Die Wahnsinnsfrage der Aufklärung – Das Dispositiv der Psychiatrie
Transformationen eines Laboratoriums*
Grundlagen der Verwahrung
Robert Castel beginnt „Die psychiatrische Ordnung“ [1] mit dem Artikel 9 eines Gesetzes der revolutionären, konstituierenden Versammlung, das am 27. März 1790 die Abschaffung der „lettres de cachet“ festlegt:
„Die wegen Wahnsinn gefangengehaltenen Personen sind (…) auf Ansuchen unserer Staatsanwälte von den Richtern in der gewohnten Weise zu vernehmen und auf ihre Anweisungen hin von den Ärzten zu untersuchen, welche sich unter Aufsicht der Bezirksvorsteher über die wirkliche Situation der Kranken erklären werden, damit diese je nach dem Urteil über ihren Zustand freigelassen oder aber in Hospitälern gepflegt werden, die zu diesem Zweck bezeichnet werden“ [2].
Der Artikel 9 setzt demnach voraus: Richter und Staatsanwälte – die Justiz; sie weisen Ärzte an – die Medizin; diese leisten ihre Untersuchung unter Aufsicht der Bezirksvorsteher – der örtlichen Verwaltung; danach geht das ärztliche Untersuchungsergebnis an die Richter zurück, die es in ihr Urteil darüber einbeziehen, ob jene Personen „freigelassen oder aber in Hospitälern gepflegt werden, die zu diesem Zwecke bezeichnet werden“.
Folgt man Castel, dann ist in diesem Artikel 9 des Gesetzes zur Abschaffung der „lettres de cachet“ die „gesamte moderne Problematik des Wahnsinns“ enthalten, die bisher die Grundlagen seiner sozialen Verwahrung und die seines anthropologischen Status bestimmt. In dieser Problematik sind drei Aspekte entscheidend. Erstens, der politische Kontext eines revolutionären Bruchs zwischen Absolutismus und Rechtsstaatlichkeit: Justiz und Verwaltung beziehen sich nicht mehr auf den Souverän und auch nicht mehr auf die Familie, wie dies für die „lettres de cachet“ gilt, eine königliche Anweisung zur Inhaftierung, die von der Familie, der örtlichen Verwaltung, oder von ministeriellen Beamten bei Hof ausgehen konnte, sondern Justiz und Verwaltung beziehen sich ab jetzt auf die Ärzte. Zweitens, das neue Auftreten alter Instanzen: Justiz, Verwaltung und Ärzte sind auch schon im Absolutismus vorhanden, aber sie gehen innerhalb der Rechtsstaatlichkeit neue Beziehungen ein, die der Medizin eine tragende Rolle zuweisen, richtiger, zuweisen werden, denn noch fehlt der Medizin für diese tragende Rolle der „Text“. Drittens, sollte das Urteil des Richters unter Einbeziehung der ärztlichen Untersuchung auf Wahnsinn lauten, dann werden die im Absolutismus in Zucht-, Arbeits- und Armenhäusern „gefangengehaltenen Personen“ neu definiert: „dank der Besonderheiten des Apparates, der (sie) fortan behandeln wird“ [3], kommt ihnen ab jetzt der „Krankenstatus“ des Wahnsinnigen zu, seine bisher „heilige Krankheit“ wird profaniert.
Mit diesen Aspekten sind vier Strukturelemente verbunden, die bis heute die Geschichte der Psychiatrie, bezogen auf die Grundlagen ihrer sozialen Verwahrung, bestimmen. Zum einen bilden die neuen, rechtsstaatlichen Beziehungen zwischen Justiz, Verwaltung und Ärzten ein institutionelles Dispositiv, das ein Korpus von Fachleuten und Laien, die Wahnsinnigen, umfaßt; zum zweiten gründet sich die tragende Rolle der Medizin auf ein ärztliches Wissen, dem Justiz und Verwaltung, also in erster Linie die Polizei, vorausgesetzt ist; zum dritten ist die aus diesem Wissen resultierende Behandlung Eingriffstechnologie, die auf „Besserung“ unter der Bedingung einer Verurteilung zielt; zum vierten ist der Ort dieser Behandlung auch heute noch eine „Sonderanstalt“, obwohl sich der politische Kontext zwischen der Wende 18./19. Jahrhundert und heute, der Wende 20./21. Jahrhundert, fundamental gewandelt hat.
Heute vollzieht sich eine Transformation der Psychiatrie, die ihrer Entstehung zur Zeit des revolutionären Bruchs zwischen Absolutismus und Rechtsstaatlichkeit entspricht. Obwohl sich diese Transformation jedoch vollzieht, wird die „Sonderanstalt“ der Psychiatrie nicht aufgegeben werden, da ihre Grundlagen der sozialen Verwahrung ein „Milieu“ bereitstellen, das als „Laboratorium“ zu nutzen ist. Das Paradigma für dieses „Laboratorium“ ist das Kloster, „eine hervorragende Machtmaschine (…), die (bisher) systematischste institutionelle Apparatur, um die Persönlichkeit zu töten und auf der Basis dieser Auslöschung eine neue, vollständige Definition des Menschen zu rekonstruieren. Kurzum (so Castel), das technisch entwickeltste der Laboratorien für Experimente am Menschen“ [4]. Keine weltliche Institution der Moderne oder Postmoderne hat das „Laboratorium“ Kloster je erreicht – auch nicht die Psychiatrie.
Zwar verfolgt Pinel, der entscheidende Apologet der modernen Psychiatrie, eine am Kloster orientierte Ordnungs-Utopie, da die Einschließung die Bedingung jeder Therapie des Wahnsinns sei, insofern nur der Bruch mit der äußeren Welt jenes „neue gesellschaftliche Laboratorium“ für die Umprogrammierung des Menschen möglich mache, in dem Pinel den Wahnsinnigen schließlich die Ketten der absolutistischen Inhaftierung abnimmt, während Esquirol, sein Zeitgenosse, die „Sonderanstalt“ selbst zum „Werkzeug der Heilung“ erklärt, aber diese Ordnungs-Utopie schlug in den Asylen des 19. Jahrhunderts ins Gegenteil um. Daß ihre institutionelle Apparatur „tötet“, die das individuelle Verhalten Tausender unterversorgter Menschen durchorganisiert, dies ist eine Kritik, welche die Psychiatrie zunehmend lauter begleitet. Wende 19./20. Jahrhundert führt diese Kritik zu einer institutionellen Veränderung, in der das, was heute kommt, angelegt ist.
Status des Wahnsinnigen
Wenn sich der Wahnsinnige im Rahmen dieser Grundlagen seiner sozialen Verwahrung, analog dem Mönch, einer Umformung seiner Persönlichkeit unterziehen soll, worin bestand dann sein anthropologischer Status? In nichts anderem, als in der Definition des Menschen, die die Aufklärung innerhalb jenes revolutionären Bruchs vornimmt. Die subjektive Vernunft hat die objektive Vernunft Gottes abgelöst. Der Mensch als Gottes Geschöpf ist passé. Ab jetzt gehört er sich selbst und bringt sich selbst hervor. Dabei besteht er aus zwei Teilen, in denen sich die Geist-Körper-Trennung der Religion reproduziert. Er existiert im Körper, insofern er ein empirisches Wesen ist. Und er ist sich selbst als Begriff vorausgesetzt, der sich einerseits auf dieses empirische Wesen bezieht, andererseits verhält er sich unabhängig zu ihm. Deshalb ist dieser Begriff transzendental, er ist auf den empirischen Menschen bezogen – und auch nicht. Selbst wenn alle Menschen krepieren, der Begriff des Menschen bleibt vorausgesetzt, was Descartes in den „Meditationen“ am Beispiel von Wachs demonstriert, das, obwohl geschmolzen, dem Begriff nach weiterhin vorhanden ist.
Auch der Wahnsinnige hat den Begriff des Menschen nie gefährdet. Er wird lediglich als empirischer Teil des Menschen eingestuft, der sich selbst über den transzendentalen Begriff nicht mehr im Griff halten kann. „Ich denke, also bin ich“, sagt Descartes. Und Kant befiehlt das „Ich denke, was alle meine Handlungen begleiten muß“. Der Wahnsinnige, der sich nicht mehr über den Begriff im Griff hat, ist ein Irrer. Denn er irrt – offensichtlich unbeirrt. Würde er sagen, er habe sich geirrt, würde er nicht hören, er sei irre. Im Französischen wird von „aliéné“ gesprochen, von einem Menschen, der den anderen „fremd“ geworden ist. Wahrscheinlich ist er außer sich geraten. Hätte er seine Traumatisierung, seine Verletzung, seinen Haß, seine Wut interniert, die anderen hätten ihn wiedererkannt. So aber wird er interniert, bis er an sich selbst irre, oder bis er sich selbst fremd geworden ist. Das Fremde ist das Unheimliche. Es ist das, was im Heim verheimlicht und in der „Sonderanstalt“, die noch heute undurchdringliches Schweigen umgibt, hervorgezerrt wird. Es ist das Andere der Vernunft, ihre Unvernunft, die die Vernunft nicht dulden kann. Wer sich über den Begriff im Griff behalten will, hat sich ununterbrochen zu fragen: bin ich abnorm oder normal?
Mittels dieser Frage hat sich das Subjekt zum Objekt zu machen, damit es in seinem Verhalten „objektiv“ ist. Dabei hat es seinen empirischen Teil dem transzendentalen Teil unterzuordnen, indem es seine „Begriffsstutzigkeit“ auf den Begriff bringt. Daß diese beiden, in einem einzigen Individuum enthaltenen Teile eine Ichspaltung bedingen, ist klar. Denn diese Teile, die hier dem Geist und dort dem Körper entsprechen, schließen sich wechselseitig aus. Für den anthropologischen Status des modernen Wahnsinns heißt dies, daß seine Problematik in nichts anderem als in dieser Ichspaltung besteht. Sie ist normal, wird aber abnorm, wenn jemand von der Norm abgeführt wird. Dann widerspricht das, wie ich bin, dem, was ich zu denken habe. Dann ist das, was ich begehre, nicht erreichbar. Dann ist der Mangel, der Verlust, die Leere mit nichts – und schon gar nicht mit einem Begriff – zu füllen. Ob diese Ichspaltung Hysterie, Schizophrenie, Dementia praecox oder endogene Psychose genannt wird – Namen, die nichts als eine Alienisierung oder „Verfremdung“ des Bekannten sind – immer stimmt diese Ichspaltung mit der modernen Subjektstruktur überein, die aus der mönchischen Geist-Körper-Trennung resultiert.
Das gespaltene Ich zerspringt dann, wenn sein existentielles Begehren nicht mehr zu objektivieren, nicht mehr zu verdinglichen, nicht mehr zu instrumentalisieren, nicht mehr auf eine Regel zu bringen ist. Dann, wenn es in Panik umschlägt, die dem Verlust der Lust geschuldet ist. Denn das Panische der Panik verweist auf Pan, den mythischen Inbegriff der Lust. Ihr Verlust führt zu dem, was heute von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „zweitgrößte Krankheitslast der Industrieländer“ bezeichnet wird, das heißt, sie führt zur Depression oder zu einer Niedergeschlagenheit, in der das Panische „manisch“ wiederkehrt. Die Statistik der WHO zeigt die Verkehrung von Lust in Last, und sie verweist darauf, daß diese Verkehrung ein Effekt der Industrieländer ist. Denn ihre Fabriken begannen in den Klöstern. Unter der Voraussetzung mönchischer Geist-Körper-Trennung, wurden sie in den Zucht-, Arbeits- und Armenhäusern des Absolutismus weiterentwickelt nach der Maxime, daß der Körper seine Lust zugunsten eines Ungeistes des Kapitalismus zu lassen hat, der in der Moderne den Geist Gottes ersetzt.
Im modernen Subjekt-Objekt-Verhältnis wiederholt sich das mönchische Geist-Körper-Verhältnis, doch verschärft. Denn der Widerspruch von Geist und Körper wird nicht mehr im Maßstab der Schöpfung über Gott und Teufel, sondern er wird im Maßstab des Individuums über Vernunft und Unvernunft ausgetragen. Der Teufel läßt die „Hölle“ auf Erden los, das Individuum hat diese „Hölle“ in sich selbst einzuschließen. Es hat seine Unvernunft zugunsten seiner Vernunft zu internieren, als ob es die Anstalt der Fabrik um so mehr mit sich selbst zu veranstalten hat, je weniger es in eine „Sonderanstalt“ kommen will. Dabei verkehrt es seine Lust in eine „Krankheitslast“, die der Gesundheit dient. Würde es seine Lust nicht in diese „Krankheitslast“ verkehren, gälte es als krank. Daraus folgt, daß dieser Begriff von Gesundheit „geisteskrank“ ist: er ist krank durch einen Geist, dessen Ungeist des Kapitalismus sich heute mehr denn je als „geistige Gesundheit“ (mental health) ausgibt.
Konstruktion des Gesellschaftsvertrags
Der Effekt dieser „mental health“, die Depression, verweist auf eine Repression, die nicht mehr kenntlich ist. Sie ist als Prävention internalisiert, die sich heute auf zweihundert Jahre Aufklärung verlassen kann. Denn seitdem hat meine Selbsterkenntnis die Störung durch meinen abgespaltenen und niedergeschlagenen Teil vorherzusehen. Seitdem hat die Frage, bin ich normal oder abnormal, alle meine Handlungen zu begleiten. Seitdem habe ich den Aufschub meines existentiellen Begehrens zu leisten, damit jene vorhergesehene Störung verhindert werden kann. Seitdem ist meine Selbstbeherrschung an eine Rationalisierung mittels einer Ratio gebunden, die in den „Laboratorien“ der „Sonderanstalten“ des 19. Jahrhunderts über „moralische Behandlung“ eintrainiert wird. Das „Moralische“ ist auf das Recht, die „Behandlung“ ist auf die Medizin bezogen: eine Zweiteilung, in der sich die transzendental-empirische Zusammensetzung des Menschen ebenso wiederholt wie die Zusammensetzung von Staat und Gesellschaft, da sich der Staat zum Empirischen der Gesellschaft seinerseits transzendental verhält. Auch er bleibt – wie der Begriff des Menschen – vorausgesetzt, selbst wenn die Gesellschaft zugrundegeht, was vor allem für den ersten und zweiten Weltkrieg zutrifft.
Die Form dieser Voraussetzung ist die des Rechtsstaats, der sich in Frankreich innerhalb jenes revolutionären Bruchs durchsetzt, in Deutschland und Österreich mit den Republiken nach dem ersten Weltkrieg. Der Rechtsstaat basiert auf einem Gesellschaftsvertrag, dessen Legalismus sich zum Despotismus des Absolutismus als Gegenentwurf versteht. Nach Hobbes wird dieser Gesellschaftsvertrag dadurch geschlossen, daß alle Bürger – und über sie vermittelt die Bürgerinnen – ihre Vernunft freiwillig an den „Leviathan“ abgeben, an jenes apokalyptische Ungeheuer, das Hobbes als Bild für den Rechtsstaat der kapitalistischen Industriegesellschaft einsetzt. Doch bleiben die BürgerInnen nicht vernunftlos zurück. Denn sie verfügen über zweierlei Vernunft, wie es sich für ihre Ichspaltung gehört. Die eine ist die private, die andere ist die öffentliche Vernunft. Beide sind sowohl getrennt als auch verbunden. Dasselbe trifft für Staat und Gesellschaft zu. Denn soweit die BürgerInnen ihre öffentliche Vernunft auf den Staat übertragen, ist er von der Gesellschaft getrennt, soweit ihre öffentliche Vernunft in ihrer privaten enthalten ist, sind Staat und Gesellschaft verbunden. In eben dieser Verbindung besteht der Gesellschaftsvertrag. Er schließt ein, daß die BürgerInnen dem Staat freiwillig unterworfen und darum gesellschaftlich frei sind, was jedoch nur funktioniert, wenn sie ihre freiwillige Unterwerfung als Selbstunterwerfung nachvollziehen, das heißt, ihre öffentliche Vernunft muß in ihrer privaten Vernunft wirksam sein.
Kurzum, sie haben sich als Subjekt selbst zum Objekt zu machen. Nur dann sind sie im rechtlichen Sinne, der immer auch ein moralischer ist, objektiv. Nur dann handhaben sie sich selbst, und ein sie behandelnder Arzt erübrigt sich. Nur dann sind sie Rechtssubjekte, die mündig sind. Nur dann fallen sie sich nicht selbst ins Wort, indem ihr abgespaltener oder niedergeschlagener Teil, außer sich oder unbeirrt, widerspricht. Nur dann sind sie nicht an sich selbst irre oder gar sich selbst fremd. Nur dann kann man mit ihnen rechnen, was angesichts dessen, daß der Gesellschaftsvertrag das Modell aller Vertragsverhältnisse ist, unabdingbar ist. Nur dann werden „private vices“ in „public benefits“ umgemünzt – private Laster werden zu öffentlichen Tugenden, die sich rechnen und rechtens sind. Wer „Anstalten macht“, kommt in die Anstalt. Er wird entmündigt, damit sein Widerstand im Verstand durch eine „moralische Behandlung“ gebrochen wird.
Bezogen auf das Recht, drückt die Entmündigung aus, daß derjenige, der „nicht recht bei Verstand“ ist, die ihm vorausgesetzte, freiwillige Unterwerfung unter den Staat gesellschaftlich nicht an sich selbst nachvollzieht oder, so Castel, „die Spezifik des Wahnsinnigen besteht darin, sich der Gleichschaltung (durch die Vertragsgesellschaft) so heftig zu widersetzen, daß man, um ihn der neuen Sozialordnung einzufügen, gezwungen ist, ihm einen eigenen Status zu geben, der gleichzeitig eigentümlich und zu dem der Vertragsbürger komplementär ist“ [5]. Eigentümlich ist dieser Status aufgrund seiner Abweichung, komplementär ist er, weil diese Abweichung die Norm stützt. Dem Wahnsinnigen wird vorübergehend das Maul gestopft, das er – vielleicht – wieder aufmachen darf, wenn er „zur Räson“ gebracht ist. Bezogen auf die Medizin stellt sich das Problem, daß sie den Beweis für die Entmündigung liefern muß. Sie muß „eine medizinische Begründung konstruieren“ [6], die das Fehlen der öffentlichen Vernunft in der privaten plausibel macht. Sonst bricht das Recht den Gesellschaftsvertrag, womit es sich ebenso despotisch wie im Absolutismus verhielte. Mit diesem Problem ist die Medizin jedoch nur innerhalb der Psychiatrie konfrontiert. Weder bezogen auf die Klinik noch bezogen auf das Gefängnis, weder bezogen auf den wirklich Kranken noch bezogen auf den Verbrecher stellt es sich. Der wirklich Kranke wird behandelt und der Verbrecher hat gehandelt. Aber der Wahnsinnige wird interniert, damit er nicht handelt. Seine Behandlung soll den Beweis für etwas liefern, was sie verhindert.
Daraus folgt, erstens, daß die bereits vollzogene, rechtliche Bestrafung im nachhinein medizinisch begründet wird, zweitens, daß diese Begründung nur eine präventive sein kann: sie nimmt etwas vorweg, was noch gar nicht eingetreten ist. Anders gesagt, die Medizin der Psychiatrie muß im Auftrag von Justiz und Verwaltung eine Krankheit konstruieren, die es noch gar nicht gibt und die, wenn es sie geben sollte, nichts weiter ist, als der Beweis für eine Verurteilung, die willkürlich ist. In dem Maß aber, wie dieser Beweis im nachhinein geliefert wird – was nicht aus-, sondern einschließt, daß er mit zunehmender „Medizinierung“ der Psychiatrie auch im vorhinein zuhanden sein kann – in dem Maß zeigt sich zum Einen, daß das Recht doch einen Rechtsbruch begeht, zum Zweiten, daß die Vertragsgesellschaft sich dann als Fiktion erweist, wenn die staatliche Gewalt mittels Justiz und Verwaltung ohne Beweis interveniert und interniert, zum dritten, daß die medizinische Begründung des Wahnsinns jenen Rechtsbruch zu verdecken hat, dessen Willkür dem Gewaltmonopol des Rechtsstaats geschuldet ist, dem „Leviathan“, der bei Hobbes gesellschaftlichen Schutz nur um den Preis der staatlichen Bedrohung aller verspricht. Darum statuiert er, je nachdem, ein Exempel, das er sich von der Psychiatrie, wenn es statuiert ist, medizinisch „absegnen“ läßt.
Therapie als Buße
Dennoch hat sich zwischen Absolutismus und Legalismus etwas Grundlegendes verändert, da der Rechtsstaat sein Gewaltmonopol über Tod und Leben – ein Gewaltmonopol, was ihn als obersten Heerführer einsetzt – nicht mehr unmittelbar vollstreckt, wie der Souverän, sondern mittelbar. Seine staatliche Gewalt wird gesellschaftlich verwaltet, ohne daß das eine, der Staat, mit dem anderen, der Gesellschaft, identisch ist. Gleichzeitig sind sie verbunden. Deshalb durchdringt das Allgemeine des Staats das Besondere der gesellschaftlichen Institutionen, indem sich zwei Dispositive verschränken: dort die vom Staat ausgehende Gesetzesmacht, hier die von der Gesellschaft ausgehende Biomacht, unter der nichts anderes zu verstehen ist als das Leben der Individuen, die sowohl zu einer Bevölkerung zusammengeschlossen als auch einzelne Körper sind. Sie haben in der kapitalistischen Industriegesellschaft in erster Linie nützliche Körper zu sein, was ihre Disziplinierung zu leisten hat, die zugleich auf das sie verwaltende Recht und auf die sie bewirtschaftende Ökonomie verweist. Die Psychiatrie ist im Zentrum der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem plaziert. Doch obwohl sie mittelbar auf die staatliche Gewalt bezogen ist, verhält sie sich gleichzeitig unmittelbar zu ihr, wie dies ihre Deckung des – mit der Vertragsgesellschaft unverträglichen – Rechtsbruchs zeigt, der im undurchdringlichen Schweigen ihrer „Sonderanstalten“ untergeht.
Einerseits auf das Recht, andererseits auf die Medizin bezogen, verwaltet die Psychiatrie die Körper transzendental-empirisch. Denn sie werden im Schnittpunkt von Allgemeinem und Besonderem, dort in Bezug zur Gesetzes-, hier in Bezug zur Biomacht, in ihren „Laboratorien“ diszipliniert. Es diene zu ihrem Besten, heißt es, da sie ihr rechtlich entmündigtes und darum gesellschaftlich verfallenes Leben über eine Krankheitsdiagnose zurückerhalten, die nicht nur den Beweis für ihre Bestrafung erbringt, sondern sie, diese Bestrafung, kann auch mittels Therapie abgebüßt werden, bis der Entmündigte wieder mündig oder gesellschaftsfähig ist. Sollten sich aber Wahnsinnige „über alle denkbaren Mittel der Bestrafung lustig machen“ [7], dann kann die ärztliche Technik des Leben-Machens auch in ein Sterben-Lassen übergehen, ohne daß dies zur
Erscheinung käme. Denn wer das, was zu seinem Besten dient, nicht akzeptiert, ist selber schuld. Zwischen eventuellem „Mundtot-Werden“ und eventueller Mündigkeit hat der Wahnsinnige die Gründe für seine Entmündigung zu gestehen, sprich, zu bestätigen, was seine Bestrafung beweist, die als Therapie der empirischen Beobachtung und der transzendentalen Beurteilung unterliegt. Aus der Verbindung von körperlichem Symptom und geistiger Norm geht ein ärztliches Macht-Wissen hervor, das mittels des „winzigen Mechanismus der Prüfung“ gewonnen wird. Sie setzt sich nach Foucault aus dem Zeremoniell der Gesetzesmacht und den Experimenten der Biomacht zusammen. Der Wahnsinnige wird bei seinem Geständnis jener Norm unterworfen, während an seinen Symptomen herumkuriert wird. Aus beidem folgen „heimliche Dressuren“, die für das öffentliche „Justiztheater“ unverzichtbar sind, da die spektakulären Strafen des Absolutismus abgeschafft sind.
„Ob Justiz oder Medizin“, so Castel, „es dreht sich immer um dieselbe Ordnung“: die Justiz schreibt die Gesetze vor, deren mittelbare Gewalt die Psychiatrie verwaltet, indem sie in jedem Entmündigten die Abweichung zugunsten der Norm seiner Mündigkeit aufspürt. Sie ist es, die das Gesetz in die Norm, das Recht in die Kontrolle, die Strafe in eine Technik übersetzt, die nur dem Namen nach eine medizinische ist. Der Sache nach ist die Psychiatrie eine „politische Wissenschaft“, da sie ein „Verwaltungsproblem“ mit den Mitteln der Medizin gelöst hat. „Durch die Medizin ist der Wahnsinn ‘verwaltbar’ geworden – und wenn es eine Repression gibt, so liegt sie hierin“ [8]. Diese Repression drückt sich durch ihr Gegenteil aus, durch das „Mitleid“, das die sozial-staatliche Fürsorgeleistung der Psychiatrie, in deren Schutz die Bedrohung abwesend scheint, philanthropisch fundiert. Daß diese Repression nicht abwesend ist, geht aus der Vormundschaftsbeziehung hervor, die der Arzt zunehmend und unbestritten gegenüber dem Entmündigten übernimmt. Dabei kehrt im Legalismus „des Arzt-Patienten-Verhältnisses der Despotismus einer (paternalistischen) Souveränitätsbeziehung wieder. Denn der Wahnsinnige kann seine Menschlichkeit nur durch einen Unterwerfungsakt vor einer souveränen, in einem Menschen verkörperten Macht zurückgewinnen. Als Habenichts, der noch nicht einmal Vernunft besitzt, hat er von sich aus keinen Zugang zur Vertragsordnung“ [9]. Dieser Zugang ist heute zwar erstritten, doch ob sich dieses „Patientenrecht“ jeweils durchsetzen läßt, steht dahin.
Daß sich in diesem institutionellen Dispositiv, in dem ein Heer von Laien einem Korpus von Fachleuten mit einem medizinisch legitimierten Verwaltungswissen gegenübersteht, keine „Wissenschaftlichkeit“ der Psychiatrie herausbilden kann, leuchtet ein. Stattdessen ist diese „Wissenschaftlichkeit“ Eingriffstechnologie. Ihre Begriffe, mit denen sie den Wahnsinnigen in den Griff nimmt, gehören einem veralteten medizinischen Code an (dem der nosographischen Klassifikation des 18. Jahrhunderts): er wird auf das neue Milieu der „Sonderanstalten“ übertragen und in ihren „Laboratorien“ als „autoritäre Pädagogik“ der „moralischen Behandlung“, ohne Bezug zur klinischen Arbeit, durchgepaukt. Für die Entstehung der modernen Psychiatrie gilt darum, so Castel, daß sie zwar zu keiner Veränderung in der Ordnung des Wissens, aber zur Herausbildung einer neuen Gruppe von Fürsorgefachleuten geführt hat. Sie treten im Kontext einer Modernitätsschwelle auf, die, mit Foucault gesprochen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts überschritten wird, als die Biologie auf der Ebene der Politik erscheint. Die weitreichenden Perspektiven dieser Überschreitung drückt ein „prophetischer“ Zeitgenosse wie folgt aus: „Ohne Zweifel stellt die Frage der Irren einen der bedeutendsten Zweige der politischen und sozialen Medizin dar, deren Walten im Leben der modernen Gesellschaften immer mehr Raum einnehmen wird“ [10].
Erbbiologische Aussichtslosigkeit
Das Überschreiten dieser Modernitätsschwelle tangiert das institutionelle Dispositiv der Psychiatrie grundlegend. Ihr paternalistisches Schema der „moralischen Behandlung“, die den Wahnsinnigen dem Kind gleichsetzt, transformiert sich. Die unendliche Perfektibilität des endlichen Menschen, die für die „autoritäre Pädagogik“ der Psychiatrie die aufklärerische Rahmenbedingung abgab, wird reformuliert. Denn die Biologie auf der Ebene der Politik formt die Disziplinarstruktur der Biomacht ins Evolutionäre um. Bisher war die Verwaltung und Bewirtschaftung des Wahnsinns in philanthropischen Händen, jetzt gerät sie in die des Rassismus. Dieser Rassismus hat sich zwar vom Fortschrittskontinuum der Aufklärung noch nicht gelöst, aber er durchbricht ihre Rahmenbedingung. Dabei gleitet die unendliche Perfektibilität des endlichen Menschen im Zuge ihrer evolutionären Umformung ins Vormenschliche ab. Die Rückfälle des Wahnsinns stürzen auf der empirischen Ebene dorthin, wo Darwins „Affe“ seinen „tierischen“ Schädel erhebt. Der transzendentale Begriff des Menschen bleibt selbstverständlich erhalten, doch er lädt sich mit der Hypothek einer Arterhaltung auf, der die Entartung als Horror entgegensteht.
Der Ort dieses Horrors ist die „Sonderanstalt“, da sie es ist, die ihre Insassen „vertiert“. Deshalb entsteht die erste Degenerationslehre in der Psychiatrie, die endlich ihren Anschluß an die allgemeine Medizin mittels eines Organizismus finden will, der Darwins Evolutionstheorie rezipiert. Morel, dessen „Traité des dégénérences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine“ (Paris 1857) für diesen gesuchten Anschluß an die Medizin bahnbrechend ist: Morel ist nur ein Name für viele, die wie Griesinger, Kraepelin (u. a.) am Wahnsinnigen eine „abnorme Abweichung vom normalen menschlichen Typus“ durch eine rezessive Vererbung diagnostizieren. Morel setzt dieser Rückläufigkeit eine „vorgreifende Prophylaxe“ entgegen. Sie vertieft die medizinisch-moralische Prävention der Aufklärung medizinisch-erbbiologisch unter Bezug auf die Evolution, die Darwins Vetter Galton eugenisch inspiziert. Das von der Psychiatrie ausgehende Konzept Morels ist ebenso exemplarisch dafür, daß die Entartung zum Gegenstand der Medizin innerhalb der „Sonderanstalt“ wird, wie dafür, daß ein Heer von Fürsorgefachleuten sich mit hygienisch-eugenischer Zielsetzung über die „Sonderanstalt“ hinaus auf den Weg in die Gesellschaft macht. Denn die Menschheit muß gerettet werden, so Morel: „Wir haben es nicht mehr mit einem einzelnen Menschen, sondern mit der ganzen Gesellschaft zu tun, und die Kraft der Mittel muß der Bedeutung des Zieles entsprechen“ [11]. Wer immer diesen, aus der Psychiatrie heraus erschallenden Ruf des Arztes gegen die Entartung der Art aufnimmt, „alle (sind) zum Werk der Regeneration“ [12] und damit „zum Heil“ herausgefordert.
Mit diesem Aufruf kehrt sich das Verhältnis zwischen Arzt und Gesellschaft um. Wenn der Arzt bisher, gemäß Pinels Konzept, mit der Welt außerhalb der „Sonderanstalt“ brach, dann kehrt der Arzt jetzt in diese Welt zurück und dies zu einem Zeitpunkt, als die Schärfe der Psychiatrie-Kritik ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts jener ab den 60er Jahren unseres Jahrhunderts entspricht. Die Verfechter dieser Kritik wandern aus der „Sonderanstalt“ aus und gründen „Landkommunen“. Gleichzeitig nimmt die Psychiatrie im Widerspruch dazu, daß ihre Bezeichnung (Reil 1803) den Seelendienst ebenso verhöhnt, wie die Idolatrie den Bilderdienst, eine psychologische Richtung: Psychoanalyse und Behaviorismus werden rezipiert. Die Krise der Psychiatrie geht Wende 19./20. Jahrhundert in diesen auf heute verweisenden Prozessen der Desinstitutionalisierung und Psychologisierung jedoch nicht auf. An sich hätte das Asyl, das nach Castel Wende 19./20. Jahrhundert „kurz vor dem Zerplatzen“ steht, seine Tore ganz schließen müssen. Aber die neue, expansive Rolle des Arztes und ihr, von Morel ausgegebenes Postulat, „was in den Asylen geschieht, muß nach außen ausgedehnt werden“ [13], dieses Postulat führt zu einer Neubegründung der Psychiatrie unter der Bedingung, daß sich die Nacht desto mehr über ihre Asyle ausbreitet, je mehr der Arzt in seiner Funktion als Psychiater ein unbegrenztes, gesellschaftliches Interventionsfeld in Angriff nimmt. Prophylaxe und Gutachtertätigkeit sind sich ausdifferenzierende Zweige einer sozial-politischen Medizin, die in erster Linie Sozial- und Rassehygiene in Verbindung mit der Eingriffstechnologie der Eugenik ist. Ihre binäre Logik von Aufartung und Ausmerze tritt als evolutionäres Schema an die Stelle der autoritären Pädagogik, die den Wahnsinnigen dem Kind gleichsetzte. Denn jetzt wird die erbbiologische Entartung des Wahnsinnigen – unter Anschluß an die allgemeine Medizin – in Angriff genommen, die sich von der Eugenik eine effektivere Besserung als von der „moralischen Behandlung“ verspricht.
Euthanasie-Aktion
Damit sind alle Strukturelemente innerhalb und außerhalb der „Sonderanstalt“ gegeben, die für die Euthanasie des Nationalsozialismus in der Mitte unseres Jahrhunderts entscheidend sind: erstens Heil- und Pflegeanstalten mit aussichtslosen Fällen, da die Referenz ihrer Behandlung nicht mehr die Moral, sondern die Erbbiologie ist; zweitens ein Heer von Fürsorgefachleuten oder Sozialtechnikern, die längst vor 1933 in den beiden ersten Republiken Deutschlands und Österreichs auf die Gesundung des „Volkskörpers“ zielen; drittens die Ausweitung des psychiatrischen Gutachterwesens, das für die Euthanasie-Aktion entscheidend ist. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch Sterilisation (bei Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein u. a.) liegt bei Amtsantritt des demokratisch gewählten Reichskanzlers Hitler, verfaßt von zwei Psychiatern (Rüdin und Rutt), bereits vor. Hitler braucht es 1933 nur noch zu ratifizieren (400.000 Sterilisationen zwischen 1934-1939). Mit Hitlers Amtsantritt reaktiviert und radikalisiert sich der „Leviathan“ des bürgerlich-kapitalistischen Rechtsstaates, der bedingt, daß die mit seiner Gesetzesmacht verschränkte Biomacht in dem Maß von unten kommt, wie seine Basis der Gesellschaftsvertrag ist. Er schließt ein, daß in der privaten Vernunft die öffentliche Vernunft enthalten ist, die sich zur rassistischen Norm gewandelt hat. Dementsprechend wird die NSDAP als Partei und Bewegung von der Bevölkerung und ihrer Begeisterung für sozialtechnisch einwandfreie Körper getragen. Auch das 1935 erlassene Gesetz gegen Rassenschande in der Ehe, das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“, stößt auf keinen Widerspruch.
Die eugenisch-rassistische Disziplinierung der BürgerInnen wird über eine Biomacht-Propaganda intensiviert, die gleichzeitig auf das Leben-Machen durch Aufartung, und auf das Sterben-Lassen durch Ausmerze zielt. Sterilisation und Eheverbot hier, Euthanasie dort: beides sind zwei Seiten einer Sache, deren Ratio die Rationalisierung einer rassehygienischen Kosten-Nutzen-Rechnung ist, die bereits um die Wende 19./20. Jahrhundert über Preisausschreiben gelöst werden soll. Der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche fordern in ihrer Broschüre „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihr Ziel“ (1920), diese Freigabe ihrem Ziel nach bereits ohne Maß. Hitlers Euthanasie-Erlaß entspricht diesem Ziel, das (u. a.) Eigenheime anstelle der Unterbringung von Wahnsinnigen verspricht. In der Form dieses Erlasses kehrt der „lettre de cachet“ des Souveräns wieder, oder aber die Souveränitätsbeziehung zwischen Arzt und Patient in der Psychiatrie. Denn dieser Erlaß ist, formlos, auf privatem Briefpapier ausgestellt: er ist reine Willkür, Bruch des Gesellschaftsvertrags, unmittelbare Gewalt. Sie kann sich jedoch auf ihre mittelbare Verwaltung und deren Eingriffstechnologie innerhalb des institutionellen Dispositivs der Psychiatrie verlassen, da diese sich ebenso unmittelbar zur Gewalt verhält, deren Rechtsbruch sie deckt.
Hitlers Federstrich wirkt und zwar genauso, wie es sich für eine Demokratie gehört, deren BürgerInnen sich dem Gewaltmonopol des „Leviathans“ freiwillig unterwerfen, um dann ihre Anerkennung von Gewalt durch das Postulat der eigenen Freiheit desto mehr zu leugnen, je mehr sie an dieser Freiheit die Selbstunterwerfung verschweigen, die auch ihre Ausmerze in Aussicht stellt, wenn sie so schizophren, so manisch-depressiv, so wahnsinnig sein sollten, sich der Sozialordnung des Gesellschaftsvertrags nicht zu fügen. Euthanasie-Erlaß und Beginn des zweiten Weltkriegs fallen in der Vernichtungs-Konzeption des rechtsstaatlich befugten, obersten Heerführers Hitler zusammen, da er den Euthanasie-Erlaß vom Oktober auf den 1. September 1939 rückdatiert. Ob bezogen auf den äußeren, oder bezogen auf den inneren Feind, die Ausmerze lebensunwerten Lebens gilt dort wie hier. Gleichzeitig soll der Gnadentod den Heldentod sühnen, während Sterilisation und Eheverbot bei Rassenschande garantieren, daß nur der Held überleben wird. Dem entspricht, daß das rassisch reine Ehebett zum „Schlachtfeld“ wird, in dem pro Heldentod ein neues Kind zu zeugen ist. Der gleichzeitige Beginn von Vernichtungskrieg nach außen und Euthanasie-Aktion nach innen hat außerdem, so Hitlers eigene Aussage, die Akzeptanz für diese Gewalt-Bedrohung zu schüren, die jedoch die Schutz-Gewalt nicht vermissen läßt. Denn die Euthanasie-Aktion wird, ausgehend von der Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 (Berlin), als Tarnaktion hinsichtlich Auswahl, Transport und Tötung durchgeführt. Die Verlegung der Dienststelle in die Tiergartenstraße kann auf die Aussage eines Psychiaters bezogen werden, der „die Furchtbarkeit des Herabsinkens zum Tier in hunderten und aberhunderten Fällen während einer langen Tätigkeit im Dienste Geisteskranker erfahren hat“ (Dr. Valentin Faltlhauser in einer, den amerikanischen Behörden 1945 abgegebenen Rechtfertigung wegen Mordes).
Die Tarnaktion funktioniert auf der Basis des Gesellschaftsvertrags reibungslos: seitens der Justiz – das Reichsinnenministerium verschickt an alle Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich Meldebögen; seitens der Verwaltung – die Ärzte dieser Anstalten füllen die Bögen aus; seitens der psychiatrischen Gutachter – sie selektieren in der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ anhand dieser Bögen; seitens der Sozialtechniker – die „Gemeinnützige Kranken-Transport-GmbH“ bringt zum Tötungsort; seitens der Fürsorgefachleute – aus der NSDAP und der SS geworbene, außerdem dienstverpflichtete Mitglieder der „Gemeinnützigen Stiftung zur Anstaltspflege“: sie töten (70.000 Tote durch Vergasung zwischen 1939-1941; in „Kinderfachabteilungen“ durch Spritzen und Tabletten 10.000 Tote zwischen 1940-1945). Seitens der Familien gibt es zwar Widerstand, als der Gestank des Rauchs rund um die Psychiatrien im Grünen – Villen, Barockschlösser, Klöster – und der Verkehr der grauen Busse mit verhängten Fenstern ebenso wie die Fehler in den Todesanzeigen, ausgestellt durch Standesämter in diesen Psychiatrien, zu offensichtlich werden, aber als die Euthanasie-Aktion 1941 von Hitler zurückgenommen wird, geht sie bis 1945 unbesehen weiter als sogenannte „wilde Euthanasie“: ein Euphemismus dafür, daß alles regulär abläuft.
Die „Pfleglinge“ werden in den „Laboratorien“ der Psychiatrien weiterhin vernichtet, ob durch sogenannte „Hungerkost“ (90.000 Tote zwischen 1942-1945), oder durch Spritzen und Tabletten auf dafür eingerichteten „Sonderstationen“ (Tötung bis 1948, ohne daß die Toten irgendwo gezählt worden sind). Insbesondere diese ungezählten Toten (zwischen 1945-1948) zeigen, daß sich Hitler auf die Normalisierungsgesellschaft im Krieg nach innen verlassen konnte, denn sie spekulierte auf den Endsieg im Krieg nach außen, für den sie von „Ballastexistenzen“ – auch nach dem Krieg – befreit sein will. Und in dem Maß, wie das Team der T 4-Aktion in Teilen mit dem Team zur Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage – der „Aktion Reinhard“ – identisch ist, in dem Maß übernehmen die Euthanasie-Anstalten der Psychiatrien auch die Arbeit der Krematorien der KZ’s. Zwar sollte Juden der Gnadentod nicht zukommen, er sollte der eigenen Rasse vorbehalten sein, aber je mehr diese im Krieg nach außen geschlagen wird, desto mehr schlägt sie zurück: der „objektive Feind“, der in erster Linie im Subjekt selbst zu suchen ist, in dem, was es abspaltet, in dem, was es niederschlägt, dieser „objektive Feind“ ist, ob als „Pflegling“ oder als Jude, schon bevor er vernichtet wird, nichts, weshalb er austauschbar ist.
Posthumane Perspektive
Das Ende der Subjekt-Objekt-Konstruktion, die aus Allgemeinem und Besonderem, aus öffentlicher und privater Vernunft zusammengesetzt ist, ist inzwischen auch im Magazin „Der Spiegel“ angekommen, der vor kurzem „Das Ende des Privaten“ (Nr. 27, 5. 7. 99) titulierte, worunter er Ergebnisse möglicher elektronischer Überwachung subsumiert, die jede Distanz überwindet, jede Mauer durchdringt, jedem Körper implantiert werden kann. Ein Subjekt, was sich selbst als „objektiver Feind“ überwacht, ist folglich heute ebenso „out“ wie die Psychiatrie in der Form des Asyls, dessen bisherige Endform die Euthanasie-Anstalt und das KZ darstellt – und dies, obwohl oder weil dieses Asyl einst, so Esquirol, mit einem „Werkzeug der Heilung“ identisch sein sollte. Die Psychiatrie, die Wende 18./19. Jahrhundert eröffnet wird, und die um die Wende 19./20. Jahrhundert bereits hätte schließen können, diese Psychiatrie ist heute, an der Wende 20./21. Jahrhundert, aufs Neue mit ihrer Auflösung konfrontiert: außer sie begründet sich noch einmal neu, indem sie sich daran beteiligt, daß sich die Gesellschaft selbst in eine Anstalt transformiert, in der die „elektronische Fußfessel“ jene Ketten ersetzt, die Pinel einst den Wahnsinnigen abgenommen hatte.
Jeder kann zu Hause interniert werden, warum auch immer. Entscheidend ist, daß die Gewalt getarnt bleibt, die der elektronifizierte Gesellschaftsvertrag impliziert, dessen Gesetzes- und Biomacht-Dispositiv heute eine weitere Schwelle überschreitet, die auch der Psychiatrie-Weltkongreß 1999 mit seinem Titel „New Thresholds“ annonciert. Diese „Neuen Schwellen“ können – in Analogie zur Modernitätsschwelle im 19. Jahrhundert – als Post-Modernitätsschwellen bezeichnet werden, auf denen die Molekularbiologie auf der Ebene der Politik erscheint. Ihr Überschreiten führt zum Posthumanen, zum Nachmenschlichen, das den „tierischen“ Schädel des vormenschlichen Affen endgültig zum Verschwinden bringen soll. Nicht nur ist der transzendentale Begriff des Menschen, angesichts seiner empirischen Zerlegung in Gene, nicht mehr aufrechtzuerhalten, nicht nur erübrigt sich ein Subjekt, das sich über einen Begriff im Griff behält, sondern der Physiker Stephen Hawking ist außerdem überzeugt, daß der „genetische Mensch“ kommen wird: er sei damit nicht einverstanden, „aber, was machbar ist, wird gemacht“. Ihn wird keiner wiedererkennen, da die Herstellung dieses „genetischen Menschen“ die Eugenik zugunsten der Euphänik, das heißt, zugunsten der gezielten Eingriffstechnologie in die Gene, abgedankt hat. Diese Herstellung kann weiterhin in den „Laboratorien“ der Psychiatrie stattfinden, während sie ihre „Brückenkopf-Funktion“ (G. Bruns) zwischen Justiz, Verwaltung und Medizin als jenen Ort besetzt hält, an dem sich entscheidet, wer über die Brücke gehen wird und wer nicht: wer also „den Bach hinuntergeht“.
Die Desinstitutionalisierung und Psychologisierung der Psychiatrie heute stehen dazu nicht im Widerspruch. Deshalb werden die psychosozialen Dienste und die alternativen Psycho-WG’s sich rund um ihr gen- und informationstechnologisches Experimentierfeld weiter vernetzen, auf das die Sektionen und Themen des Psychiatrie-Weltkongresses unter Einschluß der Designer-Drogen der Pharmakonzerne hinweisen. Daß dieses Experimentierfeld weiterhin entsprechend dem „winzigen Mechanismus der Prüfung“ funktioniert, die vom Zeremoniell der ärztlichen Macht nie unabhängig ist, ist klar. Bei den Experimenten in diesem Feld wird sich die Psychiatrie nicht mehr philanthropisch, und auch nicht mehr rassistisch, sondern sie wird sich weltweit bioethisch legitimieren, da die europäische Bioethik-Konvention in absehbarer Zeit weltweit verabschiedet wird. In dem Maß aber, wie diese Konvention eine Verschiebung impliziert – eine Verschiebung weg von der Therapie und hin zur Forschung, für die der Patient in der Sprachregelung dieser Konvention durchgehend „Versuchsperson“ ist – in dem Maß wird die zweihundertjährige Erfahrung der Psychiatrie bei der Menschen-Herstellung unentbehrlich sein, so daß sie sich auch Wende 20./21. Jahrhundert aufs Neue neu begründen wird.
Die Art und Weise, wie sich diese Neubegründung vollziehen wird, kündigen zwei beim Psychiatrie-Weltkongreß ausgelegte Prospekte an: der eine verweist auf den Folge-Kongreß „Brain 2000“, der die Hirnforschung, „zum besseren Verständnis von Geisteskrankheit (mental illness)“, als die führende Wissenschaft des 21. Jahrhunderts in Kooperation mit der Industrie und den Experten der Künstlichen Intelligenz propagiert; der zweite verweist auf den nächsten Weltkongreß der Biologischen Psychiatrie 2001. Folgt man seinem Titel „Gateway to Biological Psychiatry in the next Millenium“, dann durchschreitet diese Psychiatrie im 21. Jahrhundert ein Tor, in dem die Post-Modernitätsschwelle zu erkennen ist. Sie führt desto ferner ins Posthumane, je mehr die Molekularbiologie nicht nur von der Hirnforschung in Angriff genommen wird, sondern auch von der biologischen Psychiatrie, die sich der „futurologischen Perspektive“ dieser Forschung sowohl mit neuen, genetischen Krankheits-Definitionen als auch mit neuen, genetischen Therapien anschließen wird. Da diese Therapien jedoch weiterhin Buße für eine Krankheitsdefinition als Strafe unter der Voraussetzung von Justiz und Verwaltung sind, wird die biologische Psychiatrie an „Versuchspersonen“ keinen Mangel haben. Bioethisch legitimiert, wird sie diese „VPs“ in ihren „Laboratorien“ testen, um sich in Zusammenarbeit mit der Hirnforschung, der Industrie und den Experten der Künstlichen Intelligenz bei der Herstellung eines „genetischen Menschen“ neu zu begründen. Dabei könnte die Psychiatrie, angesichts ihrer Desinstitutionalisierung und Psychologisierung heute, an der Wende 20./21. Jahrhundert, ihre Tore ebenso schließen wie an der Wende 19./20. Jahrhundert: Tore, die sie an der Wende 18./19. Jahrhundert nie hätte öffnen dürfen.
Colloquium vom 4. 5. 2000
Anmerkungen
[1] Castel, Robert (1983). Die psychiatrische Ordnung. Frankfurt a. M.
[2] ebd., S. 9
[3] ebd., S. 10
[4] ebd., S. 109
[5] ebd., S. 42
[6] ebd., S. 44
[7] ebd., S. 174
[8] ebd., S. 21
[9] ebd., S. 101
[10] ebd. von Castel auf S. 153 zitiert
[11] ebd., S. 296
[12] ebd., S. 297
[13] ebd., S. 298