Voll im Bilde – Arnd Pollmann

ARND POLLMANN

Voll im Bilde

Wahr- und Falschwahrnehmung im Zeitalter der Simulation*

I.

Vor einiger Zeit ereignete sich an der Freien Universität Berlin folgender Vorfall: Am Institut für Soziologie soll eine Veranstaltung zum Thema „Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit“ stattfinden. Gleich für die erste Sitzung haben die beiden Dozenten einen Gastredner aus Köln eingeladen: den Neurophysiologen Prof. Dr. Carlo Zaccato. Dieser beginnt vor einer Zuhörerschaft von etwa 200 StudentInnen einen Vortrag mit dem Titel „Der Realitätskoeffizient“.

Bei diesem Realitätskoeffizienten handelt es sich, das wird den Zuhörern rasch klar, um eine bahnbrechende Entdeckung. Mit dessen Hilfe soll es möglich sein, die Wirklichkeitsvorstellungen einzelner Individuen anhand von nur wenigen Angaben zur jeweiligen Person quasi zu errechnen. Gebannt von dieser Vorstellung machen sich die StudentInnen intensiv Notizen, auch wenn der Vortrag mit der Zeit zunehmend abstrakter und komplexer gerät. Zaccato schreibt eine Unmenge von mathematischen Formeln und Logarithmen an die Tafel, die der Zuhörerschaft das Verständnis seiner Ausführungen zunehmend erschweren. Nach einer Weile kommen viele nicht mehr mit, lauschen aber trotzdem weiterhin gespannt den Worten des Gastes, der in den von ihm entwickelten Formeln förmlich aufzugehen scheint. Wie im Rausch doziert und schreibt Zaccato unaufhörlich.

Nach etwa einer halben Stunde aber, öffnet sich plötzlich die Tür des Hörsaales und zwei Männer in weißen Kitteln erscheinen. Auch ein Polizist ist bei ihnen. Einer der Männer bittet flüsternd einen der Dozenten zu einem Gespräch vor die Tür. Durch die Menge geht ein Raunen, der Gastredner aber läßt sich dadurch nicht beirren. Zaccato ist viel zu vertieft in seinen Vortrag und fährt damit in unverminderter Begeisterung fort. Nach etwa zwei, drei Minuten öfnnet sich erneut die Tür. Die beiden Männer in den weißen Kitteln gehen nun zielstrebig auf den Gastredner zu und ehe dieser es sich versieht, haben sie ihn bei den Schultern gepackt. Als dieser merkt, was ihm geschieht, fängt er an, lauthals gegen seine Festnahme zu protestieren. Ja, es muß sich tatsächlich um eine Festnahme handeln, so wird den Anwesenden bald klar, schließlich ist ja ein Polizist mit von der Partie. Vor den entsetzten Augen der StudentInnen und mit dem wild um sich schlagenden Kölner Professor verlassen die Männer den Hörsaal.

Durch die Reihen des Hörsaals rauscht eine Welle der Entrüstung. Einer der Dozenten ergreift das Wort und erklärt den StudentInnen, was vorgefallen ist. Die Ärzte hätten ihn, auch zu seiner völligen Überraschung, davon unterrichtet, daß es sich bei ihrem Gast um einen aus der Nervenheilanstalt entflohenen Patienten handelt, der sich in den letzten Jahren schon häufiger als Professor ausgegeben und immer wieder in wissenschaftliche Veranstaltungen eingeschlichen hat. Der Dozent schlägt vor, jetzt erst einmal eine Pause zu machen und danach das Geschehene zu besprechen.

Niemand kann so recht fassen, was geschehen ist. Unterschiedlichste Theorien werden in Umlauf gesetzt: Die Festnahme sei zu unrecht geschehen, man hätte eingreifen müssen, meinen die einen. Der Kölner Gast sei wirklich ein Verrückter, sagen die anderen, das habe man schließlich schon am Inhalt seines Vortrages merken können. Wieder andere vermuten, das Ganze sei von den Dozenten eingefädelt worden, um die Zuhörerschaft zu verunsichern.

Nach der Pause nehmen alle gespannt und noch ein bißchen benommen in ihren Sitzreihen Platz. Hans Geißlinger, einer der beiden Dozenten – von ihm wird noch die Rede sein -, klärt (?) das Publikum dann auf: Tatsächlich handelte es sich um ein von ihm und seinem Kollegen geplantes und hier schließlich in Szene gesetztes Schauspiel. Der Gastprofessor, der Arzt, der Pfleger und der Polizist seien eigens für diesen Abend engagierte Schauspieler gewesen. Was die Anwesenden daher erlebt hätten, sei eine eindrückliche Demonstration der Tatsache, daß sich die Wirklichkeit manipulieren, ja, inszenieren läßt. Und darüber, so Geißlinger, würden sie in den nächsten Wochen sprechen [1].

 

II.

Auch hier soll von der Wirklichkeit die Rede sein. Aber wer weiß? Vielleicht handelt es sich beim Autor dieser Zeilen ja auch nur um irgendeinen entlaufenen Wirrkopf? Oder um einen Hochstapler, der das nun Folgende einfach irgendeinem fremden Speicher entnommen hat? Für die geistige Stabilität des Verfassers oder die Authentizität seines Textes kann im Grunde, wenn überhaupt, nur noch derjenige bürgen, der Zeuge des Schreibprozesses war. Im herrschenden Data-Overflow, in dem zunehmend alles überall verfügbar wird, bleibt dem Rezipienten offensichtlich nur noch eines: Gelassenheit. „Vertrauen“ wird zu der überlebenswichtigen Ressource innerhalb einer zu Hyperrealität tendierenden Welt; einer Welt, die mehr und mehr in Simulation aufzugehen scheint, in einer „Generierung des Realen ohne Ursprung oder Realität“. (Baudrillard,1978,S. 7)

Eine Hoffnung jedoch bleibt: In einer Zukunft, in der bald alles jederzeit abrufbar sein wird, verliert das Plagiat ohnehin seinen Reiz. Die unausgewiesene Zitiererei hat ein Ende und jeder oder jede macht sich wieder seine oder ihre eigenen Gedanken.

 

III.

Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß es keineswegs immer so einfach ist, über die Wirklichkeit zu sprechen oder zu schreiben, wie es auf Anhieb erscheinen mag. Dem ersten Anschein nach wird es zwar kaum jemanden geben, der behaupten würde, er oder sie kenne sie nicht. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich rasch, daß wir uns in der „kalten und rauhen“ Realität unserer Sache keineswegs immer so sicher sind, wie wir meinen. Nicht selten sind wir konfus oder „kopflos“, wie wir sagen. Und manch einen, der schon einmal bei dem Versuch, zu Antworten auf brennende Fragen zu kommen, den Faden verloren hat, wird dabei ein ganz grundsätzlicher und beunruhigender Verdacht beschlichen haben: Die Befürchung, daß wir uns in unserem Alltagsleben nur von einer problematischen Annahme oder instabilen Einsicht zur nächsten hangeln.

Und schlimmer noch: Vielleicht ist längst in noch viel größerem Stil eine ganz umfassende Form der Demontage im Gange; eine Art Wirklichkeitsabbau auf breiter kultureller, ökonomischer, sozialer und medialer Basis. Wahrscheinlich droht uns ja tatsächlich eine „Wüste des Realen“ oder dessen „Agonie“, wie Jean Baudrillard einmal geschrieben hat. (Buadrillard, 1978, S.7)

Folgt man Baudrillard für eine Weile, so haben die zahlreichen Bemühungen der Menschheit, ihrer Realität habhaft zu werden durch den Versuch, sie in Bilder einzufangen, eine eigentümliche Entwicklung durchlaufen. Fungierte das Bild zunächst tatsächlich als Reflex und Verweis auf eine tieferliegenden Realität, so maskierte und denaturierte es diese schon bald zunehmend. Der Kontakt zwischen Abbild und Realität brach allmählich ab, so daß die Bilder mehr und mehr nur noch zur Maske der Abwesenheit einer tieferliegenden Realität gerieten. Heute schließlich verweist die Mehrzahl der Bilder überhaupt auf keine Realität mehr. Das Bild wird zum sich selbst blendenden Schein ohne Hintergrund; zu einem Schleier, dem das dazugehörige, zu verschleiernde Gesicht abhanden gekommen ist.

Der hier beschriebene, scheinbar unumkehrbare Prozeß einer allumfassenden Abstraktion menschlicher Einbildungskraft von jeglicher Realität gleicht einem „Todessturz der Menschheit ins Imaginäre“. Jedes Bild stellt still. Das Abgebildete wird eingefriert. Das Bild macht leblos, es tötet ein wenig, so wissen es die Fotografen: ein Druck auf den Auslöser und der Schnappschuß sitzt. (Hofmann,1991) [2]. In der Imagination kommt dabei vieles nicht mehr vor: der eigene Körper etwa, auch der des anderen. Ja, das Andere schlechthin ist im Grunde abwesend. In der Immanenz der Einbildungskraft, so Dietmar Kamper, sind all die Abgründe zugeschüttet, in die man von anderen gestürzt werden könnte. Die Imagination ist eine Strategie der „Hochsicherheit“.

Einer Menschheit, die, wie Kamper sagt, inzwischen vollständig „im Bilde“ ist, kommt dabei das, was sie bewahren will, die Realität nämlich, zunehmend abhanden. Die Wirklichkeit wird zur „unmöglichen Gegenwart“. (Kamper, 1995, S.9) [3]

 

IV.

Doch vorerst, so scheint es zumindest, bewahrt die meisten von uns noch eine Art Urvertrauen, eine tief verankerte Grundsicherheit, die sich immer wieder wie von selbst herstellt, davor, auf Dauer die Orientierung zu verlieren. Ja, es ist vielleicht gerade unsere Fähigkeit, auch mal das Grübeln einstellen zu können, die uns vor schlimmerem bewahrt. Es ist diese Fähigkeit, die uns bei Fragen wie: „Ist das wirklich wahr, was er da gesagt hat?“, „Liebt sie mich, wie ich sie?“, „Was kommt wohl nach dem Tode?“, „Hat das alles hier einen Sinn?“ nicht den Kopf verlieren läßt.

Während wir uns selbst jedoch die meiste Zeit über in Sicherheit wähnen, zeigt uns ein Blick in die Psychiatrie die scheinbar andere Seite menschlicher Existenz. Dort leben diejenigen, denen „unsere“ Wirklichkeit abhanden gekommen ist. Sie leben und leiden in ihrer „eigenen Welt“, wie wir oft sagen. Aber der Sprung ins „Irrenhaus“ erscheint den meisten als zu weit, als daß sie sich vom Anblick psychisch Kranker tatsächlich beunruhigen lassen würden. Dennoch ist es so, wie Dostojewski einmal schrieb [4]: „Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, daß man seinen Nachbarn einsperrt“.

Der Grad, der zwischen Wirklichkeit und Wahn verläuft, ist offensichtlich schmaler als viele denken. Allein der Umstand, daß in der Bundesrepublik Deutschland jeder oder jede dritte unter leichten, jeder oder jede zehnte unter erheblichen chronischen oder akuten Angstzuständen leidet, läßt aufhorchen [5]. Bei vielen Menschen tritt bekannterweise Angst auch dann auf, wenn sie augenscheinlich gerade nicht mit wirklich gefährlichen Situationen konfrontiert sind. Vor einer Maus etwa oder einem Fahrstuhl muß man keine Angst haben, würden die meisten wohl sagen. Es scheint, als liefe bei diesen Menschen etwas schief, was in Zusammenhang stehen muß mit ihrer Fähigkeit, eine gegebene Situation „realistisch“ einschätzen zu können. Häufig auftretende, scheinbar sinnlose Angst kann damit wohl als ein Anzeichen für eine partielle Wirklichkeitsverwirrung gedeutet werden. Das scheinbar Selbstverständliche gerät dabei ins Wanken.

 

V.

Als im Jahre 1990 der Golfkrieg bevorstand, schrieb Jean Baudrillard: der Krieg wird nicht stattfinden. Als der Krieg dann voll im Gange war, sagte Baudrillard: der Krieg findet nicht statt. Und nach dem Krieg konterte er ein drittes Mal: der Krieg hat nicht stattgefunden [6].

Man mag Baudrillard für verrückt erklären und doch hat die verbohrte Insistenz etwas befremdliches, mit der er darauf verweist, daß etwas, daß sich nicht vor unseren Augen, sondern lediglich innerhalb der Medien abgespielt hat, sich darum nicht unbedingt auch noch in der Realität abgespielt haben muß. Wer die merkwürdig groteskuen Computer- und Videobilder von der angeblichen Zerstörung irakischer Munitionslager im Fernsehen gesehen hat, der mag sich angesichts der damals herrschenden Pressezensur tatsächlich so manches mal gefragt haben, was da unten nun eigentlich „wirklich“ los ist.

Aus dem medialen Alltagsgeschäft ist uns diese Art der Verwirrung jedoch mittlerweile bereits viel zu vertraut, als daß sie uns tatsächlich immer wieder aus der Ruhe brächte. Wer ist heute, im Zeitalter von Multimedia und Reality-TV, schon noch ernsthaft besorgt über die Möglichkeit, Opfer vielfältiger Manipulation zu sein? Meistens halten wir uns doch für „voll im Bilde“ und merken dabei schon gar nicht mehr, wie sehr wir es tatsächlich schon sind. Wir lassen uns eben ganz gerne unterhalten, und nicht etwa aufrütteln; egal ob vom Krieg oder von Frau Schreinemakers.

Einer der vielen Gipfel unseres Unterhaltungsprogramms ist dann auch eine T.V.-Sendung mit dem Titel „Bitte Lächeln“. In ihr werden ausschließlich von Zuschauern eingesandte Homevideos gezeigt, auf denen die ganz gewöhnlichen Familienkatastrophen festgehalten sind: der Papa, der beim Versuch, eine Glühbirne zu ersetzen, vom Schlag getroffen vom Stuhl fällt. Die Oma, die beim Kaffeetrinken schlafend vorne über in die Torte kippt. Oder das Baby, das vom Wickeltisch rollt.

Weil Kinder überdurchschnittlich viel Mist bauen, sind es überwiegend Kinderszenen, über die sich da mit der Erleichterung desjenigen, der all dies nicht erleiden muß, lachen läßt. Entscheidend dabei ist, daß die mit Videokameras bewaffneten Mütter und Väter heute derart über ihre Kinder „im Bilde“ sind, daß sie gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen, daß ihre Schützlinge, etwa bei dem Versuch, das Fahrradfahren zu erlernen, wirklich ins Pflaster beißen. Während die Kamera läuft, guckt der Papa durch den Sucher, sich selbst schon in der genannten Sendung wähnend, und sieht gespannt zu, wie sich der Sohnemann an der Geburtstagskerze die Pfote verbrennt oder wie das Töchterlein beim Tanzen in die Blumenkübel stolpert und sich ein Bein bricht. Die Eltern können einfach nicht mehr einschreiten, nicht weil sie nicht anwesend wären, sondern weil es die Aufnahme, ihre Inszenierung stören würde. Die Familie rückt in den eigenen Bilderrahmen.

VI.

Ähnlich ergeht es der Gemeinde der Chat- und Internet-Benutzer. „Weltweit“, so Friedrich Küppersbusch, „sitzen viele Millionen Menschen am Bildschirm und erzählen sich, was sie alles schönes machen könnten, wenn sie nicht den ganzen Tag vor dem Computer hocken würden“ [7]. Der Bildschirm, so Dietmar Kamper, wird zur „Mattscheibe“. Das Leben spielt sich bloß noch auf der (Benutzer-) Oberfläche ab. Menschliche Kommunikation unterliegt der hohen Auflösung der Maschine, die jeden noch so komplexen Gedanken in einen einfachen binären Code verwandelt. Der alte Traum einer formalen Logik, die nur das Ja und das Nein kennt, wird Wirklichkeit. Die Digitalität ist unter uns und zum neuen metaphysischen Prinzip erhoben. Die „mystische Eleganz des Binärsystems“ entfaltet ihren Glanz. (Baudrillard, 1989, S.154)

„Digital total“ (Negroponze,1995) ist die Parole und erschreckend einfach ist dann auch die Sprache, so wie sie von den Computerfreaks gehandhabt wird. Sie sprechen, wie in Orwells „1984“, eine Art Newspeak. Ihr Wortschatz reduziert sich auf Parolen und eine einfache Grammatik. Ihre Gefühle regredieren zu sogenannten Emoticons, zu kurzen Symbolketten; versehen mit einem Smiley etwa, mit dem man gute Laune durch das Netz jagen kann. Die Flut ihrer Mitteilungen wirft neben dem bekannten Computerschrott auch massenweise Junkmail ab; Informationen, die wie Junkfood zwar ohne Gehalt und Nährwert, aber trotzdem schwer verdaulich sind.

Im digitalen Netz, dort, wo gerne das Ende des biologischen Geschlechterdeterminismus ausgerufen wird, erstreckt sich vielmehr das Ende und die Wüste alles Biologischen schlechthin. Da Kreativität nur noch am Bildschirm stattfindet, werden sich die kreativen Potentiale des menschlichen Körpers in Zukunft auch auf den Mouse-Click reduzieren. Die digitale Evolution, in der sich die nicht mehr gebrauchten Körperglieder und Organe langsam zurückbilden werden, läßt den Menschen zum Krüppel mutieren. Die Bezeichnung des „Freaks“ erhält seine ursprüngliche Bedeutung zurück als eines „freak of nature“; einer Laune der Natur. Die Person des Physikers Stephen Hawkins weist uns tragischerweise den gattungsgeschichtlichen Weg: Nur noch einer seiner Finger bewegt sich. Dieser kommandiert den Joystick, alles andere ist gelähmt. Seine Gedanken jedoch schweifen in virtuellen Welten umher und um schwarze Löcher herum.

Das Stigma der Verstümmelung aber hört auf, eines zu sein, wenn alle es tragen. Das ist die vielgerühmte „radikale“ Demokratie im Internet [8]. Und radikal sein heißt ja bekanntlich „die Sache bei der Wurzel fassen“.(Marx, 1965, S.385) Was im Netz vom Körper übrigbleibt ist damit allenfalls sein Schein als Fingerprint.

Vollzieht sich die Kommunikation im Netz bisher noch wesentlich auf textlicher Basis, so ist jedoch längst ein umfassender Übergang vom Text zum digitalisierten Bild eingefädelt. Die sogenannten Icons markieren einen weiteren Fluchtsprung in die Imagination. Dort verliert sich der historisch eroberte Raum in der Enge einer ewigen Wiederkehr des Gleichen [9]. An einer solchen Rückkoppelung der Einbildungskraft an die ihr vorgesetzen Bilder zeigte jüngst auch der Software-Mogul Bill Gates Interesse. Er erwarb das Copyright an einem Archiv von einigen Millionen Fotos und Bildern, wobei er diese nun bloß noch in das Netz einzuspeisen und dabei abzukassieren braucht. So hat dann endlich jeder Surfer vollständig dasselbe vor Augen.

Schließlich ist es die Cyberspace-Technologie, die am vehementesten dem Endsieg des Imaginären zuarbeitet. Ihr ist „die Zelle der Peep-Show noch nicht eng genug“, so Kamper. „Ein Bildapparat, der wie eine Helm-Brille funktioniert, wird von außen aber als eine materiell gewordene Blendung verständlich.“(Kamper,1995, S.62) „Das Simulationsprinzip“, so Baudrillard, „überwindet das Realitätsprinzip und das Lustprinzip“. (Baudrillard, 1989, S.162) Auch wenn etwa der Cybersex ein ganz neues Prickeln zu versprechen scheint, so gleichen die in den dunklen und hautengen Anzügen steckenden Lustmolche, die sich mit einer Vielzahl von Elektrodenpolstern bestücken, doch eher den ganz gewöhnlichen S/M-Monstern, die man inzwischen ja hinreichend aus dem Fernsehen kennt [10]. In einem Spiel, in dem die Datenbank zur elektronischen Samenbank wird, kann ihr orgiastisches Schütteln aber leicht ein „Tilt“ auslösen; dann nämlich, wenn im Gummianzug das System abstürzt. Das vertraute Game-Over wird somit zum Fuck-Off.

Die Immanenz des Imaginären steigert sich zur Lückenlosigkeit. Noch einmal Baudrillard: „Es gibt keine Bühne, keinen Abstand, keinen „Blick“ mehr: dies ist das Ende des Spektakels, des Spektakulären, es gibt nur noch das totale, fusionierende, taktile, ästhetische (und nicht mehr ästhetische) Enviroment“.(Baudrillard,1989,S.162) Die ganze Welt wird zum universalen Disney-Land. Der Poststrukturalismus setzt sich selbst in Szene. Der oder die einzelne, am besten zerebral vernetzt, verkommt zum Knotenpunkt fremder Strukturen. Man braucht nur seine oder ihre Adressenkartei oder Festplatte zu löschen und der virtuellen Hinrichtung folgt der wirkliche Selbstmord. Das Nicht-Identische, so könnte man mit Adorno sagen, das, was schließlich doch nicht digitalisierbar ist – in diesem Fall der Körper -, fordert seinen Tribut. Die fleischliche Hülle des PC-Users ist noch da, auch dann noch, wenn der Strom längst abgeschaltet ist. Aber sie ist kopflos geworden und daher dem Tode geweiht. Der Mensch, zum bloßen Symbol unter anderen geschrumpft, wird von seinen eigenen Phantasmen gefressen.

 

VII.

Den ahnungslosen PC-User und die ebenfalls weitgehend im Dunkeln tappende Fernsehzuschauerin, läßt das eigentliche Elend, mit dem sie täglich konfrontiert sind, vorerst überwiegend kalt. Auf wessen Kosten wir uns „zu Tode amüsieren“, und wenn auch auf unsere eigenen, ist schließlich egal. Es bleibt das nur selten hinterfragte Vertrauen darauf, daß es in der Welt schon mit „rechten Dingen“ zu geht.

Nur dann, wenn wir einmal selber in eine Misere verwickelt sind, vermag uns noch der Blitz der Verunsicherung zu treffen; etwa wenn der Fernsehzuschauer doch einmal das Haus verläßt und nach dem Brötchenkaufen feststellt, daß irgendjemand sein Fahrrad geklaut hat. Zunächst mag er sich ja damit beruhigen, das sei sicherlich nur ein Scherz, in Wahrheit sei er jetzt endlich selbst im Fernsehen und Kurt Felix (oder einer der anderen Spaßvögel) käme gleich um die Ecke geradelt. Doch nach einigem Warten muß er der Realität ins Auge sehen. Er kommt zu der niederschmetternden Einsicht: Hinterlistiger Diebstahl. Das Rad ist weg. Dafür jedoch funktioniert sein Realitätsbewußtsein noch.

Was aber passiert, wenn man einmal keine Erklärung mehr parat hat? Wenn man aus einem Albtraum nicht mehr zu erwachen scheint? Wenn die Welt wie verhext ist? Wenn einem die Realität abhanden zu kommen scheint? Ja, wenn die Verunsicherung vollends eintritt: wie wirklich ist dann noch die Wirklichkeit?

Um sich den Antworten auf dererlei Fragen nähern zu können, ist es zunächst wenig hilfreich zu fragen, was genau wir eigentlich für wirklich halten. Eine solche Diskussion verliefe vermutlich im Endlosen oder in Kreisen. Vielmehr ist es von entscheidender Bedeutung, zunächst einmal nach den Bedingungen zu fragen, unter denen wir etwas, was auch immer dies sei, für wirklich halten.

Der Soziologe Hans Geißlinger hat dies in einem spannenden Buch mit dem Titel „Die Imagination der Wirklichkeit“ (Geißlinger,1962) getan. Er macht dort seine langjährigen Erfahrungen als Mitglied der Berliner „Story Dealer AG“ sozialpsychologisch fruchtbar. Die Story Dealer veranstalten seit 1981 sogenannte Phantastische Reisen für Kinder und Jugendliche. Diese Reisen beginnen als ganz gewöhnliche Ferienfreizeiten. In deren Verlauf jedoch werden die Teilnehmer aus scheinbar heiterem Himmel in nahezu unglaubliche Abenteuer verwickelt. Da geht man schon mal auf Jagd nach einem tyrannischen Saurier oder auf die Suche nach dem bösen Schweinehund, man nimmt Kontakt zu kleinen grünen Männchen auf oder geht der Frage nach, warum die Schwerkraft plötzlich zu schwinden scheint.

Natürlich hatten die Story Dealer auch in dem Berliner Hörsaal ihre Hände im Spiel. Sie inszenieren eine Art unsichtbares Theater im Schattenreich zwischen Realität und Fiktion und zwar so perfekt, daß sich nicht mehr zwischen ihrem sogenannten Fake und einer „wirklichen“ Wirklichkeit unterscheiden ließe. Seit einigen Jahren trauen die Story Dealer sich auch an die „Großen“ heran. In Zürich etwa setzten sie Etruskische Ausgrabungen in Szene, was die Presse dort über eine „Weltsensation“ jubeln ließ. Im November 1994 veranstalteten sie mitten auf dem Berliner Ku’damm die „Dritte Weltmeisterschaft im Sub-City-Fishing“, bei der die Story Dealer ausgewachsene Manager in den Gullis der Touristen-Meile nach echten Aalen angeln ließ.

Es sind, wie gesagt, die Bedingungen, unter denen wir Menschen etwas für wirklich halten, die Geißlinger in seinem Buch zu beleuchten versucht. Wirklichkeit, so Geißlinger, wird schlechthin erst durch menschliches Handeln und dabei wesentlich durch Kommunikation geschaffen und aufrechterhalten. Solange die Realität innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft von niemandem angezweifelt wird, besitzt sie dort, wie in einer Art stillschweigenden Übereinkunft, Gültigkeit. Ob Voodozauber oder Osterhase: Wenn man gemeinsam an etwas glaubt, dann wird selbst die Fiktion zur realen Kraft, zum Fakt.

Erst ein Einwand „von außen“ zwingt uns dann dazu, unsere Auffassung von dem, was wirklich ist, zu überdenken und, wenn nötig, zu modifizieren. Einer weitgehend isolierten Gruppe, wie etwa den von der Außenwelt abgeschnittenen Jugendlichen auf den Phantastischen Reisen, aber auch der Leserschaft einer Zeitung und sicher auch der Internet-Gemeinde läßt sich damit, wenn man das Einmaleins der Manipulation beherrscht, eine bestimmte Wirklichkeit, selbst eine erfundene, regelrecht aufzwingen.

Haben wir uns für das, was uns zustößt, ersteinmal mühsam einen bestimmten Interpretationsrahmen zurechtgelegt, dann wird alles daraus abgeleitete zu einem selbstbestätigenden Beweis: Pech beim Spiel und in der Liebe belegen dann nur noch das ohnehin schon ungünstige Horoskop und das erhörte Gebet die Existenz des Schöpfers. Wenn der Schein zur baren Münze wird oder gar zum Opiat, dann tritt weitgehende Blindheit ein gegenüber der Möglichkeit, daß es auch anders sein könnte: rote Flecken am Hemdkragen des Ehemannes werden dann ohne zu zögern mit dem Nudelholz quittiert und der gespielte Orgasmus der Freundin mit einem zufriedenen Grinsen.

Wie „Zauberlehrlinge“, so Geißlinger, schaffen wir uns unsere Realität. Selbst, wenn andere die Drähte ziehen und die Bedingungen manipulieren, unter denen wir uns die Sachlage konstruieren: Wenn wir es nicht anders wollen oder wenn es gut gemacht ist, dann wächst sich selbst das Fake, die virtuelle Realität in unserem Kopf zur Wirklichkeit aus. An einem bestimmten Punkt werden wir dann die Geister, die wir riefen, nicht mehr los. Die Wirklichkeit verselbständigt sich und wir erweisen ihr den Götzendienst.

 

VIII.

Man könnte dieses Phänomen einer „Kopfgeburt“ der Wirklichkeit den „subjektiven Faktor“ nennen, den jeder Mensch zur Konstitution der Realität beizutragen vermag. So hat beispielsweise Freud darauf verwiesen, daß es genau dieser Faktor ist, das also, was der oder die einzelne für wirklich hält, was in der Entstehungsgeschichte psychischer Störungen eine gewichtige Rolle spielt. Es müssen, so Freud, nicht unbedingt „tatsächlich“ erlebte Leiderfahrungen sein, etwa eine reale Vergewaltigung, die ein Trauma auslösen; auch ein sich seit der Kindheit allein in der Phantasie abspielendes und daher eingebildetes Erlebnis kann zur Krankheit führen und besitzt daher zwar nicht materielle, aber doch psychische Realität. (Freud,1948,S.60)

Innerhalb des Psychologie, aber auch in der Philosophie oder der Soziologie ist der Gedanke, daß jeder Einzelne mit seinem individuellen Beitrag an der Konstitution von dem beteiligt ist, was dieser „seine“ Wirklichkeit nennt, mancherorts jedoch derart pervertiert worden, daß sich in unserem Jahrhundert einige theoretische Ansätze herausgebildet haben, die davon ausgehen, daß jede Person sich ihre eigene Wirklichkeit bastelt. Was die einzelne für wirklich hält, so z.B. die Ansicht eines radikalen Konstruktivismus oder Relativismus, das ist für sie dann auch „die“ Wirklichkeit und darüber läßt sich mit anderen im Grunde auch gar nicht streiten. Daß diese Ansicht zwar nicht vollständig verkehrt ist, aber dennoch zu kurz greift, sollen rasch zwei Beispiele verdeutlichen.

Der Psychiater Ronald D. Laing (Laing,1994, S.42) berichtet von einem Patienten, der im Rahmen einer therapeutischen Behandlung auf die Frage, ob er Napoleon sei, wahrheitsgemäß mit „Nein“ antwortete. Der angeschlossene Lügendetektor jedoch zeigte an, daß er log. – Es wäre nun nicht bloß kontraintuitiv, sondern schlichtweg lächerlich zu glauben, er sei trotzdem Napoleon, nur weil er sich in seinem tiefsten Innern dafür hielte. Menschen, die so etwas von sich behaupten, laufen Gefahr, „eingewiesen“ zu werden, wissenschaftliche Theorien jedoch, die dasselbe tun, dürfen frei kursieren.

Ein weiteres Beispiel: Meine zweijährige Nichte hält sich in letzter Zeit immer häufiger die Hände vor die Augen und ruft dann aus: „Ich bin weg!“. Die um sie herumsitzende Familie stimmt dann häufig gleich mit ein in ihr Spiel und fragt einander: „Mensch, wo ist sie denn. Hat jemand die Kleine gesehen?“. Und doch traut meine Nichte diesem von ihr selbst inszenierten Spiel nicht ganz, obgleich doch alle Umstände dafür zu sprechen scheinen, daß sie tatsächlich weg ist: Zum einen ist da die Tatsache, daß sie nichts mehr sieht von dem, was vorher war, zum anderen der Umstand, daß die Familie ihre Abwesenheit beklagt. Trotzdem kann sie es nicht lassen, durch ihre kleinen Finger hindurchzublinzeln. In diesem Moment spürt sie, daß da noch etwas anderes ist; etwas, das über ihren eigenen Willen hinausgeht, etwas, das sich nicht so einfach ändern läßt: Sie ist noch da, am selben Ort, obwohl sie selbst sich weggewünscht hat und die anderen ganz offensichtlich glaubten, sie sei wirklich weg.

Nun macht sie sich wohlmöglich ein differenzierteres Bild von der Welt und stellt dabei fest: obwohl also ihr „subjektiver“ Faktor durch einen weiteren, den „sozialen“ Faktor, d.h. durch die Zustimmung der Anderen, ergänzt wurde, scheitert die Illusion doch an etwas, das man den „objektiven“ Faktor der Konstitution von Wirklichkeit nennen könnte. Die Zweijährige bereits lernt in diesem zum Ernst neigenden Spiel, und das soll der eigentliche Kern meiner Ausführungen sein: sie lernt im Zuge der Elaboration ihres Weltbildes, daß die Wirklichkeit drei Koordinaten hat.

 

IX.

Bevor ich diesen Gedanken wieder aufnehme, möchte ich zuvor auf ein ganz grundlegendes Dilemma verweisen, das immer dann sich zeigt, wenn eine Diskussion über das, was Wirklichkeit ist, im Chaos versandet. Meistens geht es dabei ja um die Frage, ob es so etwas wie eine wirkliche Wirklichkeit, eine „objektive“ Realität überhaupt gibt. Nur selten jedoch explizieren die Diskutanden ein ihren Ansichten jeweils zugrundeliegendes Paradigma. Bewußt oder unbewußt haben sie sich nämlich stets schon für eine der folgenden Auffassungen entschieden, die je nach dem, welche davon vertreten wird, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen müssen, wobei diese, zumindest teilweise, miteinander unvermittelbar bleiben.

Es scheint drei grundsätzliche Sichtweisen zu geben auf die Frage nach der Möglichkeit einer „objektiven“ Wirklichkeit. Eine erste Auffassung geht dabei davon aus, daß eine nicht von Menschen gemachte Wirklichkeit tatsächlich existiert; eine Art höhere Ordnung, so etwas wie das Leibniz’sche Uhrwerk, das tickt und tickt und tickt… Der Mensch kann dieser, so wird behauptet, zwar langsam, aber doch unaufhörlich auf die Spur kommen; in den Naturwissenschaften etwa, in der Philosophie oder auch in der Kunst. Dies ist im Grunde die Position des philosophischen Realismus oder eines radikalen Positivismus.

Eine andere Auffassung jedoch bezweifelt, daß es eine solche höhere Ordnung wirklich gibt. Vielmehr ist in der Welt im Grunde alles Konfusion und Zufall. Die Ordnung, die der Mensch der Welt abzulesen glaubt, ist immer nur die, die er von vorneherein in sie hineinlesen muß, weil er die Unordnung nicht erträgt. Jede Wirklichkeit, die der Mensch zu erkennen glaubt, ist doch nur auf seinem eigenen, subjektiven Mist gewachsen und mit den jeweiligen Versionen anderer Menschen grundsätzlich unvermittelbar. Das etwa ist die Ansicht des skeptischen Relativismus oder radikalen Konstruktivismus.

Drittens schließlich trifft man auf eine Auffassung, die gewissermaßen die beiden erstgenannten zu synthetisieren versucht. Ihr zufolge mag es eine unabhängige und höhere Ordnung zwar geben, ja, sie ist sogar sehr wahrscheinlich. Da wir diese aber auf Grund unseres beschränkten Verstandes nicht so erkennen können, wie sie „an sich“ ist, entwerfen wir statt dessen ein eigenes Modell von ihr in der Hoffnung möglichst nah am Original zu sein, und passen dieses dann den sich wandelnden Bedingungen und Erkenntnissen an. Das ist die Position eines aufgeklärten Idealismus oder kritischen Rationalismus.

Wenn diese drei Positionen aufeinander treffen, ist der Streit vorprogrammiert. Die Frage etwa, ob sich die Erde um die Sonne dreht, würde der philosophische Realist, der an das Vorhandensein einer außerhalb des menschlichen Bewußtseins liegenden Welt glaubt, zunächst umstandslos mit „selbstverständlich“ beantworten. Der skeptische Relativist hingegen würde meinen, das hänge davon ab, was man hier unter „Erde“, „Sonne“ und dem Verb „drehen“ verstanden wissen will und nicht zuletzt davon, ob der Einzelne diesen Vorgang auch tatsächlich als zu seiner Wirklichkeit gehörig akzeptieren wolle. Der kritische Rationalist jedoch würde behaupten, daß nach all den Erkenntnissen, die wir bisher gesammelt haben, anzunehmen ist, daß sich die Erde um die Sonne dreht, solange, bis jemand den schlagenden Beweis des Gegenteils antritt. Wirklich wissen, könnten wir das nicht.

Im Grunde läßt sich danach nicht mehr weiter diskutieren. Das gegenseitige Un- und Mißverständnis wird vermutlich dadurch hervorgerufen, daß jede dieser Positionen eine der drei oben genannten Faktoren beim Zustandekommen von dem, was als Wirklichkeit gelten soll, überbetont oder gar ausschließlich in Betracht zieht. Während der philosophische Realismus nämlich auf das Vorhandensein einer zu erkennenden wirklichen Wirklichkeit und damit auf den „objektiven“ Faktor setzt, zieht sich der Relativismus auf den „subjektiven“ Faktor zurück und verkündet die Ansichten des einzelnen als jeweils allein für diesen gültig. Der kritische Rationalismus hingegen macht, wenn man so will, den „sozialen“ oder auch konsensualen Faktor der Wirklichkeit stark. Für ihn ist im Grunde das wirklich, was innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft der Wissenschaftler solange als wahr gilt, bis irgendjemand das Gegenteil beweist.

 

X.

Schon das Beispiel meiner Nichte deutet an, daß keine dieser drei Positionen, die Wirklichkeit in ihrer strukturellen Gänze in den Blick zu bekommen vermag. Wäre die Zweijährige nämlich eine radikale Relativistin, dann hätte sie sich mit ihrem subjektiv erhofften „Ich bin weg!“ begnügt. Wäre sie Anhängerin des kritischen Rationalismus gewesen, dann hätte ihr, vorerst zumindest, die soziale Zustimmung der Familie zu ihrem Vorhaben gereicht. Wäre sie jedoch eine Realistin, dann wäre sie gar nicht erst auf die seltsame Idee gekommen, sich die Augen vor das Gesicht zu halten und sich weg zu sehnen.

Kurz um: Ihr Beispiel zeigt, daß es hier nicht um eine Grundentscheidung zu Gunsten einer der drei genannten Auffassungen gehen kann, sondern vielmehr darum, das offensichtliche Spannungsverhältnis auszuleuchten, in dem die „subjektiven“, die „sozialen“ und die „objektiven“ Faktoren der Wirklichkeit zueinander stehen. Weder das, was ich allein für mich als wirklich erachte, noch das, was andere mit mir für wirklich halten, und auch nicht bloß das, was „an sich“ wirklich zu sein scheint, kann allein Inhalt meiner Wirklichkeitsauffassung sein. Für unsere Auffassung von der Wirklichkeit ist vielmehr eine Art Koordinatennetz relevant, das aus allen drei dieser Faktoren gesponnen ist. Wir leben gewissermaßen in drei Wirklichkeiten zugleich. Was aber bedeutet dies nun für die Frage nach der Entstehung unserer Wirklichkeitsauffassung?

 

XI.

Ein Beispiel: Ein Ehepaar liegt im Bett. Sie haben gerade das Licht ausgeknipst und wollen schlafen. Draußen weht ein heftiger Wind. Vor dem Schlafzimmerfenster steht ein großer Baum. Der Wind läßt einen Ast abbrechen (objektive Achse). Der Mann schreckt plötzlich auf: „Hast du das gehört?“. Er glaubt an einen Einbrecher (subjektive Sicht des Mannes). „Da war nichts. Ich hab nichts gehört“, sagt die Frau (subjektive Sicht der Frau). „Doch sicher“, sagt der Mann, „es hat irgendwie geknackt. Da ist bestimmt ein Einbrecher“. „Vielleicht hast du ja recht“, sagt die Frau, die sich plötzlich nicht mehr sicher ist, ob sie nicht vielleicht doch etwas gehört hat. Der Mann greift zur Pistole. Sie zieht sich ihren Bademantel an. In diesem Moment vollzieht sich eine Art Verschmelzung der beiden subjektiven Wirklichkeitsauffassungen von Mann und Frau (was selten vorkommt) zu einer gemeinsam geteilten Situationsdefinition; zu einer „sozialen“ Wirklichkeit. Beide gehen nun nämlich gemeinsam davon aus, daß ein Einbrecher um das Haus schleichen könnte (soziale Achse).

An diesem Beispiel wird deutlich, daß in dem Moment, wo der Mann auf das Problem des Einbrechers zu stoßen scheint, wo für ihn eine Verwirrung oder eine Verunsicherung eintritt, als er plötzlich nicht mehr weiß, was wirklich ist, daß er in diesem Moment den Kontakt zu seiner Frau sucht und nutzt, um sich mit dieser über das, was da gerade geschehen ist, zu verständigen. Vermutlich ist es also das Feld des Sozialen, die „soziale“ Wirklichkeit, die in der Herausbildung unserer Auffassung von dem, was wirklich ist, eine Art Scharnierstellung einnimmt zwischen der „subjektiven“ und der „objektiven“ Wirklichkeitsachse. Immer dann nämlich, wenn unsere subjektive Sicht auf die uns umgebende Wirklichkeit problematisch wird und wir allein zu keiner Klärung kommen, begeben wir uns in die soziale Welt, um uns in dieser gemeinsam mit anderen über das zu verständigen, was in einer „objektiv“ vor sich zu gehen scheint.

Dieses Zusammenspiel dreier Wirklichkeitsorientierungen ist aber offensichtlich spannungsvoll, labil und brüchig. Wenn es gestört ist, etwa dann, wenn der Kontakt zwischen zwei der drei Ebenen abbricht, geraten wir in die Gefahr, daß uns die Wirklichkeit abhanden kommt. Ein sehr ängstlicher Mensch z.B. traut sich unter Umständen überhaupt nicht mehr in eine objektive Wirklichkeit hinaus oder ein solcher, der nur noch vor dem Computer herumhängt. Ein anderer, der innerhalb der Sozialwelt weitgehend isoliert lebt, dem fehlt vielleicht die Möglichkeit, sich mit anderen über die Probleme, die er mit der Wirklichkeit hat, zu verständigen. Und ein dritter, der sich plötzlich selbst fremd wird, weil er durch einen Unfall einen Teil seiner Erinnerungen verliert (oder seine Datenbänke) oder so verunstaltet wird, daß er sich nicht mehr in den Spiegel zu sehen traut, dem mag vielleicht die subjektive Wirklichkeit zusammenbrechen. Alle diese Menschen befinden sich in der Gefahr, die „Fassung“ zu verlieren, weil sie ganz einfach nicht mehr wissen können, was sie für wirklich halten sollen.

Wenn es dem einzelnen nicht mehr gelingt, sein Wissen über die drei Achsen hinweg auf Dauer zu einem stabilen, unproblematischen und kohärenten Ganzen zu integrieren – dann etwa, wenn die Bügelfunktion der sozialen Welt versagt -, wird das scheinbar Selbstverständliche, die Wirklichkeit nämlich, zu einem ernsthaften, vielleicht lebensbedrohlichen Problem. Von dieser Perspektive aus gesehen ist die Wirklichkeit eine Interpretation der Welt, so wie sie sich strukturell aus drei Quellen speist: Aus der Annahme der Gegebenheit vorfindbarer Tatsachen und Ereignisse zum einen, aus gemeinsam mit anderen gewonnenen Situationsdefinitionen zum zweiten und aus dem je individuellen Vermögen, zu eigenen Deutungen der Welt zu gelangen, zum dritten. Sie ist insofern wirklich, im Sinne von wirkend, am Werke, als ich sie stets, bewußt oder unbewußt, zum Ausgangspunkt meines alltäglichen Handelns mache.

Im Zuge der hier angedeuteten kulturellen und technologischen Entwicklung, in welcher die oder der einzelne zunehmend einer Vielzahl von Manipulationen und Verwirrungen ausgesetzt sein wird, dürften die lebensweltlichen Verhältnisse, so könnte man sagen, immer „wahnsinniger“ werden. Die Integrität des Menschen und sein Weltverhältnis stehen damit nicht bloß in einer, nein, sie steht gleich in drei Wirklichkeiten auf dem Spiel.

* Colloquium vom 25.01.1996

 

Anmerkungen

[1] Natürlich kenne ich die Geschichte nur vom Hören/Sagen. Die Quelle aber ist verläßlich. Wirklich!

[2] Th. Bernard sagt: „Und wenn Sie einmal spazierengehen in einem Wald und es knipst Sie jemand, dann gehen Sie achtzig Jahre immer nur in dem Wald spazieren. Sie können dagegen gar nichts machen.“

[3] Diesem Buch bin ich hier viele Anregungen dankbar

[4] Ich weiß nicht mehr, wo

[5] Siehe dazu beispielsweise die inzwischen zahlreiche Ratgeberliteratur, etwa Wolf ,1989

[6] Diese Äußerungen Baudrillards entnehme ich dem Buch von Kamper

[7] Küppersbusch, F.: am 3.12.95 in ZAK (ARD)

[8] „Zensur! ruft nun die Internationale der Computerfreaks. Zu Recht. Denn tatsächlich steckt im Internet, dem Zusammenschluß von Millionen kleiner und mittlerer Computer, das Versprechen radikaler Demokratie. Niemand beschränkt mehr den Zugang: niemand bewertet oder kontolliert den Datenfluß. Ein herrschaftsfreier Raum, in dem jeder unerkannt auf jede Information zugreifen kann. Segen für alle, die unter autoritären Regimen leiden.“ So bei Kleine-Brockhoff, zu den Ermittlungen gegen die Firma Compuserve wegen des Verdachts der Förderung von Kinderpornographie.

[9] So Breede, W.E. am 28.11.96 in einer Seminarsitzung am Fachbereich für Politische Wissenschaft der FU Berlin.

[10] Dort war dann jüngst auch davon die Rede, daß es in Amerika bereits die ersten Scheidungsfälle wegen „virtuellem Sex“ gäbe.

 

Literatur

Baudrillard, J. (1978). Agonie des Realen. Berlin.

Baudrillard, J. (1989). Die Simulation. In W. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Weinheim.

Freud, S. (1925). Selbstdarstellung. In S. Freud (1948), Gesammelte Werke. Bd. 14. London.

Geißlinger, H. (1992). Die Imagination der Wirklichkeit. Frankfurt a.M./New York.

Hofmannn, K. (1991). Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. München.

Kamper, D.(1995). Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie. München.

Kleine-Brockhoff, T.(1996, 05. Januar). Das globale Dorf braucht keinen Sherrif. Die Zeit.

Laing, R.D. (1994) Das geteilte Selbst. Köln.

Marx, K. (1965). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1. Berlin.

Negroponte, N. (1995). Total Digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation. München.

Welsch, W. (Hrsg.). (1989). Wege aus der Moderne. Weinheim.

Wolf, D. (1989). Ängste verstehen und überwinden. Mannheim.