenslage, des Schicksals unter dem es steht, der Erlebnisse, die es gehabt hat, der Begegnungen mit ihren Folgen. Das ist etwas ganz anderes als bloß ‚psychisches Geschehen‘“ [10].

Die Kunde, die über die Nohlsche „pädagogische Menschenkunde“ im engeren Sinne hinausgeht und die erzieherische Situation als ganze einschließt, hat aber eine narrative Tiefenstruktur und aktualisiert sich in Geschichten. Geschichtenerzählen ist keine gleichsam durch die Fotolinse vorgenommene Chronik des Geschehens, über das sachlich informiert wird. Es ist vielmehr befangenes, sich selbst versicherndes Sprechen, aus Sorge um das Gelingen und aus Handlungsnot geboren. Die Geschichten rekonstruieren ein problematisch gewordenes Stück Lebenswirklichkeit in pragmatischer Absicht. Als solche geben sie – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Denkanstöße, praktische Ratschläge, Orientierungen. Kurz, sie geben Kunde. Und sie geben den guten Rat. Walter Benjamin schreibt in seinem Erzähler-Essay: „Die Ausrichtung auf das praktische Interesse ist ein charakteristischer Zug bei vielen geborenen Erzählern… [Die Erzählung] führt, offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein andermal in einer praktischen Anweisung, ein drittes Mal in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel. In jedem Fall ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß.“ [11]

Die Kunst des Geschichtenerzählens zeigt sich darin, wie sie den guten Rat erzählend anbietet. Keine gute Geschichte, kein guter Erzähler werden sich je zu einem einfachen „du sollst!“ hinreißen lassen. Das Dogmatische ist der Geschichte fremd. Die Handlungsregel, die Moral, die Weisheit der Geschichte entfalten sich allmählich, verdichten sich gleichsam in hermeneutisch-narrativen Spiralen und stehen am Ende wie selbstverständlich da.

Je mehr Geschichten der Pädagoge kennt, um so kundiger ist er und um so erfahrener, klüger und verständnisvoller kann er handeln. Dies dürfte auch Günter Bittner gemeint haben, wenn er eine in unserem Zusammenhang bedeutungsvolle Definition von Pädagogik vorstellt: „Pädagogik sei die Gesamtheit aller Geschichten über Kinder und Erzieher, die mir verfügbar sind und die Gesamtheit der Gedanken, die ich mir über diese Geschichten gemacht habe.“ [12]

4. Narrativität und Selbstreflexion

Daß erzieherisches Handeln maßgeblich von der Person des Erziehers bestimmt ist, ist keine große Weisheit, wiewohl sie auf akademischer Ebene, vor allem in den Ausbildungsgängen für Pädagogen, kaum zur Geltung kommt. Erzieherisches Handeln ist Führen, Begeistern, Beleben, Faszinieren, Ausstrahlen, Animieren, Werben für seine Ziele und sich selbst. Echtheit und Authentizität der Person sind hier gleicherweise wichtig wie das Engagement am Menschen und an der Sache. Es bedarf hier der Nüchternheit und Klugheit genauso wie der Begeisterungsfähigkeit und der persönlichen Ausstrahlungskraft. Und es bedarf des Interesses am Menschen.

Die herkömmliche Pädagogik gibt wenig Raum, um über diese zutiefst persönlichen und biographisch bedingten Facetten des erzieherischen Handelns nachzudenken [13]. Über die Gründe könnte man lange reden: Es hat mit dem Verlust des Personalen aus der pädagogischen Forschung gleicherweise zu tun wie mit einem unpädagogischen Kompetenzbegriff und der damit einhergehenden primär qualifikationsorientierten Zurichtung pädagogischer Professionalisierung. Und vor allem hat es mit einer seltsamen Scheu vor selbstreflexivem Denken zu tun. Wenn jedoch die pädagogische Theoriebildung selbstreflexives Denken methodologisch nicht vorsieht, dann wird sie die schon einmal angesprochene und für den Pädagogen wichtige „réflexion engagée“ verfehlen.

Selbstreflexives Denken ist aber immer ein Denken und Reden in kommunikativ vermittelten Deutungs- und Orientierungsversuchen, deren Ferment die Erfahrung eines gelebten Lebens ist. Diese Erfahrung ist nur in Geschichten zu vermitteln bzw. in Geschichten zu verstehen. Es gibt keinen anderen Weg, über Erfahrungen zu reden, als von ihnen zu erzählen, vor allem wie man sie gemacht hat. Und da Erfahrungen immer subjektiv (wenn auch gesellschaftlich vermittelt) sind, hat auch jeder seine eigenen Geschichten, die seinen Erfahrungen Ausdruck geben. Max Frisch drückt es poetisch aus: „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt…“ [14] Allein im Erzählen vergewissert sich die Erfahrung und gewinnt eine reflexive Qualität; oder anders gewendet: Erst wenn es gelingt, Erfahrungen in Geschichten zu kleiden, sind sie verstanden.

Um Erfahrungen und vor allem die Erfahrung der eigenen Person, ihrer Identität und Geschichte zu verstehen, bedarf also die Pädagogik narrativer Elemente, in denen das wissenschaftliche Wissen durch ein Erzählwissen, durch ein Wissen in Geschichten, ergänzt, ja, mit diesem gleichsam verwoben wird. Allein die Einbeziehung narrativer Erkenntniszugänge gewährleistet die für selbstbezügliches Lernen notwendigen Identifikations-, Sensibilisierungs- und Erinnerungsprozesse und markiert – wissenschaftstheoretisch gewendet – das Paradigma einer pädagogischen Lebenswelthermeneutik, die dem Sinnüberschuß der Praxis gegenüber jeder Theorie Rechnung trägt und die sich sowohl als interessengebundene Rekonstruktion und Kritik vortheoretischer Handlungsmuster und gesellschaftlicher Widersprüche als auch als Tiefenhermeneutik individueller Lebensgeschichten versteht [15]. Die Hoffnung besteht, über das Narrative die gefährliche Trennung von persönlichem Selbstverständnis und professioneller Qualifikation des Pädagogen, die einerseits einen pädagogischen Irrationalismus, andererseits ein technologisches Verständnis der pädagogischen Ausbildung zur Folge hat, aufzuheben und die erwähnte Scheu vor dem selbstreflexiven Denken zu überwinden. Ohne die Einsicht in die eigenen, biographisch bedingten Voreingenommenheiten, ja Verstrickungen ist das pädagogische Handeln distanzlos und damit gefährliches Tun. Die methodologische Einbeziehung narrativen Denkens in die pädagogische Theoriebildung wäre ein Versuch, ein pädagogisches Denken zu fördern, das mit der Selbstbezüglickeit und der Wendung auf das Subjekt Ernst macht.

Läßt man abschließend die skizzierten vier Aspekte noch einmal Revue passieren, dann zeigen sie die Umrisse einer narrativen Pädagogik, für die das gleiche gilt, was Martin Buber einmal für die zutiefst narrativ angelegte chassidische Lehre feststellte: sie ist „letztlich der Kommentar zu einem gelebten Leben“ [16]. Was aber könnte Pädagogik Besseres sein?

 

* Colloquium vom 3. 12. 1998

 

 

Anmerkungen

[1] Rothacker, E. (1966). Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins. Bonn. Hier: Einleitung von W. Perpeet, S.X.

[2] Dilthey, W. (1958). Gesammelte Schriften. Band VII. Stuttgart und Göttingen, S. 84.

[3] „Rettet die Phänomene!“ In: Wagenschein, M. (1983). Erinnerungen für Morgen. Eine pädagogische Autobiographie. Weinheim, Basel, S. 135-153.

[4] Rumpf, H. (1981). Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule. München, S. 180

[5] J. Oelkers (1981). Müssen uns die Dichter sagen, was „Erziehung“ ist? Neue Sammlung, H. 3.

[6] Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch 1o94 b 18

[7] M. Maffesoli (1987). Das ästhetische Paradigma. Soziale Welt, Heft 4.

[8] Rumpf, H. (1982). Fallsammler und Fallforscher. In: Fischer, Dietlind (Hg.). Fallstudien in der Pädagogik. Aufgaben, Methoden, Wirkungen. Konstanz, S. 92.

[9] Bloch, E. (1969). Spuren. Frankfurt, S. 16.

[10] Nohl, H. (1947). Charakter und Schicksal. Eine pädagogische Menschenkunde. Frankfurt.

[11] Benjamin, W. (1977). Der Erzähler. In: Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt.

[12] Bittner, G. (1979). Zur psychoanalytischen Funktion biographischer Erzählungen. In: Baacke, D./ Schulze, Th.

Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München, S. 120.

[13] s. hier auch mein Aufsatz: Lernen im Beruf als Nachdenken über sich selbst. In: Neubert, H. (2000). Die Dramaturgie reflexiven Lernens und die Themenzentrierte Interaktion. Rheinfelden.

[14] Frisch, M. (1976). Mein Name sei Gantenbein. In: Gesammelte Werke in zeitl. Folge, Bd. VI. Frankfurt.

[15] s. Hier auch mein Aufsatz: Die Suche nach Geschichten als Prinzip pädagogischer Reflexion. In: Die Grundschule, 1986, H. 10.

[16] M. Buber. Nachwort. In: Das dialogische Prinzip, Heidelberg [1984] S. 319.

 

Literatur

Aristoteles. Nikomachische Ethik. 1. Buch 1094 b 18.

Benjamin, W. (1977). Der Erzähler. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt/M.

Bittner, G. (1979). Zur psychoanalytischen Funktion biographischer Erzählungen. In: Baacke, D./ Schulze, Th. (1979). Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München.

Bloch, E. (1969). Spuren. Frankfurt.

Buber, M. (1984). Nachwort. In: Das dialogische Prinzip. Heidelberg

Dilthey, W. (1958). Gesammelte Schriften. Band VII. Stuttgart und Göttingen

Frisch, M. (1976). Mein Name sei Gantenbein. In: Ges. Werke in zeitl. Folge, Bd. VI, Frankfurt/Main

M. Maffesoli (1987). Das ästhetische Paradigma. In: Soziale Welt, Heft 4.

H. Nohl (1947). Charakter und Schicksal. Eine pädagogische Menschenkunde, Frankfurt

J. Oelkers (1981). Müssen uns die Dichter sagen, was „Erziehung“ ist? Neue Sammlung, H. 3.

E. Rothacker (1966). Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins. Bonn, hier: Einleitung von W. Perpeet

H. Rumpf (1981). Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule. München

H. Rumpf (1982). Fallsammler und Fallforscher. In: Dietlind Fischer (Hg.): Fallstudien in der Pädagogik. Aufgaben, Methoden, Wirkungen. Konstanz

M. Wagenschein (1983). „Rettet die Phänomene!“ In: Ders.: Erinnerungen für Morgen. Eine pädagogische Autobiographie. Weinheim, Basel