Queer handeln! Performanz und Veränderung

BIRGIT MÜLLER


Queer handeln! Performanz und Veränderung *


 

1. Queer Herausforderungen einer neuen Theorie und Politik

Feministische Theorie sieht sich seit einiger Zeit einer neuen Herausforderung gegenüber: Queer ist das neue Schlagwort: Gender-bender, cross-dressing, passing, queering, lipstick lesbians, male lesbians, drag, ball culture sind die Zeichen, unter denen diese Bewegung erscheint. Queer gilt als postmoderne Antwort auf Feminismus. Feminismus ist out – queer ist in, Patriarchatskritik ist out – drag ist in. So oder ähnlich könnte man die Gräben, die durch die Provokation von Queer gezogen werden, beschreiben.

Der ursprünglich zur Abwertung homosexueller Lebensweisen verwendete Begriff Queer [1] wird als strategischer Ausgangspunkt genommen, um die dominante Ordnung der Repräsentation von Geschlecht und Sexualität zu verwirren. Er bezeichnet einerseits eine konfrontative Politik, die vor allem im Zuge der AIDS Debatten entstand und Schwule und Lesben zusammengebracht hat, um der Abwertung von Homosexualität zu begegnen. Es ist ein lautstarker Protest gegen Unsichtbarkeit und Marginalisierung. Andererseits soll Queer als theoretische Bewegung vor allem zur kritischen Arbeit an der Dekonstruktion eigener Diskurse in den gay/lesbian studies auffordern. Die Dichotomie von Hetero- und Homosexualität soll nicht weiterhin unhinterfragt als Ausgangspunkt ihrer Erkenntnis akzeptiert werden. Queer stellt sich quer zu fixierten Geschlechtsidentitäten und ist eine Art des Widerstandes gegen Homogenisierung und Normalisierung und auch gegen politisch korrektes Schwul- oder Lesbischsein. Queer versucht, Denkverbote aufzuheben und mit spekulativer und theoretischer Arbeit Geschlecht und Sexualität neu zu verstehen. Queer richtet sich in einer reflexiven Bewegung gegen vereinnahmende Identitätspolitik, aber auch gegen die Aufstellung separater Identitätskategorien. Dahinter steht die Annahme, daß feministische und lesbisch/schwule Bewegungen selbst die Rolle der Ordnungsmacht über sexuelle und geschlechtliche Grenzen übernommen haben. Parodie und Travestie werden als Möglichkeiten favorisiert, wie diese Grenzen unterwandert werden können (vgl. Hark, 1993 und Gentschel, 1996).

Es handelt sich also um eine Art Kritik feministischer Identitätspolitik, die sich mit einer Kritik trifft, die schon vor Jahren von „women of color“ geäußert wurde (z. B. Audre Lorde, Gayatri Spivak, Norma Alacron): Sie klagten den weißen europäischen Mittelschicht-Feminismus wegen seiner Fixiertheit auf Geschlecht als strukturierende Größe und seiner Ignoranz gegenüber anderen Größen wie Rasse, Klasse, Ethnie und Religion an. In dieser Art universalistischer feministischer Theoriebildung wurde ein Versuch gesehen, nicht-westliche Kulturen zu kolonisieren und zu vereinnahmen, indem ausgesprochen westliche Konzepte von Unterdrückung vertreten wurden: Diese Konzepte tendierten gleichzeitig dazu, eine „Dritte Welt“ oder einen „Orient“ zu konstruieren, wobei Geschlechter-Unterdrückung subtil als symptomatisch für eine essentielle nicht-westliche Barbarei erklärt wurde (vgl. Butler, 1990, S. 3). Women of color beanspruchten ihre eigene Stimme. Indem sie das Augenmerk auf eine Vielzahl von möglichen Überschneidungen von Positionen richteten, lehnten sie vereinnahmende Gesten von „sisterhood“ oder „wir Frauen“ ab. Ihre Forderungen führten zu einer feministischen Politik, die den Kontext der eigenen Position betont, und verbanden sich mit einer Wissenschaftskritik an traditioneller, sich auf Objektivität berufender Wissenschaft „jenseits von Macht“. Statt dessen wird Wissen als situiert in Geschichte, Geschlecht und Kultur angesehen. Transzendentale Wahrheitsbehauptungen werden abgelehnt. Theoretisch aufgehoben wurde diese Kritik in der standpoint-theory (zum Beispiel: Sandra Harding, Margaret Whitford, Anne Yatmann, Donna Haraway).

Die gewachsene Auseinandersetzung über den Umgang mit Differenzen im Feminismus ist die Bühne für queer interventions. Judith Butler, als eine der bekanntesten Vertreterinnen der queer theory [2], hat mit ihren Veröffentlichungen in der deutschen Diskussion viel Faszination und viel Unbehagen verbreitet. Anhand ihrer Thesen werde ich einige zentrale Punkte der Auseinandersetzung um die Grenzen des Geschlechts benennen und vor allem die Konsequenzen, die sich aus der Kritik an feministischer Identitätspolitik hinsichtlich politischen Handelns ergeben, betrachten.

2. Unterwanderung der Zweigeschlechtlichkeit

Motiviert vor allem durch die Weigerung, Homosexualität als Imitation einer natürlichen oder normalen Heterosexualität zu verstehen, setzt Butler mit der Dekonstruktion an einer der selbstverständlichsten Prämissen feministischer Theorie an: der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit. Das heißt, wir werden nicht allein als Frauen oder Männer unterdrückt, sondern weil wir Frauen oder Männer zu sein haben (vgl. Rubin, 1975, S. 204, hier zitiert nach Hagemann-White, 1992, S. 68). Zwar verstand der moderne Feminismus (im Zuge von Simone de Beauvoir) sich als Kritik an der quasi natürlichen Handhabung von Geschlechterrollen und thematisierte „Frau“ als soziales Konstrukt. Die sex/gender Trennung führte aber trotz der Intention, Geschlecht zu denaturalisieren, zur Fortschreibung der Spezifität disparater männlicher und weiblicher Körper als unhintergehbarer Voraussetzung. Indem diese dem Bereich der Natur zugeordnet werden, werden sie zu unveränderlichen Konstanten. Als Natur entziehen sie sich der Möglichkeit der Theoretisierung.

Butler gab einer alten These neues Gewicht, indem sie nicht bei der (sozialen) Geschlechtsidentität oder der gelebten Sexualität Halt machte, sondern die Ungewißheiten auf die Körper ausweitete: Geschlecht mit allem, was wir darunter zu verstehen geneigt sind, wird diskursiv gebildet unter den Bedingungen hegemonialer Zwangsheterosexualität. Butler bezieht sich in ihrer Argumentation stark auf Jacques Lacan. Für Lacan ist Geschlechtsidentität keine Funktion der Anatomie, sondern ein Akt der Positionierung innerhalb zweier Möglichkeiten, die durch wechselseitigen Ausschluß gekennzeichnet sind. Lacan bindet die Herausbildung des „Ich“ unmittelbar an die Anerkennung durch andere. Identifizierung ist in diesem Sinne: Für andere etwas sein. In ihr drückt sich das Begehren nach dem Begehren des anderen aus. Das Subjekt sucht sich im Symbolischen zu verankern. Dafür bietet es nach Lacan dem Geschlechterentwurf die Möglichkeiten von Haben oder Sein des Phallus. Sie stellen jeweils eine Art der imaginären Überwindung des Mangels (an Vollkommenheit, an Sinn) dar. In diesem Sinne strukturieren die symbolischen Positionen den Bezug zur Welt (das Begehren): Im Falle von „Haben des Phallus“ ist es die Suche nach vollkommener Präsenz, im Falle des „Phallus Sein“ das Begehren nach dem vollkommenen Objekt (Lacan, 1986; vgl. Widmer, 1990). Judith Butler bewegt sich aus dieser Logik heraus und verweist auf deren Ränder: Gleichgeschlechtliches Begehren findet innerhalb dieser Logik keinen Ort, sondern bildet deren konstitutives Außen (Derrida). Es ist das Unmögliche, was vorausgesetzt werden muß, aber nicht genannt werden darf, um Möglichkeiten entstehen zu lassen. Es kennzeichnet den Bereich des Verworfenen, der nicht symbolisiert werden kann. Es bildet durch ein bedrohliches Außen die Grenzen des Subjekts. Butler schlägt nun folgende Variante vor: Männliche bzw. weibliche Identitäten werden durch eine Gegenidentifikation mit Homosexualität angenommen. Der verweiblichte Schwule bzw. die vermännlichte Lesbe erscheinen als drohende, abschreckende Bilder, die die symbolische Ordnung als Außen braucht, um sich selbst herzustellen und diesen Herstellungsprozeß zu stabilisieren. Da diese Bilder den Bereich des Verworfenen markieren, können sie nicht als denkbare Möglichkeit auftauchen, sie sind nicht intelligibel. Geschlecht wird angenommen durch die Verwerfung bestimmter Lebensmöglichkeiten. Der Ort der Geschlechts-Identität ist somit eine Grenzlinie zu nicht lebbaren Orten.

In dem Konstrukt „sex“ werden Körper, geschlechtliche Identifikation und Begehren in einen spezifischen Zusammenhang gebracht, d. h. sie verweisen aufeinander Die Kohärenz zwischen Anatomie, geschlechtlicher Identität und Begehren ist ein Produkt von Ausschlüssen und Zwängen. Dieses Dreieck wird von Butler auseinandergenommen. Es gibt also weder einen Referenten „sex“ der „gender“ garantiert, noch einen (Geschlecht des sexuellen Objekts), der sexuelle Identität garantiert (vgl. Hark, 1993, S. 108). Butler unternimmt den Versuch, das Werden und die Funktionen von Geschlecht, Körper und Identität konsequent in dem Nexus Sprache/Macht – Diskurs/Gesetz zu denken.

Körper und Geschlecht sind eine historische Möglichkeit, sich wahrzunehmen und zu verstehen [3]. Sie referieren nicht auf eine Substanz sondern auf einen Diskurs, der Sinn und Bedeutung strukturiert. Butler setzt ihre Überlegungen zu der Produktion individueller Subjektivität von vornherein in einen politische Kontext, denn was „Sinn“ und „Bedeutung“ zu einer bestimmten historischen Zeit bekommen kann, ist unweigerlich eine Frage der Machtverhältnisse. Als Subjekte sind wir darauf angewiesen, im Diskurs repräsentiert zu werden, und sind damit schon immer in einem politischen Prozeß. Die Frage stellt sich nun, was für Folgen es hat, wenn z.B. Frauen sich auf eine Identität berufen, die ein Produkt von konstitutiven Ausschlüssen und Verwerfungen ist. Sich als etwas zu repräsentieren wiederholt den Prozeß der Entstehung. „Macht ist schon in den Verfahrensweisen wirksam, die festlegen, wer das Subjekt ist, das im Namen des Feminismus spricht und zu wem es spricht“ (Butler, 1994a, S. 39). Butler macht sich zur Aufgabe, diesen Konstruktionsprozeß als Politikum zu verdächtigen. Ihr Anliegen ist insbesondere, die Möglichkeiten politischen Handelns für emanzipatorische Bewegungen zu ergründen.

Identitätspolitik zu betreiben heißt, ein bereits standardisiertes strategisches Feld zu betreten. Sich auf ein „wir“ zu berufen (und sei es auch nur ein abgespaltenes) ist immer ein ausgrenzender Akt (nach außen) sowie eine vereinheitlichende und vereinnahmende Geste (nach innen). Jedes „Wir“ ruft außerdem immer eine Zersplitterung hervor, die es mit seinem Postulat gerade zu überwinden suchte (vgl. ebd., S. 48).

Butler übt damit Kritik an feministischer und lesbischer Repräsentationspolitik, geht aber gleichzeitig über das Einklagen der Positionalität von Wissen hinaus. Sie rückt die Verflechtungen in Zwangssystemen bei der Produktion von Wissen, Identität und Sexualität in den Vordergrund. Thematisiert werden die „Wahrheitseffekte“ (Foucault), die von machtvollen Diskursen hervorgebracht werden. Benennungen bekommen den Anschein von Wirklichkeit. Sie stellen intersubjektiv eine Ordnung her, deren konstruktive Struktur im Geschlechter-Kontext als Natur verewigt, im politischen Kontext über den Effekt der Autonomie verschleiert wird und in beiden Fällen damit unhintergehbar erscheint. Es gilt, die „… Eingebildetheit einer Autonomie, die mit dem Selbstbenennen impliziert ist …“ (Butler, 1995, S. 301) zu befragen. Bedeutungen bekommen den Status von Tatsachen, Mehrdeutigkeiten werden in Kategorien aufgelöst. Praktisch heißt das: Welchen Einfluß haben Feministinnen darauf, wie Frauen repräsentiert werden und wie nicht; und vor allem darauf, welche Frauen repräsentiert werden und welche politischen Konsequenzen daraus entstehen. Welche Ordnung entsteht und über welche Ausschlüsse etabliert sie sich? Das Anliegen von Queer ist, eine Politik zu betreiben, die den Rückgriff auf Identitätskategorien nicht nötig hat.

Ich möchte an dieser Stelle kurz Butlers Verhältnis zur standpoint-theory diskutieren. Erstens, weil die standpoint-theory eine der einflußreichsten Richtungen innerhalb der feministischen Theorie ist, und zweitens, weil eine gewisse Nähe zu der Identitätskritik Butlerscher Provenienz besteht.

Wie oben angedeutet ist die Kritik an vereinheitlichenden Identitätskonzepten vor allem in die standpoint-theory eingegangen: Wissen, auch feministisches Wissen, entsteht in differenten Kontexten. Es muß notwendigerweise zu Divergenzen und Widersprüchen in feministischen Debatten führen. Ein feministischer Standpunkt wird als sozial konstruiert betrachtet und entsteht in politischen und theoretischen Diskussionen. Feministische Positionen sind also eine Art, die Welt sinnvoll zu interpretieren. Es gibt allerdings einen empirischen Ausgangspunkt: das Leben von Frauen, ihre Interessen, ihre Aktivitäten. Das heißt ein empirisch Gegebenes wird angenommen vor seiner feministischen Theoretisierung. Es gibt die Sphäre unvermittelter und genuin weiblicher Erfahrung (vgl. Harding, 1994, S. 328). Darin zeigt sich folgendes Problem: standpoint-theory entzieht sich explizit einer verallgemeinernden Definition von Frauen oder von feministischen Zielen und betrachtet Wissen immer als vermittelt, ihr Verständnis von Position ist aber in den „objektiven Bedingungen“ menschlichen Lebens gegründet.

Butler hinterfragt diese Prämissen der standpoint theory. „Wer spricht?“ ist für sie nicht eine Frage nach der jeweiligen Eingebundenheit in soziale und ökonomische Bezüge. Vielmehr geht es darum, die komplexen Prozesse zu befragen, in denen Identitäten vergeben und (sexuelle) Grenzen definiert werden, jene Prozesse, in denen dieses „Wer“ entsteht, das sich dann im Prozeß permanenter Selbstbefragung zu finden und zu sichern versucht. Identitäten entstehen im Bezeichnen, Einschränken und Normalisieren. Was passiert mit den Bezeichnungen, die im Bemühen um Befreiung, also in emanzipatorischer Absicht, eine „andere“ Verwendung dagegensetzen wollen? Welchen Zwängen, welchen Illusionen unterliegen diese Formulierungen, was für Bedeutungen werden vorgeschrieben, von welcher Norm werden diese kolonisiert? Butler fragt: „Welche Verwendungen werden uns vorgeschrieben und wie kann die Wechselbeziehung zwischen Verschreibung und Verwendung aussehen, damit die nützlichen Verwendungsformen sich nicht in regulatorische Imperative verwandeln?“ (Butler, 1996, S. 19).

Identität entfaltet ihre Wirkungen als regulatorisches Ideal, indem es die Grenzen dessen, was ich denken kann, was ich sein kann, beschränkt. Ein Selbst wird inszeniert mit dem Effekt, es als vorgängig erscheinen und wirken
zu lassen. Butler spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Professionalisierung von lesbisch und schwul sein (Butler, 1996, S. 15ff.). Nach Butler entfalten die Begriffe eine Art Eigendynamik, die mit ihrer jeweiligen „Anrufung“ in verschiedenen Kontexten und verschiedenen Intentionen ins Spiel gebracht wird. Die These ist, daß Begriffe, die mit emanzipatorischen Intentionen verwendet werden, jedoch genauso eine repressive Dynamik neuer Verbote und Gebote in Gang setzen.

Butler diskutiert das Problem der Identitätskonstruktionen nicht nur anhand des heterosexuellen Imperativs, sondern bezieht in ihre Überlegungen auch die Frage der Konstruktion dessen, was als schwarz und was als weiß bezeichnet wird, ein. Sie stellt Überlegungen dahingehend an, warum es unmöglich ist, die Frage der sexuellen Differenz und die der Rassendifferenz in zwei vollständig voneinander getrennte Achsen zu zerteilen. Sie sieht die Entstehung von Rasse in ähnlichen Mechanismen sozialer Regulierung, deren Formulierung aber nicht unabhängig von sexuellen Zuschreibungen verläuft. Butler kommt zu dem Schluß, daß etwa in der Psychoanalyse die Frage der rassischen Differenz nicht angemessen behandelt werden kann, da davon ausgegangen wird, die sexuelle Differenz sei elementarer und grundlegender als andere Arten sozialer Differenz (vgl. Butler, 1995, S. 221-246).

Bei einer solchen Analyse müßte dann auch das Verhältnis von Materialität und Diskurs erörtert werden. Foucault hat zum Beispiel angenommen, daß es außer der diskursiven Macht auch eine institutionelle Macht gibt (deren Verhältnis er jedoch nicht geklärt hat, vgl. Henessy, 1993). Letztlich geht es um die Frage des Verhältnisses von sozialen Bedingungen und Diskursen. Für Butler sind Diskurse sprachliche Praxis. Worte sind Handlungen, deren Bedeutungen entstehen in ihrer Artikulation in Machtbeziehungen. Diskurse sind nicht Macht, aber sie ermöglichen Macht. Es stellt sich demnach nicht die Frage nach den Bedingungen und Beschränkungen von Diskursen auf materieller Ebene, sondern Materialität wird als Ergebnis einer Sedimentierung von diskursiven Effekten verstanden. Da das „Ich“ bei Butler mindestens ebenso ein körperliches ist wie bei Freud, ist auch die Trennung zwischen Körper und Sprache eine künstliche [4]. „Sprache“ meint in diesem Zusammenhang Körper-Handlungen.

Butler fügt sich mit diesen Aussagen in ein generelles Postulat des Poststrukturalismus ein: Letztlich ist es nicht klärbar, ob die Geschlechterdifferenz durch den Diskurs hervorgebracht wird, oder ob die soziale Differenz ihrerseits Mythen hervorbringt und zwar sowohl gender Mythen, die die Eindeutigkeit im Sinne von zwei exklusiven Geschlechtern herstellen, als auch Mythen über eine ursprüngliche Einheit oder eine vollständige Irrelevanz von Geschlecht. Es ist eine Ursprungsfrage, die poststrukturalistische Theorie ablehnen muß (vgl. Landweer, 1993, S. 37).

Queer kann verstanden werden als Spiel mit der oben angesprochenen Professionalisierung der Darstellung. Eine Darstellung, die nichts darstellt, weil das Dargestellte sich als Illusion offenbart. Verwirrende und widersprüchliche Botschaften verweigern sich der erleichternden Zuordnung und setzen sich lachend über den Versuch zu kategorisieren hinweg.

3. Performanz und Handlungsfähigkeit

In „Bodies that matter“ (Butler, 1993, dt. 1995) hat Judith Butler das Konzept der Performanz entwickelt. Darauf fußt ihre Theorie zur Handlungsfähigkeit. Der Begriff der Handlungsfähigkeit, so wie wir ihn bspw. aus der Kritischen Psychologie von Klaus Holzkamp kennen, gründet sich auf ein Subjekt, das sich handelnd seine Möglichkeiten erschließt und aneignet. Das Subjekt wird hierbei als Quelle des Handelns gedacht (Holzkamp, 1993).

Butler kommt ohne solche Setzung aus. Der Begriff der „Performanz“ bezeichnet die Ausführung von Sprechakten, die das Hervorbringen, was sie zu bezeichnen vorgeben [5]. Identität ist performativ in dem Sinne, daß sie das Subjekt, das sie zu verwirklichen scheint, als ihren eigenen Effekt erst konstituiert. Der Moment des Sprechens birgt die Illusion, lediglich abzubilden oder zu bezeichnen, das Bezeichnete kann jedoch erst in der Artikulation entstehen. „Performative Akte sind Formen autoritativen Sprechens: die meisten performativen Äußerungen sind zum Beispiel Äußerungen, die mit der Äußerung auch eine bestimmte Handlung vollziehen und eine bindende Macht ausüben“ (Butler, 1995, S. 297). Bezogen auf Identität ist es die Wiederholung der Bedeutungsstrukturen und Kennzeichen, unter denen sie steht, unter denen sie mühsam erworben wurde und die sich jederzeit in der Gefahr der Aberkennung befindet. Es ist notwendiges Reformulieren von Selbstverständlichkeiten eigenen Seins. Eine Art Selbstvergewisserung, die immer wieder vorgenommen werden muß, eben weil das Subjekt seiner nie sicher sein kann. Jede Identifizierung findet auf der imaginären Ebene statt. Sie schafft die Illusion der Vollständigkeit und des „mit sich selbst identisch seins“. Mit Lacan gesprochen ist sie eine imaginäre Verweigerung des Mangels.

Dabei handelt es sich nicht um eine quasi freiwillige Aufführung. Hegemoniale Strukturen werden nicht einmal „eingesetzt“ und wirken dann, sondern müssen in beständigem Wiederholen neu „aufgeführt“ und damit bestätigt werden. Normen und Konventionen der Subjektkonstitution befinden sich also in einem Prozeß des ständigen Wiederaufführens. Butler bezieht sich dabei auf Derrida: Er entwarf das Bild des Richters, dessen Urteil dadurch Gewicht bekommt, weil es sich auf angeblich vorgängige Autorität beruft. Das Gesetz gewinnt seine Macht durch seine Zitatförmigkeit. Sich auf eine Norm zu berufen heißt, eine Autorität, die als solche nie aufscheinen darf, zu zitieren. Mit dem Verweis auf diese Autorität legitimieren sich Konventionen als Gesetz. Performanz ist eine Affirmation.

Wie ist Performativität in Zusammenhang mit Handlungsfähigkeit zu verstehen? Die Bedingungen, die die Subjektkonstitution beschränken, sind zugleich diejenigen, die Veränderung ermöglichen. Die Menschen müssen sich also quasi mit den ’Gesetzen‘ wehren, anstatt gegen sie. „Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt“ (Butler, 1994a, S. 40). Ich verfüge nicht über die Positionen, die mich konstituiert haben, auch wenn die Grammatik des Subjekts den Anschein eines Besitzes produziert. Subjektpositionen sind Organisationsprinzipien, sind materielle Praxis im täglichen Denken, Fühlen und Handeln. Sie bilden das Erbe, mit dem wir umgehen müssen, dem wir ausgesetzt sind.

Performanz ist jedoch nicht ein einmaliger Akt, vielmehr erlangt ein Subjekt seine soziale Existenz erst in der beständigen Wiederholung. Die Stabilität sozialer Kategorien bedarf des fortwährenden Wieder-Einsetzens, sie ist abhängig von deren Reproduktion in jeder einzelnen Existenz. Die soziale Praxis des In-Szene-Setzens von Lebensmöglichkeiten, der Zwang zur fortwährenden Darstellung, läßt einerseits diese Kategorien zu massiven und homogenen Gebilden werden; andererseits ermöglicht sie Veränderung, denn der Imperativ des Wiederholens verweist auf Instabilität: „Die Tatsache, daß es überhaupt eine Notwendigkeit zur Wiederholung gibt, ist schon ein Indiz dafür, daß Identität nie mit sich selbst identisch ist. Sie muß immer wieder eingerichtet werden, das heißt, sie ist in jeder ‘Pause’ in Gefahr, abgeschafft zu werden“ (Butler, 1996, S. 31). Das Subjekt muß sich so immer wieder neu herstellen und wird immer wieder darin scheitern. Das Scheitern ist notwendig, weil jede Identifikation einen Versuch darstellt, den Mangel phantasmatisch zu überwinden. Lacan bezeichnet diesen Vorgang auch als Verkennung. Identifikation beruht also immer auf einer Illusion. Das Illusorische jeder Identität besteht nicht nur in der Vorstellung von „erfülltem Sein“, sondern auch im Anspruch zu beschreiben, „was ich bin“. Bezeichnungen unterliegen der Fiktion, Realität abzubilden. Das Konzept der Performanz geht jedoch davon aus, daß das Bezeichnete erst in einem Akt autoritativen Sprechens entsteht und es demzufolge an seine Artikulation (Anrufung) gebunden ist. Deshalb sind Bezeichnungen und Kategorien niemals vollständig, es ist unmöglich, Bezeichnendes und Bezeichnetes über eins zu bringen. Butler nutzt hierbei Derridas Konzept der Iterabilität: Begriffe befinden sich in einem beweglichen Prozeß ständiger Verschiebung, Wandlung und Differenz. Identität ist also nie mit sich selbst identisch. Das Gesetz, die strukturierende Größe, entlang derer die Trennungen vorgenommen werden, wird nie einfach getreulich wiederholt, sondern in jeder Wiederholung entstehen Abweichungen. Da es sich immer nur um den Versuch handelt, Vieldeutiges in eine Ordnung zu vereindeutigen, gelingt die Deckungsgleichheit nie vollständig. Der Zwang zur Wiederholung produziert aber Überschüsse und Unvorhergesehenes. Abweichungen und Brüche können entstehen, weil „… die Psyche … etwas bezeichnet, das über das Gebiet des bewußten Subjekts hinausgeht“ (Butler, 1996, S. 30). Es gibt einen psychischen Überschuß, der als Unbewußtes formuliert wird: „Der Überschuß, der jede Performanz erst ermöglicht und sie zugleich anficht und der sich während der Performanz niemals offen zeigt, ist das Unbewußte. Die Psyche ist nicht ‘im’ Körper sondern in eben dem Bezeichnungsprozeß, durch den der Körper erst erscheinen kann, sie ist der Fehler bei der Wiederholung und zugleich der Zwang, sie ist das, was die Performanz leugnen will und das, was sie von Anfang an erzwingt“ (Butler, 1996, S. 36).

Das Subjekt wird so immer wieder neu entworfen und produziert. Es ist „… also weder ein Ursprung, noch ein bloßes Produkt, sondern die stets vorhandene Möglichkeit der Umdeutung“ (Butler, 1994a, S. 45). An der Stelle dieses Überschusses entstehen die unvorhergesehenen Wirkungen.

Queer-Praktiken wie die Travestie werden in feministischen Kontexten als Möglichkeit zur Inszenierung der Brüchigkeit und Anmaßung der heterosexuellen Norm diskutiert. Deswegen möchte ich das Konzept der subversiven Darstellung am Beispiel der Travestie illustrieren: Indem die Attribute eines Geschlechts angeeignet werden, damit man/frau als „echt“ durchgeht (passing), soll die Echtheit und Natürlichkeit der nachgeäfften Geschlechterordnung in Frage gestellt werden (queering). Die Maskerade kann aber nur wirken, indem sie sich am Rande der Norm bewegt, sie spiegelt und in ihr gebrochen wird. Sie kann erst dann subversiv sein, wenn natürliche Zweigeschlechtlichkeit und Kohärenz vorausgesetzt wird. Queer politics beruht aber gerade auf der Leugnung der Originalität von Heterosexualität, ist jedoch in der Strategie eben auf jene Verwendung angewiesen. Der Effekt benötigt die Verunsicherung und die dadurch ausgelöste Suchbewegung, was er/sie denn in „echt“ sei. Travestie als subversive Strategie braucht die Unstimmigkeit, die übertriebene Geste, um irritierend zu wirken. Travestie ist auf die zweigeschlechtliche Norm angewiesen, benötigt sie als Referenz. Queer wäre ohne den Hintergrund der Zwangsheteronomie sinnlos. Als echt durchzugehen, mag persönlich ein spannendes Erlebnis sein, löst aber keine Irritationen aus. Das Subversive ist wie ein durchsichtiger Schleier: es entsteht im Kontext von Gesehen-werden und Verbergen (siehe auch Landweer, 1994).

Queer versucht „gender“ als belanglose Variable auszuspielen, muß sich dabei jedoch immer in dem Kontext eindeutiger und asymmetrisch strukturierter Geschlechterverhältnisse bewegen. Suzanna Danuta Walters weist daraufhin, daß dies Folgen hat: Queers privilegierter Referent ist implizit ein männlicher, weißer Schwuler. Sie fordert deswegen: „Theories about gender as play and performance need to be intimately and systematically connected with the power of gender to constrain, control, violate and configure“ (Walters, 1996, S. 856). Kritik dieser Art, die auch innerhalb der deutschen Debatte häufig geäußert wurde, übersieht aber zwei wichtige Voraussetzungen des Butlerschen Ansatzes: Erstens die Verknüpfung von Macht und Geschlecht findet bereits im Konstitutionsprozeß statt. Zweitens ist Performanz alles andere als eine freiwillige und frei wählbare Darstellung.

Queer wird in dieser Kritik als bewußtes Inszenieren von Geschlechterparodien aufgefaßt, als Spiel mit verschiedenen frei verfügbaren Darstellungsweisen. Handlungsfähigkeit wird jedoch in Butlers Subjektkritik gerade nicht als das Attribut oder die Aktivität einer Person aufgefaßt, die mit einer bestimmten Intention handelt: „Resignifikation darf nicht als ein individueller Akt verstanden werden. Sie geschieht sehr oft gegen die beabsichtigte Bedeutung unserer Handlungen. Ich würde auch behaupten, daß Dekonstruktion in dieser Hinsicht keine intentionale Strategie ist, sondern daß es um eine Subversion von Intentionalität geht“ (Butler, 1994c, S. 9). Performanz bedeutet ja gerade, daß das intentionale Subjekt (der Täter hinter der Tat) als Effekt erscheint, Intentionalität aber nicht die Quelle des Handelns ist: „Wenn Wörter zu Handlungen führen oder selbst eine Art von Handlungen sind, dann nicht deshalb, weil sie die Absichts- oder Willenskraft eines Individuums widerspiegeln, sondern weil sie sich aus Konventionen herleiten und diese wieder in Szene setzen; Konventionen, die ihre Kraft durch sedimentierte Wiederholbarkeit gewonnen haben“ (Butler, 1994b, S. 124, Hervorhebungen von Butler). Handeln entsteht demzufolge nicht in kritischer Reflexion, sondern kann als Bewegung in einem determinierten und zugleich offenen Feld von Möglichkeiten verstanden werden. Genauso wenig wie Handeln als das Durchführen einer Absicht verstanden werden kann, können die Effekte zielgerichtet kontrolliert werden. Vielmehr gehen die vom Subjekt instituierten Handlungen in eine Kette von Handlungen ein, der sich keine eindeutige Richtung mehr zuordnen läßt und deren Resultate nicht vorhersehbar sind: „… by being called a name, one is also, paradoxically, given a certain possibility for social existence, initiated into a temporal live of language that exceeds the prior purposes“ (Butler, 1997, S. 2).

Handeln ereignet sich, es findet statt, unreglementierbar und unvermeidbar. Das Ideal der bewußten Veränderung repressiver Strukturen stößt hier an seine Grenzen. Veränderung geschieht also unvorbereitet, in jenem space-off (Teresa de Lauretis), jenen Zwischenräumen, die es ermöglichen, sich auf die eigene Brüchigkeit einzulassen.

4. Das Denken von Veränderung

Veränderung ist etwas, das ermöglicht werden kann, jedoch nicht zu planen oder vorauszusehen ist. Judith Butler hat uns eine Sicht vorgeschlagen, die Handeln als Prozeß des Umdeutens versteht. Sie warnt vor der Gewalt der Festlegung, die nur neue Spaltung erzeugt. Ihr Akzent liegt auf der Begrenzung von Subjekten durch ein verworfenes Außen und auf dem Prozeß des performativen Werdens von Individuen. Handlungsmöglichkeiten liegen innerhalb dieses performativen Prozesses. Ich möchte diesen Ansatz um zwei Überlegungen erweitern. Erstens: Butler geht in ihrer Argumentation von hegemonialen Diskursen aus, in denen sich ein Individuum bildet. Hier erscheint es mir sinnvoll eine Perspektive hinzuzufügen, die die Heterogenität konkreter Praktiken der Subjektkonstitution betont. Zweitens: Butlers Kritik an Identitätspolitik kann dahingehend verstanden werden, daß eine emanzipatorische Bewegung repressive Diskursformen reproduziert hat, die erneut auf Ausschluß und Verwerfung gründen und sich damit quasi gegen sich selber wenden. Ein Anliegen wäre dann, die Formulierung von Haltungen und Verständigungsmöglichkeiten, in denen dieser Prozeß reflektiert werden kann bzw. sich Formen des kommunikativen Miteinanders entfalten können, die nicht auf Gleichheit rekurrieren.

Selbstverhältnisse

Foucault hat in einem Interview geäußert, daß seine Arbeit nur dazu diente, den Menschen zu zeigen, daß sie freier sind, als sie meinen, eben weil die Dinge nicht wahr und evident sind, sondern historisch (Foucault, 1993, S. 15). Das Aufzeigen der Kontingenz von Kategorien ist immer ein Aufzeigen von Möglichem, das allerdings nie inhaltlich bestimmt werden kann. Es kann der Versuch unternommen werden, die Konfrontation von Möglichem und Wirklichem als produktive Spannung zu verstehen und sich auf diese einzulassen.

Der Prozeß der Subjektwerdung ist bei Butler vor allem der Norm eines hegemonialen Diskurses verpflichtet. Ein „Subjekt werden“ bedeutet das performativ wiederholende Unterwerfen unter die Norm. Indem sie von einem hegemonialen Diskurs ausgeht, entwirft sie ein starres, fast hermetisch wirkendes System. Um dieses System ein wenig zu verwirren, wendet Isabell Lorey, die sich auf Foucault bezieht, ein: Macht ist ein heterogenes Ensemble vielfältiger und lokaler Machtwirkungen. Machtbeziehungen vollziehen sich nicht allein zwischen Norm und Subjekt, sondern von „unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen“ (Foucault, 1983, S. 115). Machtbeziehungen, so Lorey, können so als chaotische oder geordnete Netze und Bündel verstanden werden. Butler beschäftigt sich vor allem mit zwangsförmiger Heterosexualität als hegemonialem Diskurs. Wenn ein Diskurs hegemoniale Position einnimmt, heißt das noch lange nicht, daß er der einzige ist, sondern nur, daß er vorherrschend ist. Lorey hält dagegen, daß es „… noch unzählige andere kontext- und szenenbezogene Geschlechterdiskurse [gibt], die sich überschneiden, sich gegenseitig ausschließen, in bestimmten Punkten verstärken, in anderen widersprechen und um hegemoniale Positionen konkurrieren können“ (Lorey, 1996, S. 147). Brüche, Widersprüche und Unvorhersehbares geschehen also nicht nur aufgrund der notwendigen „Verkennung“ von Bezeichnungen, sondern wegen der Vielfalt und Wiedersprüchlichkeit der Ansprüche, die in Diskursen gestellt werden. Die Gleichzeitigkeit mehrerer Diskurse macht also ein genaues Hinsehen erforderlich, „wie und in Relation zu wem oder was Ausgrenzung, Diskriminierung, Normierung und/oder Disziplinierung in einer konkreten Situation praktiziert werden“ (Lorey, 1996, S. 148). Ein Blick auf das Funktionieren von Subkulturen wäre an dieser Stelle sicherlich lohnenswert.

Individuen entstehen demnach in vielgestaltigen Diskursnetzen, wobei die Art der Verflechtung und Verbindung von Diskursen höchst unterschiedlich ist und genau dies ein Individuum ausmacht. Es geht hierbei nicht um die Einführung eines einzigartigen Individuums, sondern um ein Besonderes, das im Allgemeinen entsteht. Anstelle der Betonung auf Normierung und Disziplinierung, die ohne Zweifel existentiell sind, versucht Lorey etwas Individuelles in den Blick zu bekommen. Mit dieser Wendung kann sie ein Selbst postulieren, was nicht auf Autonomie oder Vorgängigkeit gegründet ist. Allerdings läuft diese Argumentation Gefahr, wieder ein Selbst mit „innerer Tiefe“, das sich „ausdrücken“ kann, zu entwerfen. Butler Ansatz der Performativität sucht jedoch gerade die Metapher Innen/Außen zu überwinden.

Ein Selbst ist ein nie abgeschlossenes Ergebnis von Erfahrungen, es entsteht in Machtbeziehungen und deren Wirkungen, es ist nie ohne andere zu denken. Genauso widersprüchlich und als Besonderes im Allgemeinen sind Selbstverhältnisse zu denken. Selbstverhältnisse sind Weisen zu sein, rücken aber den Aspekt der Beziehungs- und Formungsverhältnisse zu sich selbst in den Blick. Vorstellungen vom Selbst als einem gespaltenen oder einem authentischen können als historisch spezifische Selbstverhältnisse verstanden werden. Individuen werden also nicht nur konstruiert, sondern verrichten auch selber Konstruktionsarbeit. Diese wiederum ist bestimmt durch kulturell und gesellschaftlich erzwungene, erwünschte oder nahegelegte Muster. Das produktive Moment, was mit der Konzeptualisierung von Selbstverhältnissen entsteht, kann mit Foucault in der Möglichkeit der Überschreitung gedacht werden. Als Arbeit an den Grenzen dessen, was mir denkbar erscheint, um etwas zu werden, was man am Anfang nicht war (Foucault, 1993, S. 23).


Gerechtigkeit und Differenz – Eine Ethik des Anderen

Butler hat oft betont, daß es ihr Ziel sei, Kategorien wie „Frauen“ oder „Lesben“ möglichst offen zu halten. Wenn die eine Seite der Erneuerung und Veränderung die Frage der Selbstverhältnisse berührt, so liegt sie andere Seite im Zugang zum „Anderen“. Das heißt in der Frage, wie wir mit Gleichheit, Differenz, Andersheit umgehen können.

Das Postulat von Differenzen und das Ausspielen der Kontingenz der Geschlechterverhältnisse reicht nicht aus, wenn es um die Frage nach Veränderung geht. Es muß möglich sein, Verhältnisse zu denken, in denen Differenz lebendig werden kann, ohne daß sie bedeutungslos wird. Das bedeutet, daß Differenz ihre herausfordernde Geste an das „Eine“ oder das „Eigentliche“ behalten muß. Susan Strickland ist der Meinung, daß einfaches Akzeptieren von Differenz heißt, sie auszulöschen. Sie wird zur leeren Kategorie. Differenz wird bedeutungslos in einem unumkämpften Gebiet (Strickland, 1994, S. 267). Damit Differenz als veränderndes Potential wirksam werden kann, muß sie sich ständig am Anspruch der Gleichheit brechen.

Derrida hat in seinem Buch „Gesetzeskraft. Der ‘mystische Grund der Autorität’“ (dt. 1991) und im Aufsatz „The Politics of Friendship“ (1994) Überlegungen formuliert, die Dekonstruktion als politisches Projekt einschreiben. Dekonstruktion erhebt „… den Anspruch … Folgen zu haben, die Dinge zu ändern und auf eine Art und Weise einzugreifen, die wirksam und verantwortlich ist“ (Derrida, 1991, S. 19). Queer interventions und Derridas Anliegen sind insofern im Einklang, wenn Derrida sagt: „… es geht vielmehr um eine Veränderung im Sinne einer maximalen Intensivierung der Verwandlungen“ (ebd., S. 21). Wie kann ein solches Projekt gedacht werden?

In seinen Überlegungen zur ethischen und politischen Dimension der Dekonstruktion baut Derrida das spannungsvolle Verhältnis zwischen Gleichheit und Differenz als Movens von Gerechtigkeit auf (vgl. Honneth, 1994). Es geht ihm um eine Ethik, die dem Besonderen, dem Unerwarteten einen Platz einräumen kann, ohne es zu vereinnahmen. Gerechtigkeit fungiert dabei als unhintergehbarer moralischer Anspruch, der sich allerdings nur dann erfüllen kann, wenn seine Inhalte offen bleiben. Denn nur so würde ein Raum für das Noch-Nicht-Denkbare, das Zukünftige entstehen. Gerechtigkeit wird gedacht als Horizont, als Erwartung eines Ereignisses. Im Gegensatz zum Recht, das den fest verbrieften Anspruch sichert, ist Gerechtigkeit eher die Dekonstruktion des Rechts, ist seine Unterbrechung mittels eines nicht antizipierbaren Ereignisses. „Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, daß es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit ist unberechenbar: sie erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet“ (Derrida, 1991, S. 33f.). Genauso wenig, wie Gerechtigkeit sich auf Recht berufen kann, kann Ethik sich auf Gleichheit berufen. Gerechtigkeit unterscheidet sich von Recht dadurch, daß sie eben nicht auf eine vorhandene Definition zurückgreifen kann, also eigentlich eine Unterbrechung im Recht darstellt. Ebenso kann ethisches Verhalten nicht auf Gleichheit zurückgeführt werden, sondern zeigt sich als Respekt vor dem Singulären, dem Noch-Nicht-Gedachten.

Derrida stellt den positiven Aufriß einer solchen Ethik am Beispiel der Freundschaft dar: Es gibt zwei grundsätzliche Weisen menschlicher Bezogenheit, die in einer Freundschaft nebeneinander existieren:
– Der Freund/die Freundin als konkrete Einzelperson, der gegenüber ich mich zu fürsorglicher Zuwendung verpflichtet weiß. Meine Verantwortung ist hierbei eine asymmetrische, die sich auf Sympathie und Zuneigung stützt.
– Die Freundin/der Freund als verallgemeinerter Anderer, d.h. als Person der gegenüber ich mich in einem symmetrischen Verhältnis, bestehend aus Rechten und Pflichten befinde. Meine Verantwortung beschränkt sich auf allgemeine moralische Prinzipien.
In einer Freundschaft begegnet mir mein Gegenüber in dieser Doppelrolle: Der Freund/die Freundin kann an meine Gefühle von Zuneigung apellieren, d. h. an meine Verantwortung, mich fürsorglich und liebevoll um ihn/sie zu kümmern. Gleichzeitig und noch vor allen Erwägungen der freundschaftlichen Zuneigung erlebe ich den/die Andere/n als eine Person, der ich mich verpflichtet weiß. Zugleich verlangt die Freundin/der Freund Respekt wie jede andere Person auch. Diese beiden Ebenen überlagern sich ständig, mal befinde ich mich in der einen Verantwortung, mal in der anderen. Diese Spannung wird von Derrida als politisches Prinzip vorgeschlagen. Die Spannung ist die einer Gleichzeitigkeit: Sowohl die Position einer allgemeinen moralischen Verantwortung als auch die Haltung, die den Einbruch von Besonderheit und Asymmetrie ermöglicht. Die eine Perspektive kann jeweils die andere unterbrechen, die eine ermöglicht Respekt und Toleranz, die andere eröffnet die Möglichkeit der Überraschung. Die Verbindung dieser beiden Haltungen könnte ein Weg sein, den „Überschuß“ und das Unvorhersehbare nicht zu vereinnahmen. Es geht um eine Haltung, die sich nicht zurückzieht und sich nicht in Abgrenzungen verliert, sondern die sich selbst und anderen die Möglichkeit des Unvorhersehbaren eröffnet.

Denise Reily hat einmal geäußert, die Instabilität der Kategorien seien ein sine qua non für den Feminismus. Die Infragestellung von Geschlecht als konstitutionelle Größe ist eine weitere Chance, Feminismus als Bewegung zu denken, deren Möglichkeiten sich ständig verändern. Feminismus und jede andere politische Gruppierung sind heterogene Felder der Auseinandersetzung. Butler hat mit ihrer Kritik Aspekte der Subjektkonstitution ins Blickfeld gerückt, die auf bestimmte Probleme innerhalb des Feminismus aufmerksam machen. Sie zeigt, daß wir uns nur innerhalb dieser Möglichkeiten bewegen können, denn den eigenen diskursiven Bedingungen können wir uns nicht kritisch gegenüberstellen. Was nicht abgeleitet werden kann, ist eine feministische Theorie. Es ist eher ein Aufzeigen unserer notwendigen Verstricktheit in Konstrukte, die kontraproduktiv für Gerechtigkeit sind. Anstelle der Illusion, äußere Widersprüche betrachten und sie in Richtung einer besseren Wahrheit auflösen zu können, geht es in diesen Ansätzen immer noch darum, das „Haus der Andersheit“ bewohnbar zu machen (Audre Lorde).

* Colloquium vom 23.1.1997

Anmerkungen

[1] Queer hatte im Amerikanischen eine Reihe von Bedeutungen, bevor der Begriff sich auf die Verwendung für Homosexuelle einengte: Alle standen aber im Zusammenhang mit Abweichung von Normalität: von unklarer Herkunft, sich nicht ganz wohl oder schlecht zu fühlen, nicht geradeheraus (straight) zu sein, obskur, pervers, exzentrisch. Als Verb wurde es gebraucht im Sinne von: jemanden ausfragen oder lächerlich machen, aber auch zu lügen und zu betrügen. (Vgl. Butler, 1995, S. 234f.)

[2] Bei dieser Bezeichnung handelt es sich selbstverständlich auch wieder um eine Zuschreibung, um einen Effekt des feministischen Diskurses. Butler selbst meinte während einer Diskussion in Berlin, sie wüßte nichts langweiligeres als Arbeiten zu queer theory. Das kann auch als Hinweis auf den Widerspruch im Begriff selbst verstanden werden: Etwas, was sich explizit der Festschreibung entzieht (queer) soll theoretisch auf den Punkt gebracht werden.

[3] Thomas Laqueur zeigt zum Beispiel, daß erst in der Renaissance die Vorstellung von zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen Geschlechtern entstand. Vorher ging man von der Ansicht aus, daß die weiblichen Geschlechtsorgane gleich den männlichen seien, aber eben nach innen gekehrt. Es gab also nur ein Geschlecht, wobei die Frauen die minderwertige Variante dieses Geschlechts darstellten (Laqueur, 1992).

[4] Freud stellt die Entstehung des „Ich“ in den Zusammenhang mit der Wahrnehmung der körperlichen Grenzen durch Gefühle von Schmerz und Lust. So kommt er zu der Aussage: „Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche“ (Freud, 1923, S. 294). Butler interpretiert Freud dahingehend, daß es unmöglich ist, von einem Körper zu sprechen, der der Idee vorausgeht, denn die Idee entsteht gleichzeitig mit dem phänomenologisch zugänglichen Körper und gewährleistet dessen Zugänglichkeit (Butler, 1995, S. 88f.).

[5] Butler greift hier auf die Sprechakttheorie von Althusser und deren kritische Reformulierung von Laclau und Mouffe zurück (Laclau und Mouffe, 1991).

Literatur:

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Butler, Judith. (1994b). Für ein sorgfältiges Lesen. In Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser (Hrsg.), Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart (S. 122-132). Frankfurt/M.

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