Die unheilbare Pluralität der Welt

CHRISTINA THÜRMER-ROHR

Die unheilbare Pluralität der Welt –

von Patriachatskritik zur Totalitarismusforschung*

 

Feministische Kritik bewegt sich momentan auf einem brüchigen und einem hochdynamischen Feld. Und wenn es stimmt, daß Verunsicherungen jedem Lernen vorausgesetzt sind, dann müßten momentan die Lernchancen so groß sein wie noch nie. Jedenfalls kann die Geschichte der feministischen Kritik mit ihren unterschiedlichen Akteurinnen und wechselnden Fragestellungen nicht als eine Geschichte erzählt werden. Den Feminismus gibt es nicht. Und über die Fragen, die dieser Beitrag aufwirft, gibt es keinen Konsens. Den zu erreichen ist auch nicht Sinn des Nachdenkens. Im folgenden sollen Entwicklungen feministischer Herrschaftskritik von den siebziger Jahren bis heute exemplarisch und thesenartig an Diskursen zur Gewalt dargestellt werden: 1. der an Frauen ausgeübten Gewalt, 2. der von Frauen mitgetragenen Gewalt, 3. der von Frauen ausgeübten Gewalt, 4. der Gewalt, die in der Kategorie „Geschlecht“ als totalem oder totalitärem Konstrukt steckt. Es handelt sich um Phasen der Problementwicklung, die einander nicht einfach in chronologischer Abfolge abgelöst, also überholt haben, sondern die heute nebeneinander und gegeneinander, oft im gleichen Kopf existieren. Die Bewertung der verschiedenen Anläufe liegt momentan bei den Individuen, nicht bei einer tonangebenden „Bewegung“. Wer sich ein Urteil bilden will, kommt aber nicht mehr darum herum, zu berücksichtigen, daß eine Position umso einbindender und durchsetzungsstärker ist, je eindimensionaler sie ist. Ob das Umgekehrte auch gilt, ist offen.

 

I. Entwicklungen feministischer Kritik von den sechziger bis zu den neunziger Jahren


1. Die an Frauen ausgeübte Gewalt

Die feministische Bewegung begann in den sechziger/siebziger Jahren mit der These, daß Frauen – jenseits der Biologie – etwas gemeinsam haben, nämlich eine gewaltsame Schädigungs- und Ausschluß-Geschichte, die sie in die Randständigkeit gedrängt, als minderwertige Menschen definiert, von der öffentlichen Teilhabe ausgeschlossen und der alltäglichen Gewalt ausgeliefert hat. Es ist – so die These – eine Geschichte der Unterdrückung, die die Personen zutiefst geprägt hat und alle Frauen über die Klassen- und Kulturunterschiede hinweg verbindet. Der Feminismus definierte Frauen als Einheit: einerseits als „revolutionäres Subjekt“, als Menschen, denen ein gemeinsames Handeln und Verändern der monogeschlechtlichen Entwicklung zugetraut und zugesprochen wurde, andererseits als kollektiv Leidtragende des Geschlechterskandals, des zählebigen Status der Unsichtbarkeit und Kolonisierung. Patriarchat galt als absolutes übergeordnetes Unrecht, als Grund- und Ur-Unrecht, als universale weltweite Herrschaftsinstitution, als männliches Gewaltsystem ohne Frauen und gegen Frauen. Kultur war ein geschlechtsapartes, androzentrisches Werk. Alles Unrecht der Vergangenheit mit seinen gegenwärtigen Folgen und alles gegenwärtige Unrecht mit seinen zukünftigen Folgen wurde auf gleiche Ursprünge zurückgeführt. Alle erfahrene und beobachtete Gewalt fand grundsätzlich die gleiche Erklärung, den gleichen großen Überbegriff in der weltweit wirksamen und prinzipiell gleich wirkenden männlichen Dominanz und Gewalt. Es waren universalistische Gesten, Weltaussagen, monokausal, generalistisch, übernational, klassen-, kultur- und epocheübergreifend.(Schrader-Klebert,1969, S.1-46) Patriarchtskritik faßte bewußt verallgemeinernd und vereinfachend das gesamte kulturelle Unrechtsspektrum zusammen – Kreuzzüge, Kolonialismus, Hexenverfolgung, Judenverfolgung, Gulag, Auschwitz, Hiroshima, Genforschung, ‚Umweltzerstörung, Vergewaltigung und alltägliche Gewalt: verschiedenste Untaten mit gleichen Ursachen. Frauen waren an dieser wahnsinnigen Geschichte nicht verantwortlich beteiligt, somit Frauen deutscher Herkunft auch nicht an der NS-Geschichte des Antisemitismus und Rassismus. Die neue Zuordnung zum großen Singular Frau strukturierte eine neue Unrechtsordnung und schaffte damit auch ein neues Unrechtsbewußtsein. Die gesellschaftliche Verantwortung der Frau war darauf gerichtet, zum einen Selbstbestimmung für sich einzufordern, zum anderen den Gegner, das Geschlecht der Männer, zur Verantwortung zu ziehen. Wer Täter und wer Opfer war, war vorab entschieden. Die Entdeckung der Welt als Welt des Mannes war gleichbedeutend mit der Entdeckung des Opfers Frau. Machtferne war identisch mit Schuldferne, Machtlosigkeit identisch mit Schuldlosigkeit.

Das alles waren provokative Thesen, in ihrer Absolutheit eindimensional, radikal und bewußt abstrahierend. Wie jedes politische Anfangen enthielten sie einerseits die Chance, die Zwangsläufigkeit des Weiter-so zu unterbrechen, andererseits die Gefahr, systematische Ausgrenzungen, Eingrenzungen und Ignoranzen der gesellschaftlichen Norm unausgesprochen fortzusetzen (Thürmer-Rohr,1997, S.135-146). Die Thesen wiesen jedenfalls auf eine Gesetzmäßigkeit hin, die von beiden Geschlechtern offenbar immer wieder als Naturgegebenheit hingenommen worden war statt als Gewaltakt erkannt zu werden. Sie waren ein Politikum, sie störten den sozialen Konsens. Sie zeigten den Riß zwischen den Geschlechtern. Sie deckten im Detail ein flächendeckendes Ausmaß an normaler Frauenverachtung auf. Sie lieferten plausible Erklärungen für die Gewaltgeschichte der eigenen Kultur und die Gewalterfahrungen der persönlichen Alltage. Sie ergaben hilfreiche Interpretationen für persönliches Leid und politisches Unbehagen. Sie erfanden die Einheit der Betroffenen und setzten eine zeitlang völlig unbekannte Solidaritätsgefühle frei. Sie machten Frauen zu öffentlichen Anklägerinnen. Und sie verschafften Frauen die Legitimation, sich auf die Seite der Geschädigten und Verletzten zu schlagen, befreiten sie vom Damoklesschwert eigener Kollaboration und entlasteten sie somit von politischen Schuldfragen.

 

2. Die von Frauen mitgetragene und unterstützte Gewalt


Solche generalisierenden Positionen der Anfangszeit wurden seit Anfang der Achtziger Jahre durch die These der Mittäterschaft von Frauen in Frage gestellt. Die These besagt, daß Frauen – normgemäß – an den angeklagten Gewaltverhältnissen auch selbst mitwirken. Die Handlungen der Frauen sind demnach nicht nur aufgezwungene und ihre Handlungsbegrenzungen nicht nur durch Zwang verhinderte Handlungen, sondern sind auch selbstgewählte, oft selbstgewollte, vor allem aber dem System dienliche Handlungen. Frauen werden nicht nur verstrickt, verletzt und mißbraucht von einem schädigenden System, sondern sie steigen auch eigentätig ein, sie gewinnen auch etwas, sie ernten Privilegien und fragwürdige Anerkennungen, sie profitieren von ihren Rollen – sofern sie sie erf’üllen. Die Bereitschaft von Frauen zur magdseligen oder herrenhaften Unterstützung eines patriarchal organisierten Tuns und Denkens sind gerade der Triumph, den dieses feiern kann.

Das Konzept der Mittäterschaft wendete sich zuallererst gegen eine General-Definition von Frauen als Opfer der Verhältnisse, damit auch gegen die – gewollte oder ungewollte Entlastung von den eigenen und kollektiven Verantwortungen. Mit der Mittäterschaftsthese waren Frauen nicht mehr geschützt durch eine Unrechtsdefinition, die sie in ein Opferkollelktiv verwandelt. Sie waren nicht mehr gemeinsam geprägt und geadelt durch gemeinsame Leiderfahrungen, sondern ebenso durch direkte und indirekte Beteiligungen: an der eigenen Unterdrückung, an der Geschlechterhierarchie an der Höherwertung des Mannes, an der Entlastung gesellschaftlicher Täter, Beteiligungen also an der Permanenz struktureller Gewalt. Frauen sind beteiligt, sofern sie die Verhältnisse dulden, nicht eingreifen, sich verstecken, sich nicht zuständig sehen, sich arrangieren und so zum unentbehrlichen ergänzenden oder verstärkenden Bestandteil des Systems werden.

Die Mittäterschaftsthese war in erster Linie gemeint als methodischer Versuch, den Funktionsweisen der patriarchalen Gesellschaft auf die Spur zu kommen, die ritualisierte Zusammenarbeit der Geschlechter für den hartnäckigen Erfolg organisierter Ungerechtigkeiten zu durchschauen, zu analysieren, zu konterkarieren. Die feministische Arbeit müßte demnach ihre wesentlichen aktuellen Ziele darin sehen, Frauen herauszufordern und zu ermutigen, ihre eigene kollektive Unterstützungs- und Zuarbeit an einem ihnen und anderen Unrecht zufügenden System aufzudecken und Wege zur Entkoppelung, zur Entsolidarisierung finden. Auf den ersten Blick mag die These weniger zur Provokation männlicher Gegner geeignet sein als zur Provokation einer „weiblichen“ Identität, mit der Frauen sich selbst gern als das „andere Geschlecht“ gesehen hatten, als unwesentliche Andere oder glücksversprechende Andere des Mannes, als das Andere der Männlichkeit, das Andere der patriarchalen Vernunft, im Besitz auch eines anderen Verhaltens, einer geschlechtsspezifischen Moral, Sprache, Denkweise etc. Der Mittäterschaftsthese geht es um Gesellschaftsanalyse und -kritik. Sie ist geeignet, jene Logiken aufzudecken, mit der eine Kollektivperson Frau hergestellt und zugerichtet werden soll und mit der zugleich Frauen sich als determinierte Objekte gesellschaftlicher Prägeverfahren und Gewalt sehen. Wenn das Mißtrauen nicht nur die Männergesellschaft, sondern auch die Frau in der Männergesellschaft (Thürmer-Rohr,1998,S.87ff.) betrifft, verändert sich die feministische Sicht auf Frauen. Verunsichert wird ein weibliches Selbstbild, mit dem erstrangig ein Außenfeind – Männer, Herrschende, Täter oder „das System“ – für die erfahrenen und beobachteten Leiden hatte verantwortlich gemacht werden können. Der Gedanke der strukturellen Mittäterschaft von Frauen mißtraut so auch der Dauer-Empörung der Betroffenen über selbsterfahrenes Unrecht, sofern diese Empörung den Eigenanteil verdeckt. Die These löst die eindeutige Unterscheidung von Opfern und Tätern auf, sie stört die Identitätszusagen, die Einrichtung im angenehmen Wir der Heilgebliebenen. An der „Einheit“ Frauen hält sie fest, insofern Frauen in einem langen historischen Prozeß einheitlich zur Teilhabe und Stützung der patriarchalen Ordnung geeignet oder geeignet gemacht sind. Mit der geforderten Entsolidarisierung war allerdings kein gemeinsamer oder gleicher Weg mehr angesprochen. Frauen sollte damit auch die Entscheidungskompetenz zurückgegeben werden, über den Grad ihrer Verfügbarkeit und Selbstentmachtung, ihrer Kooperation mit dem patriarchalen System wohl oder übel selbst bestimmen zu müssen.

 

3. Die von (Weißen) Frauen ausgeübte Gewalt


Seit Ende der Achtziger Jahre veränderte sich die Gewaltdebatte wesentlich durch Interventionen von Migrantinnen, schwarzen und jüdischen Frauen, durch Impulse von „Außen“, das kein Außen ist, sondern den Inländerinnen oft als Außen erscheint. Auslöser war der praktizierte Rassismus in der weißen Gesellschaft wie auch innerhalb der weißen Frauenbewegung – ein Problem, das der Frauenbewegung ziemlich ungelegen kam, das sie außerhalb der eigenen Aufgaben angesiedelt und von dem sie sich bis dahin mehr oder weniger freigesprochen hatte. Die konkreten Anderen hielten weißen deutschen Frauen einen Spiegel vor, in dem eigene rassistische Orientierungen und die Enge des Verantwortungsraums zu erkennen waren, außerdem die Eindimensionalität von Unrechtsvorstellungen, wie sie aus der Absolutierung sexistischer Gewalt folgt. Vom Standpunkt der sog. Anderen zeigte sich der weiße Feminismus nicht mehr als reine Antithese zur herrschenden Norm, sondern auch als eine Variante eurozentrischen Denkens und Handelns. Die Konfrontationen beförderten weiße Frauen auf die Seite derjenigen, von denen sie sich mehr oder weniger separiert gesehen und gehalten hatten: auf die Seite der Mehrheit in der eigenen Kultur. Die Neigung vieler weißer Frauen, die unmittelbar selbsterfahrene Geschlechterhierarchie zum Modell von Herrschaft überhaupt zu erheben, wurde manchen schockartig als Ausdruck der Gewalt, der Entlastungsinteressen und Ignoranz von Mitgliedern der Weißen Welt vor Augen geführt.

In den Differenzen zwischen weißen, schwarzen, christlichen, jüdischen, islamischen, einheimischen, migrierten, nördlichen, südlichen, westlichen und östlichen Frauen wurden alle jeweils zu Repräsentantinnen ihrer Kulturen: Repräsentantinnen historischer und gegenwärtiger Herrschaft auf der Täter- oder der Opferseite des Weltgeschehens. Damit taten sich Gräben auf, die solange vollkommen unüberwindlich erschienen, wie wir uns gegenseitig nur und ausschließlich als Stellvertreterinnen unrechtsausübender und unrechterleidender „Systeme“ und Kulturen wahrnehmen konnten. Kooperationen und Brücken können erst entstehen, wenn wir die totalisierenden Sichten auf andere und auf uns selbst aufgeben und uns auch als Personen begegnen, denen zuzutrauen ist, der Gewalt widersprechen und ihr entgegenhandeln zu können. Das heißt auch, daß wir der Trennung widersprechen können, die uns die Herrschaftsgeschichten zwischen den Nationen und Kulturen aufzuzwingen scheint. (Thürmer-Rohr, 1993, S.188-204)

Folgen der heftigen Auseinandersetzungen finden sich in einem weiten Spektrum zwischen Verletzung, Rückzug, Dialogversuchen und neuen Arbeitsinhalten. Zu den letzteren gehört, daß Frauen sich Kenntnisse über die Geschichte der Dominanzkultur erarbeiten, die weitgehend aus dem west/weiß-feministischen Wissensrepertoire ausgespart geblieben oder wiederum opferorientiert gedeutet worden war: aber die Geschichte der westlichen Hegemonie, die Geschichte des europäischen Kolonialismus, die Entstehung der sog. Dritten Welt, die Geschichte des Rassismus und Antisemitismus. In den Auseinandersetzungen zerbrach der bisherige feministische Konsens über die herrschende Unrechtsordnung.

Das Zusammenschmieden der Hälfte der Menschheit unter den verschiedensten Lebensbedingungen und Herrschaftsformen, der Einschluß der sogenannten Anderen ins allumfassende androzentrische System war ein Aneignungsakt, der einer Form von Kolonisierung gleichkommt. Die heutige Kritik betrifft diese Definitionsgeste, diesen Vereinnahmungsakt, mit dem der westliche Blick sich ermächtigt, universale Ursachenanalysen zu bewerkstelligen und dem Eigeninteresse gemäß die ethnischen und rassistischen Unterdrückungen durch die westliche Kultur zum nachgeordneten Faktor zu machen. Die heutige Kritik betrifft weiterhin den Ausschluß derjenigen, die sich gegen die Eingemeindung in das vereinte Unterdrückungsobjekt die Frau aus den verschiedensten Gründen sperrten, vor allem derjenigen, die darauf bestanden, daß ihre Lebens- und Unterdrückungserfahrungen mehr mit der Hegemonie der westlichen und weißen Welt zu tun haben als mit männlicher Dominanz innerhalb der eigenen Kultur.

 

4. Der Gewaltakt des Klassifizierens – die Kategorie Geschlecht als totales/totalitäres Konstrukt


Eine weitere Veränderung ergibt sich aus einem postmodern genannten Denken, das vor allem in Frankreich schon seit den siebziger Jahren als eine Widerstandslinie gegen das Versagen und die politisch-moralischen Katastrophen der Moderne begann. Den Ansätzen, jedenfalls denen, die hier interessieren, liegt eine radikale Erschütterung über den gewalttätigen Bezug der westlichen Welt gegenüber den sog. Anderen zugrunde, über die ökonomische, politische, militärische, ideologische Gewalt der modernen Kultur und der als modern gekennzeichneten Verbrechen – Auschwitz, Gulag, Hiroshima. In den Mittelpunkt postmoderner Kritik gerät das Klassifizieren selbst, jener Gewaltakt, mit dem das der jeweiligen Norm nicht zugehörige Andere aussortiert wird – das Fremde gegenüber dem Einheimischen, der Ausländer gegenüber den Staatsbürgern, der/die Schwarze gegenüber dem/der Weißen, der Jude gegenüber dem „Arier“, die Frau gegenüber dem Mann etc. – die Erfindung trennscharfer Kategorien, mit denen Dinge und Menschen definiert, einsortiert, aussortiert, eingeschlossen und ausgeschlossen werden. Die Kritik an solchen Einheitskategorien ist letztlich eine Kritik an allen Totalitarismen, die Menschen zum Singular definieren wollen.

Diese Kritik trifft direkt das feministische Subjekt, die Frau. Diese Einheit und Einzahl ist selbst Effekt eines Kategorisierungsverfahrens, Ausdruck der Herrschaft des einen über das andere Geschlecht. Die Kritik richtet sich grundsätzlich gegen alle Kategorisierungen, die Pluralität zerstören und damit zum Ruin des Politischen beitragen. (Arendt,S.9ff.) Das sog. Weibliche ist damit einfältiges Ergebnis eines einfältigen Herrschaftsaktes. Im Kern besagt die Kritik, daß auch die feministische Kategorie die Frau, das Weibliche als totalitärer Reflex einer totalitären Geschlechterpolitik zu begreifen ist. Das Totalitäre der Geschlechterkategorisierung wird im Feminismus in dem Moment übernommen, gespiegelt, verfestigt, wo er mit der Besprechung und Hochjubelung von Weiblichkeit das Konstrukt selbst wieder eröffnet, füllt und aufwertet. Die Kritik richtet sich damit auch auf die Beteiligung des Feminismus an Kategorisierungen, die überhaupt nur solange zu halten gerechtfertigt wären, wie sie Herrschaft aufdecken und boykottieren, statt sie in etwas Essentielles zu verwandeln. Es geht um die Demontage – Dekonstruktion – der Herrschaftsfolgen, damit auch um die Demontage der eingebildeten oder erzwungenen Einheit Frau. Konsequenz ist die Störung der Geschlechterkategorien, eine Störpraxis, die den Grundgedanken der Pluralität auch auf das zur Einheit gezwungene oder sich zwingen lassende Geschlecht Frau anwenden will.

Vielleicht ist feministische Kritik dabei, sich als eine Kultur- und Herrschaftskritik zu verstehen, in der sich die Zurückweisung der Herrschafts- und Universalitätsansprüche des weißen männlichen Subjekts mit der postmodernen Kritik an den Herrschafts- und Universalitätsansprüchen der westlichen Moderne verbindet. Diese Kritik zu betreiben ist keine Position von Opfern. Sie denkt Frauen der westlichen Welt nicht mehr vorab als Beschädigte patriarchaler Gewalt, sondern als Zeitgenossinnen, die in die Herrschaftspraktiken der eigenen Kultur selbst verstrickt sind und das eigene Gepäck nicht erleichtern können, indem sie das Geschlechterunrecht zur Absolution von allen Haftungen benutzen. Die verschiedenen Frauen sind einbezogen als selbst Handelnde, ob als marginale Akteurin, als zentrale Leidtragende, als unsichtbare Unterstützerin oder als sichtbare Abweichlerin.

 

II. Totalitäre Herrschaft – Modell feministischer Kritik


Heute kreisen die vielen großen – wenngleich oft kleinlaut gebliebenen – Irritationen um die Begriffe Differenz, Verschiedenheit, Plural, Pluralitat – Schlüsselbegriffe der sog. Postmodeme und Begriffe, die im gröbsten Sinne ein nicht-totalitäres, nicht-monologisches, nicht eindimensionales, nicht einheitstiftendes Denken kennzeichnen. Dieses sieht im Zusammenleben der Verschiedenen und Gleichberechtigten die Grundqualität des Politischen (Arendt, 1993, S.9) – ein radikaldemokratischer Gedanke. Er verabschiedet sich von dem modernen Versprechen, eine Welt schaffen zu können, die durch Kategorisierungen zu ordnen oder zu säubern, durch Ideologien zu leiten, durch eindeutige Unrechtsordnungen zu strukturieren ist. Er geht auf Distanz zu Konzepten der Identität, der Vereinheitlichung, des Einheit Schaffens, die das Verschiedene und das sog. Andere auf den gleichen Ursprung zurückführen, vereinnahmen oder aussondern wollen. Dieses Denken verändert die Blickwinkel auf die Welt, es macht nicht heimisch, sondern fremd und nimmt zugleich der Fremdheit ihre beängstigende Bedeutung.(Bauman, 1992, S.126) Die „Abneigung gegenüber großartigen gesellschaftlichen Entwürfen, der Verlust des Interesses an absoluten Wahrheiten, … die Anerkennung der unheilbaren Pluralität der Welt“ nehmen nicht nur der „Differenz“ ihr altes Stigma (Bauman, 1992, S.126) sie ziehen vor allem Konsequenzen aus den totalitären Entwicklungen der Moderne.

Der Feminismus, wie er sich in der westlichen Kultur entwickelt hat, ist auch ein Kind der Moderne, seine Probleme sind auch Spiegel modernen Denkens. Er kann sich nicht einfach als „das ganz Andere“, das Anti, das Widerständige, Nicht-Integrierte aus den Widersprüchlichen politischen Ideologien und Praktiken der Moderne herausdefinieren. Damit stellen sich manche Fundamente in Frage, die einmal feministischer Konsens gewesen sind. In Frage steht

    • das Konzept der Emanzipation, sofern es vom Einheits-Subjekt „Frau“ und als Voraussetzung für dessen politische Handlungsfähigkeit die kollektive Identifizierung und Vereinigung als Frauen erwartet;
    • das Konzept der Selbstbestimmung, sofem diese zum Eigeninteresse von Angehörigen der dominanten Kultur verkommt und sich von der Idee der Gerechtigkeit isoliert;
    • die Eindeutigkeit einer Unrechtsordnung, sofern sie von der einen dominanten Wahrheit ausgeht – der weltweiten Unterdrückung von Frauen durch das weltweite Patriarchat;
    • das Weibliche als trennscharfe Kategorie jenseits von „Rasse“ und Ethnie, sofern es die totalisierende Vorgabe enthält, (alle) Frauen seien unterdrückt, weil sie Frauen sind;
    • der Begriff Erfahrung, sofern in dieser weiterhin der „Königsweg der Erkenntnis“ gesehen und damit jeder Bezug zur Welt entbehrlich gemacht wird, der die Eigenerfahrung überschreitet
    • z.B. die Geschichtserinnerung. Um Unrecht von Unglück unterscheiden zu können, bedarf es mehr als der unmittelbaren Erfahrung von Gewalt.

Diese Kritik ernst zu nehmen, Herrschaftskritik am Patriarchat also mit der Herrschaftskritik an der Dominanzkultur zu verbinden, verweist besonders Frauen in Deutschland auf die Herrschaftsgeschichte der Deutschen, erstrangig auf die NS-Geschichte, die Herrschaft als totale Herrschaft vorgeführt hat und demonstrieren wollte, „wie man eine Rasse durch Ausmerzung anderer ‚Rassen‘ herstellt“. (Arendt, 1986, S.638) Der Totalitarismus kennzeichnet die Absturzstelle der westlichen Zivilisation“ (Kraushaar,1996,S.468) ein Erbe, das wir über die Generationen und die alten Ost- West-Grenzen hinweg mit uns herumschleppen – eine „absolute Erfahung“ (Bosshart,1992,S.59), die so unausweichlich ist, daß man sich nicht beliebig zu ihr verhalten kann. Der Totalitarismusbegriff ist ein herrschaftstheoretischer Terrminus geworden (Kraushaar,1996,S.458), der einen neuen Beitrag zur Herrschaftskritik leisten kann. Die Herrschaftskritik, die den Feminismus anfangs angetrieben hat, war einem traditionellen Herrschaftsmodell verhaftet, dem Modell der Unterdrückung, Sklaverei, Despotie, Diktatur. In diesen Modellen sind es die einen, die unterwerfen, terrorisieren, rauben, entmündigen und die anderen, die unterworfen, terrorisiert, beraubt, entmündigt werden. Unterwerfer und Unterworfene sind hier klar unterscheidbare Gegner, Antagonisten, Feinde. Der Totalitarismusbegriff öffnet demgegenüber die Augen für weitere und erschreckendere Aspekte einer Herrschaft, die Herrschende und Beherrschte zu gemeinsamen Beteiligten an einem umfassenden Herrschaftsarrangement macht, die bei den Zugehörigen Zustimmung und Übereinstimmung erreicht und damit auch die Nivellierung, die weitgehende Integration von Herrschenden und Volk, Staat und Gesellschaft, Unterdrückern und Unterdrückten, Tätern und Opfern [1]. Die totale Herrschaft verwischt diese alten eindeutigen Unterscheidungen, ein Faktum, das Hannah Arendt mit der vieldiskutierten Aussage zuspitzte, totale Herrschaft bereite „Henker“ und Opfer gleich gut für das Funktionieren des totalen Herrschaftsapparates vor“ (Arendt,1986,S.728) Um Hintergrund und Sinn dieser Aussage zu begreifen, müßte jede Generation in die Lernhölle der Geschichte dieses Jahrhunderts gehen, um den spezifischen Charakter des Totalitären überhaupt zu erkennen.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es gibt nicht den Totalitarismusbegriff und nicht die Totalitarismusforschung. Der Totalitarismusbegriff hat eine schwierige und kontroverse Geschichte, und der gegenwärtige Stand der Forschung erlaubt kaum mehr, als über den Gegenstand zu sprechen (Hildebrand, S.72) . Eine Schwierigkeit liegt darin, daß in der Phase des kalten Krieges der Begriff als westlicher Kampfbegriff gegen sozialistische Länder geeignet schien und bis heute gern als solcher verwendet wird. Er zwingt damit die scheinbar oder tatsächlich Angegriffenen in die Defensive, statt zur Reflexion und Erkenntnis auf beiden Seiten zu führen. Einerseits sollte der Begriff nicht überdehnt werden, denn mit seiner Verwässerung würde totale Herrschaft als Staatssystem bagatellisiert. Andererseits sollte er auch nicht für den Nationalsozialismus und Stalinismus reserviert bleiben, denn mit dieser Verengung würde er zu einem historisierenden Instrument, das auf Phänomene der Demokratie nicht anzuwenden wäre. Totalitarismus ist nicht einfach die Antithese zur heutigen Demokratie. Diese ist vor totalitären Entwicklungen nicht geschützt. Totalitäre Phänomene bekommen eine neue Aktualität, je mehr eine globale Ökonomie politisches Denken zurückgedrängt und machtlos zu machen scheint. „Das Patriarchat“ schließlich als totalitäre Institution zu kennzeichnen, weil es alle Frauen qua Geschlecht trifft und nach einem Kriterium definiert bzw. treffen und definieren will, ist m.E. nur legitim als eine Kennzeichnung der Geschichte. Dennoch ist der totalitäre Charakter der Geschlechterdiskriminierung nicht einfach mit Artikel 2 der Menschenrechtserklärung und den heutigen demokratischen Verfassungen abgestorben. Was weiterwirkt ist jedenfalls das Erbe, und mit diesem Erbe haben wir es tagtäglich zu tun. Im Rahmen der Totalitarismusforschung wird der schillernde und befehdete Begriff totalitär meist als Verfassungsbegriff und zur Kennzeichnung eines totalitären Staatssystems verwendet. Er taucht heute auch mehr oder weniger deckungsgleich mit dem Begriff Globalisierung auf, wenn z.B. vom totalitären Kapitalismus die Rede ist (Ramonet, 1997, S.7). Totalitär werden auch Tendenzen innerhalb der Massendemokratien genannt, in denen nicht ein totalitäres System den konformen „neuen“ Menschen und totalitären Menschentypus propagiert, sondern der Apparat, die Bürokratie ihn zwangsläufig produziert – ohne noch des totalitären Herrschers zu bedürfen (Hildebrand, S.87) Der Begriff bezieht sich schließlich auch auf Strukturen des Denkens und Handelns, die die Phänomenologie des Totalitären zutage gefördert hat.

Es war vor allem Hannah Arendt, die diesen Zusammenhängen nachgegangen ist. Sie sieht im Prinzip der Mehrzahl, der Pluralität – Grundbedingung der Zwischenmenschlichkeit und des Politischen – die Kehrseite des Totalitären und im Totalitären die Zerstörung von Pluralität. Der Keim des Totalitären zeigt sich in der Abwesenheit des Denkens und in der Vernichtung des Handelns, denn beides, Denken und Handelns ist auf Zwischenmenschlichkeit und damit auf Unterschied, Differenz, Dialog, Nichtplanbarkeit angewiesen, auf die Begegnung der Verschiedenen, die zum Nicht-Mit-sich-Identischen in Beziehung treten. Die Planierung der Differenz, die Herstellung des Singulars in Menschen und zwischen Menschen, ist immer ein totalisierender Herrschaftsakt. Die Einzahl einheitsbildender Kategorien – Rasse, Geschlecht etc. – ist nicht Natur, sondern Herrschaftsprodukt. Das „Dritte Reich“ trat ein abendländisches Erbe an, mit dem „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich“ behandelt wurde – indem man die Juden den Ariern „ungleich“ machte (MacKinnon,1996, S. 120) Der nationalsozialistische Rassismus verwandelte die jüdischen Deutschen erst in eine Einheit, eine „Rasse“, in einen getrennten ethnisch definierten Block (Bodemann,1996, S.20). Wie „die Juden“ als Volkseinheit und Identität eine Erfindung der Deutschen waren, sind „die Schwarzen“ eine Erfindung der Weißen und sind „die Frauen“ eine Erfindung der Männer.

Pluralität ist mit allen ihren politischen und persönlichen Konsequenzen nichtherrschaftlich [2] und dient nicht der Herrschaft. Sie besitzt und produziert nicht das Material, um Herrschaft auszuüben oder sich ihr zu unterwerfen. Sie ist im Gegenteil die einzige Kraft, um Menschen die Verantwortlichkeit für ihr Handeln zurückzugeben und das destruktive Potential der Moderne einzuschränken (Baumann,1992, S.70f.). Sie ist Voraussetzung des Menschlichen und Voraussetzung des Politischen: des Versuchs, der Verschiedenheit der Menschen politische Form und öffentlichen Ausdruck zu geben und den unterschiedlichen Menschen gleiche Rechte zuzusprechen. Das Verwischen der Differenz bereitet den Boden für die Deformation des zwischenmenschlichen Menschen – des mit und unter Verschiedenen lebenden Menschen – damit auch für die Deformation des Politischen, die Menschen „so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft“ (Arendt, 1986, S.729). Arendts Identitätskritik richtet sich gegen eindimensionale Menschenbilder, aus denen die Vielheit der Welt zugunsten einer Sicht, einer Weltanschauung, einer Interpretation, eines Geschichtsverständnisses verschwunden ist, gegen alle Ideologien, die den Anspruch auf totale Welterklärung und Planbarkeit enthalten, gegen ein Denken, das die Herstellung der einen Sorte Mensch zum Ziel hat. Mit dieser werden die Verschiedenen so, als seien sie nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller vom System unternommenen Aktionen und Verbrechen (ebd. S. 720). Sie werden prinzipiell von Erfahrungenunbeeinflußbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar“ (ebd. S.296), Denk- und Erfahrungsfähigkeit werden eindimensional, monologisch und damit vernichtet (ebd. S. 729). Totale Herrschaft kann menschliches Handeln nicht brauchen, rechnet überhaupt nicht mit handelnden Menschen, denn sie ist an menschlicher Freiheit nicht interessiert. Sie entzieht der Intersubjektivität damit jeden Boden, sie zerstört jedes erweiterte Denken (Benhabib, S.151ff.) das immer die Perspektiven des/der Anderen in Betracht zieht und sich erst dadurch überhaupt als „menschlich“ qualifiziert. Sie macht Menschen überflüssig, indem sie das Menschliche eliminiert.

Am Lehrstück Adolf Eichmanns während seines Prozesses 1961 in Jerusalem (Arendt, 1992) brachte Hannah Arendt ihre Beobachtungen auf den Nenner der „Banalität des Bösen“ als Gedankenlosigkeit [3], als „Abwesenheit des Denkens“ (Arendt, 1994, S. 129) als Abwesenheit des konkreten oder des generalisierten Anderen im eigenen Bewußtsein. Das Ich stellt sich selbst keine Fragen und damit sich selbst nicht in Frage, es hat in sich selbst kein Gegenüber, das das ständige Weiter-so behindern würde (Arendt, 1989,S.182ff.) es stellt keine Beziehungen zu etwas her, das es nicht ist, sondern anders ist. „Vom Urteil dieses generalisierten Anderen hängt (aber) letztlich unser Verhalten ab“ (Todorov,1996, S.32). Die Denktätigkeit stiftet Dualität, sie aktualisiert Differenz, sie ist fähig, Perspektiven anderer in Betracht zu ziehen. Mit der Abwesenheit dieser Tätigkeit ist jemand eins mit sich selbst [4], mit sich und seiner Umgebung identisch, ein Singular. Der Mensch als Singular stellt sich nicht mehr vor, was er eigentlich anstellt (Arendt, 1989, S.182) ist nicht imstande oder hat kein Motiv, sich vom Gesichtspunkt anderer Menschen aus irgendetwas zu vergegenwärtigen. Ihn umgibt der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und die Gegenwart anderer, und damit gegen die Wirklichkeit selbst (Arendt, 1992, S. 78). Die Unfähigkeit zu erfahren und die Unfähigkeit zu denken haben die Funktion, gegen die Wirklichkeit abzuschirmen. Der Blick auf die Opfer ist verstellt, sie existieren nicht, jedenfalls nicht als Menschen. Arendt fand ihre Antwort auf die Person Eichmann nicht erstrangig in einer exzessiven antisemitischen Feindseligkeit, in mörderischen Motiven, in einer diabolischen Persönlichkeit, in einer Entscheidung zum unmenschlichen Handeln. Sie fand sie in der radikalen Abwesenheit einer denkenden Zuwendung zur Welt Arendt, 1989,S.14) in einer egalisierten und damit wertlosen Vorstellung, in der Unfähigkeit, die Differenz zu denken: der totalen Indifferenz. Indifferenz ist damit Ergebnis des totalitären Versuchs, den einen Menschen herzustellen, Menschen in der Einzahl, Exemplare, die in sich und mit ihrer genormten Umgebung gleich geworden sind, deren innere und äußere Welt identisch zu sein scheint, deren „Stimme des Gewissens“ genauso spricht wie die „Stimme der Gesellschaft“, die keinen Anlaß sehen, sich das Andere als Bestandteil der Realität zugänglich zu machen (Walb, 1997) Die totale Herrschaft muß Menschen nicht verbieten, nach ihrem Gewissen zu handeln, sondern sie verfügt über die Gewissen. Alles wird eins. Die unterschiedlichen Wirklichkeiten werden gelöscht, das Bewußtsein wird zum angedichteten Raum. Unrechtsbewußtsein funktioniert nur in bezug auf die Gleichen und Eigenen, das eigene System des Ich und Wir.


Solange unsere Herrschaftskritik vom Herrschaftsmodell Diktatur/Despotie ausgeht, liegt ihre Perspektive bekannterweise eindeutig und einsichtig in der Befreiung von Unterdrückung bzw. im Widerstand gegen Unterdrückung, Abhängigkeit, Ausbeutung. Geht man aber vom Herrschaftsmodell Totalitarismus aus, ergibt sich eine weitere und ziemlich andere Perspektive der Kritik. Sie liegt im Verhältnis zu den Anderen, d.h. zu denjenigen, die das Bewußtsein externalisiert. Sie liegt damit in der Eindimensionalität des Denkens, im normierenden Eifer, im „antisozialen Geist“ (Todorov,1996,S.78) im monologischen und monophilen Bewußtsein (Bauman, 1995, S.114). Dieses wird zum „Mein“-Bewußtsein, zu einem autonomen, autarken, autistischen Ort, besetzt vom Eigeninteresse oder bestimmt von „universeller Vernunft“, nicht aber bevölkert mit anderen Menschen; oder dieses Bewußtsein wird zu einem Ort, an dem die Anderen allenfalls Bewußtseinsobjekte sind, nicht aber anderes Bewußtsein. Wenn Herrschaftskritik von Phänomenen des Totalitarismus ausgeht, geraten Fragen in den Mittelpunkt, die mit dem Diktaturmodell allenfalls Randerscheinungen bleiben. Das Totalitarismusmodell lenkt die Fragen nicht nur auf den Unterdrückungs- und Zwangscharakter der Einheitsbildungen – Rasse, Geschlecht, Volk, Inländer, Nützlinge, Wir – , sondern ebenso auf die Zustimmung zu ihnen. Mit dieser haben die Zugehörigen sich ohne große Skrupel an gigantischen kriminellen Unternehmen beteiligt. Die Fragen richten sich somit auf die Kohäsions- und Faszinationskraft der Konstrukte, auf die Integrations- und Anerkennungsgier, auf den Bedeutungsaufschwung (Scheich,1994) den die Konstruierten erfahren, auf die Sehnsucht nach Homogenität, auf die Attraktivität der Zugehörigkeit, der Einheit des Subjekts, der Eindeutigkeit der Gefühle, auf die Fetischisierung von Ganzheit. Dazu gehört auch die Zustimmung zu jenen Ergänzungsprinzipien, mit denen polare Unterschiede erfunden und zu einem scheinbaren Ganzen addiert werden. Die Fragen richten sich vor allem an das erschreckend gute Gewissen, das die Zugehörigkeit zu einer „Identität“ und die Zustimmung zu geschichts- oder naturgesetzlichen Ideologien mit sich gebracht hat. Die Perspektive der Kritik liegt in der Auflösung solcher Komplizenschaften. Das Totalitäre der totalen Herrschaft erweist sich darin, daß (nahezu) alle fürs Gesamtwerk und Gesamtziel gewinnbar sind, somit sind Verantwortungen auch nicht mehr allein nach Oben und auf einzelne Herrschaftsträger und Gewaltinstitutionen abzuwälzen. Dieser Tatbestand schlug sich nieder im flächendeckenden Entlastungsstreben der Deutschen nach dem Dritten Reich. Wenn alle belastet sind, wollen sich alle entlasten – mit Hilfe des Erinnerungsverlusts, der Gedächtnismanipulation und Gedächtnisamputation, der Verweigerung von Tatsachenwahrheiten, der Kostbarkeit des Unwissens, des Selbstmitleids, der Verkehrung der Belasteten in Bemitleidenswerte. Mit einer Herrschaftskritik, die am totalitären Modell von Herrschaft orientiert ist, verbietet es sich, die Neigung der Gedächtnisse zu akzeptieren, die ihre Träger und Trägerinnen in die kollektive Regression schicken, sie ins Kollektiv der Opfer einreihen möchten (Reemtsma,1995, S.55) und so die eigentlichen Opfer erneut untergehen lassen (Wobbe, 1992, S.13-43)

Vor diesen Hintergründen verändert sich die Richtung und der Stoff der Herrschaftskritik und damit unausweichlich auch der Zugang zu feministischen Fragestellungen. Damit ist nicht einfach die Erweiterung von Gegenstandsbereichen gemeint. Was sich vor allem verändert ist die Art des Unrechtsbewußtseins. Dessen Entzündungspunkt war anfangs in aller Selbstverständlichkeit das Unrecht an konkreten oder generalisierten „Frauen“. Solange das Geschlechterunrecht als das Fundament von Herrschaft überhaupt galt, waren Unrechtsbewußtsein und Identitätspolitik sozusagen deckungsgleich. Wir waren Lern- und Veränderungsfeld, Arbeitsgegenstand, Identitätsort. Angesichts der Phänomene totaler Herrschaft wird aber dieses an eine Identitätsgruppe gebundene Motiv in höchstem Maße suspekt – aus der Sicht der nicht-verfolgten Deutschen. Diese, die sich als „Arierinnen“ definierten, verfügten durchaus über ein Unrechtsbewußtsein, aber eines, das treu und verläßlich auf die eigene Identitätsgruppe beschränkt blieb. So waren Taten gegen „Arier“ Unrecht und geeignet, ein Unrechtsbewußtsein der „Arier“ hervorzurufen – Unrecht an „Unseresgleichen“. Taten gegen Juden/Jüdinnen waren aus der Sicht der „Arier“ aber offensichtlich kein Unrecht und bewirkten keinerlei Unrechtsbewußtsein, denn die Anderen waren nicht Unseresgleichen. Die Sortierung von Menschen in die Einen und die Anderen und die der Sortierung folgende Entmenschung der Anderen macht es erst möglich, daß die Einen Taten ohne jedes Unrechtsbewußtsein tun können.

Statt sich auf Identitätsgruppen und auf Selbsterlittenes zu beschränken, müßte ein erweitertes Unrechtsbewußtsein sich auf den Gewaltakt der Kategorisierung selbst beziehen, der Kategorisierung der Anderen als Andere. Viele Kategorisierte kämen in den Blick, und das Subjekt „Frau“ löste sich in verschiedenste Akteurinnen auf, die wie andere Menschen auch leidtragen, mitleiden, nutznießen, ausführen, entscheiden, handeln. Mit einem Bewußtsein vom spezifischen Unrecht der totalitären Geschichte funktioniert auch die Festlegung auf eine Unrechtsordnung nicht mehr, deren Konsequenz die kollektive Entlastung einer Menschen-„Kategorie“ (Frau) ist. Das Entlastungsbedürfnis wird ebenso verdächtig wie die Identitätssuche, es bekommt eine politische Bedeutung, mit der alle gewohnten verständnisvollen Hinweise auf menschliche Geborgenheits- und Ruheansprüche auf nichts anderes als auf das Totalitäre des Konzepts selbst verweisen. Solange der Feminismus von eindimensionalen Thesen ausging, konnte das feministische Unrechtsbewußtsein weitgehend unbehelligt von seinen belastenden Seiten bleiben, es blieb damit auch unbehelligt von dem Faktum, das die Geschichte der totalen Herrschaft vorführt: daß deutsche Frauen – auch oder gerade wenn sie in einer weibliche Sphäre separiert waren im Zentrum des „nationalsozialistischen Bösen“ agierten (Sachse,1995,S.460-476).

Meiner Meinung nach befindet sich feministische Kritik zumindest indirekt bereits mitten in dieser Auseinandersetzung, auch wenn sie explizit selten auf den Totalitarismusbegriff zurückgreift. Viele konfrontieren sich seit längerem bewußt mit einer Realität, die den ordentlichen Trennungsversuchen zwischen unten, oben, Opfern, Tätern, gut, böse selten standhielt [5]. Die teils stolzen, teils dümmlichen Dichotomisierungen, die aus den ehemaligen Ordnungsversuchen und Prioritätssetzungen folgten, kann kaum noch jemand aufrechterhalten [6]. Viele sperren sich gegen den kollektiven Singular „Frau“, nicht um die Verhältnisse erneut zu neutralisieren, sondern um sich als vollwertige und verschiedene Zeitgenossinnen in der kleiner werdenden Welt ins Spiel zu bringen. Viele weisen den Sonderstatus der Entlasteten selbst zurück und sehen ihre „Würde“ gerade darin, in den Verstrickungen des Zwischenmenschlichen und Politischen, des Zweifels und der Selbstkritik zu handeln. Und da ist es schon paradox, daß es immer wieder fast ausschließlich Frauen sind, die sich mit diesen Fragen abmühen, bereit zu einer Herrschaftskritik, die immer radikale Selbstkritik einschließt. Die letztere halten die Urheber des Skandals – und das sind Männer – weiterhin selten für nötig. Trotz dieser ungeheuerlichen Tatsache bin ich der Meinung, daß auf deren Unrechtsbewußtsein nicht gewartet werden kann. Seit einiger Zeit kursiert das Wort Geschlechterdemokratie – analog zur Rassendemokratie. Bei allem pragmatisch-politischen Sinn, den dieser Terminus enthalten mag, wäre es m.E. dennoch konsequenter, schlicht Demokratie zu fordern. Das gilt auch oder gerade angesichts der Tatsache, daß dieses System vollkommen verbraucht erscheint und die Politik gegenüber der sich zunehmend vom Sozialen abkoppelnden Wirtschaft kapituliert: totalitärer Kapitalismus also. Wer das sagt, sagt zugleich totale Kapitulation: demgemäß könnten alle nichts anderes als kapitulieren, als unisono den Ungerechtigkeiten zustimmen, nicht begeistert zwar, aber dennoch unglücklich zustimmen. Demgegenüber steckte einmal in der Idee der Demokratie, daß dem Unrechtsbewußtsein der verschiedenen Menschen der allergrößte politische Wert zukommen muß, daß ihm öffentliches Gehör zu verschaffen und Raum und Wirkung zu geben ist – als ein permanenter Auftrag zur Veränderung (Shklar, 1992, S.139). Der Beweis ist nicht erbracht, daß die Idee untauglich oder abgewirtschaftet ist. Wenn Demokratie scheitert, scheitert sie an der Abwesenheit von Demokratie. Statt „alle Menschen sind gleich“ zu proklamieren, müßten Gesetze und Verhalten Gleichheit fördern (MacKinnon, 1996,S.125). Abstrakte Gleichheitsaussagen, wie sie die Menschenrechtserklärung der UNO enthält, machen nicht deutlich, daß es die Hierarchie ist, die abzuschaffen ist, nicht die Unterschiede, daß es also um eine Gleichheit geht, die nicht auf Identität, sondern auf dem Fehlen von Herrschaft beruht. Viele Frauen möchten Menschen statt Frauen sein.

Es wäre folgerichtig, wenn feministische Kritik Teil der Totalitarismusforschung würde. Menschen, deren Herkunft mit dem totalen Konstrukt „weiblich“ belegt und belastet ist, könnten geeignet sein oder sich geeignet machen, Phänomene totaler Herrschaft zu untersuchen und zu begreifen. „Begreifen bedeutet, sich aufmerksam undunvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellenundentgegenzustellen“ (Arendt, 1986, S.22). Dafür ist es notwendig, das diktatorische Herrschaftsmodell, nach welchem es in erster Linie nur Unterdrücker und Unterdrückte gibt, zu erweitern. Die Geschichte der totalen Herrschaft müßte unser Denken nicht zur Ruhe kommen lassen, und mit dieser Unruhe müßten wir uns auch zutrauen können, gegenüber totalitären Tendenzen in den parlamentarischen Demokratien aufmerksam zu sein: gegenüber jedem Versuch, Menschen überflüssig zu machen.

* Colloquium vom 05.06.1997

Anmerkungen

[1] Dabei sind in diesem Zusammenhang Mitglieder der deutschen nicht-jüdischen Gesellschaft gemeint Ausgebombte, Eyakuierte, Heimatlose, Witwen, Waisen, Verwundete etc. – nicht aber die expliziten Opfer des Naziregimes – die nach russischen Kriterien Vernichteten und Verfolgten. Es geht hier auch nicht um die Kontroversen zur Kollaboration von Judenräten, Kapos etc.

[2] Nicht-herrschaftlich im Unterschied zu antiherrschaftlich, denn das „anti‘ setzt wiederum dieFestschreibung eindeutiger Gegner schon voraus.

[3] Die folgenreiche Interpretation „Gedankenlosigkeit“ müßte konfrontiert werden mit der Interpretation „Verdrängung“, die besagt, daß die menschliche Psyche gewisse schockierende Eindrücke nicht aufnehmen und nicht verarbeiten kann und sie somit dem unwillkürlichen subjektiven Vergessen preisgibt. Während der Begriff „Gedankenlosigkeit“ auf einen moralischen Zusammenbruch verweist, bewegen sich die Verdrängungskonzepte jenseits von moralischen und politischen Ansprüchen. Sie fördern damit auch die Entpolitisierung des Problems

[4] Was für Eichmann routinierte Arbeit und sonst nichts war – Abfahrts- und Ankunftstermine aufeinander abstimmen, Fahrpläne festlegen, Züge umdirigieren, Ärger mit Bahnbehörden und Verkehrsministerium schlichten, die richtige Anzahl von Juden an den Sammelstellen bereitstellen – war für die Opfer der Untergang. Eichmann brauchte sich nicht einmal „der Stimme des Gewissens verschließen“, denn „die Stimme des Gewissens in ihm sprach genauso wie die Stimme der Gesellschaft, die ihn umgab“

[5] Siehe z.B. auch: Fachtagung „Sexuelle Gewalt durch Frauen und Mädchen. Wahrnehmen Weiterdenken, Handeln“, 4.-6.11.1996 in Bielefeld (Dokumentation Barbara Kavemann, Manuskript 1996)

[6] Das bedeutet nicht, Männer aus der Pflicht zu entlassen. Im Gegenteil: Das Problem muß zu ihrem Problem werden, solange das Konstrukt, das ihr Konstrukt ist, real existiert und reale, nicht eingebildete Verhältnisse schafft. So sitzt eine Wissenschaftlerin oder eine Kranfahrerin nicht zu Hause, weil sie ein Konstrukt ist, sondern weil sie keine Arbeit hat, aber daß sie keine Arbeit hat, ist Folge des Konstrukt. Hier ist die Sachlage eindeutig: das „Geschlecht“ als totalitäre Kategorie ist eine männliche Kreation. Die Urheber haben mit ihrer Schöpfung offenbar wenig Probleme, denn ein totales Konstrukt war „der Mann“ nie, eher eine vergleichsweise vielfältige Möglichkeit – jedenfalls konzeptionell. Männer wären also gefragt als Dekonstrukteure ihrer eigenen Herstellung.

 

 

Literatur

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