La condition postmoderne – est-ce qu´elle est passée?

Eine Zeitdiagnose

Um die Postmoderne ist es merkwürdig still geworden. Das „alles ist möglich“ scheint dem TINA-Prinzip gewichen: “es gibt keine Alternative“ – zu den herrschenden Zuständen des Lebens und Zusammenlebens, der Politik. Die „Notwendigkeit“ der Ökonomie, der „Globalisierung“ hat sich wieder auf die übermütigen Subjekte gelegt: Rückfall in die Moderne?

Der postmoderne Diskurs hatte das Ende, die Auflösung der „Großen Erzählungen“ der Moderne behauptet, und damit zugleich die Befreiung der Subjekte aus dem Zwangskorsett der „Identität“. Denn auch die „Identität“ des Subjekts war unter die Großen Erzählungen eingereiht worden. Wir seien frei darin, unsere „Identität“ jeweils neu zu erfinden, sie durch unsere – kleinen – Erzählungen über uns, über unsere Geschichte, unsere Pläne und Hoffnungen, „narrativ“ zu erschaffen (Bruder 1990; 1993; 1994; 1999).

Diese Selbsterschaffung hat sich inzwischen immer mehr als Zwang herausgestellt: Zwang zur Selbstverwirklichung, Autonomie, Kreativität, Flexibilität (s. Boltanski & Chiapello 1999; s.a. Bruder 2005 b). Was als Befreiung gefeiert worden war, zeigt sich nun als eine Abstraktion von den tatsächlichen Beschränkungen, Forderungen, Zumutungen – der Macht. Die Macht war lediglich unsichtbar geworden, abstrakt, dem Bewusstsein entzogen, unbewusst.

Wir „konstruieren“ zwar uns und unsere Welt. Aber zugleich sind wir nicht frei, jede beliebige Geschichte zu wählen, jede beliebige Konstruktion. Unsere Wahl bewegt sich zunächst innerhalb des Rahmens jener Geschichten, die wir von anderen gehört haben, die andere über uns (und über sich) uns erzählt haben, – zunächst die Eltern, dann andere. Und immer gehen in diese Erzählungen die Geschichten ein, die sie selbst gehört und gelesen haben, also die Diskurse außerhalb der Dyade, heute in ganz entscheidendem Umfang der „Medien“.

Wir übernehmen diese Geschichten nicht einfach, wir variieren sie – wie das Thema einer Sonate. In der Narration geben wir dem Thema seine konkrete Gestalt, verwirklichen wir das Thema des Diskurses. Aber zugleich ist es das Thema, das sich durch seine Variationen durchhält. Unsere „Selbstschöpfung“ folgt also einem Imperativ, den nicht wir aufgestellt hatten: „uns zu dem zu machen, zu dem wir gemacht worden sind“ (Sartre). Nicht bewusst und absichtlich, sondern ohne dass wir dies wissen und gegen unseren – bewussten – Willen. Als ob wir einer Macht jenseits unseres Willens und Bewusstsein folgten.

Dies war bereits die Sicht der Psychoanalyse. Während die Postmoderne, als Kritik der „Metaerzählungen“ (der Moderne), ihrer Auflösung in die Vielfalt und Vielstimmigkeit der Narrationen, die Macht selbst, das „Jenseits“ des Bewusstseins (des Subjekt) zu vergessen schien und sie auf der Ebene des Imaginären (der Dyade) ansiedelte, war für die Psychoanalyse das Subjekt nicht Herr im eigenen Haus, vielmehr einer Macht unterworfen, die das Subjekt lediglich verleugnet, die sein Denken und Handeln bestimmt, gegen seinen Willen und hinter dem Rücken seines Bewusstseins, die „jenseits“ seines bewussten Willens angesiedelt ist: im „Unbewussten“, aus dem Unbewussten wirkt (Bruder 2005 c). Gegen das „Unbewusste“ hat sich die Psychologie immer schon gewehrt. Darin erweist sie sich als moderne Wissenschaft, die versucht gerade „mit dem Rücken zum Unbewussten voranzuschreiten“ (Foucault 1966).

Für eine Kritik an der Moderne müssen wir also von der Psychoanalyse ausgehen. Allerdings hat Freud nicht nur die moderne Vorstellung vom Subjekt als Souverän seines Handelns und Denkens bereits desavouiert, sondern Freud hatte zugleich diese Selbstüberschätzung des modernen Subjekts wieder machttheoretisch zurückgenommen: er hat die Macht, die unser Denken und Handeln bestimmt in uns selbst zurückverlagert, im Unbewussten als psychischer Instanz verkörpert.

Recht hatte Freud insofern, als Herrschaft durch das Subjekt selbst aufrechterhalten wird – und gleichzeitig verleugnet, unbewusst gehalten. Aber indem er diese entscheidende Qualität der Macht, uns nicht bewusst zu sein, unbewusst, ohne Willen und Bewusstsein ihr zu folgen, als „Instanz“ in uns selbst – verdinglicht hat: das „Unbewusste“ –, hat die Psychoanalyse aus der Bedingung der Wirkung der Macht eine Macht (in uns) gemacht und damit die Macht (außerhalb) „vergessen“, unbewusst gemacht. Und: einen Schritt weiter begründet Freud Herrschaft durch das Subjekt selbst aus der Notwendigkeit, seine „Triebe“ zu unterdrücken (Bruder 2002; 2005 a; 2006 b).

Für eine Kritik an der Moderne reicht deshalb die Psychoanalyse Freuds nicht aus. Und zwar aus demselben Grund, wie der postmoderne Diskurs nicht ausreicht: aus dem Grund ihrer Machtvergessenheit (Bruder-Bezzel 1985).

Das Unbewusste ist zuerst beim anderen, bevor es beim Subjekt ist. Das Unbewusste als die Macht, die unser Denken und Handeln bestimmt, ist außerhalb des Subjekts (Lacan). Ich wende mich deshalb Lacans Reformulierung der Psychoanalyse zu, die dieses Unbewusste in jenem – „überindividuellen“ – Diskurs (des Anderen) verortet und damit die Macht, die uns gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins bestimmt – wieder an ihren Ort zurück setzt (Bruder 2003).

Zugleich hat Lacan die Postmoderne vorweggenommen. Lacan war in der Tat für die postmoderne Diskussion – zunächst der „französischen“ – der entscheidende – und bislang unbeachtete – Boden und Horizont. Alle waren sie bei Lacan in die Schule gegangen, die meisten hatten an seinen Seminaren teilgenommen. Bei Lacan tauchen bereits die postmodernen Topoi auf – 25 Jahre vor Lyotards (1979) stichwortgebendem Essay: Kritik des „autonomen Ich“, die Konstitution des Subjekts im – „überindividuellen“ – Diskurs.

Zugleich und darüber hinaus haben diese Formulierungen bei Lacan einen kritischen Glanz, den sie inzwischen – zumindest in der anglo-amerikanischen Diskussion – verloren zu haben scheinen. Diese macht eher den Eindruck einer gewissen routinierten Abgeklärtheit, von „Plaudereien am Kamin von Richard Rorty“ (Deleuze & Guattari 1991), die den aktuell brennenden Themen und Problemen außerhalb gegenüber abgestumpft zu sein scheint: den neoliberalen Globalisierungsstrategien des Abbaus des Sozialstaats, wie des begleitenden Ausbaus des Sicherheitsstaats, der Produktion von Arbeitslosigkeit und Armut, mit der Beschwörung des Wirtschaftswachstums, der Brutalisierung politischen Handelns, der flächenbrandartigen Ausbreitung von Kriegen. Dieses Heraustreten der Macht als gewaltförmiger, kriegerischer – nicht nur in den Kriegen zwischen Staaten, sondern zugleich als Krieg gegen die Bevölkerung in der neoliberalen Offensive – eine (teilweise) Aufhebung der Abstraktheit der Macht durch diese selbst hat möglicherweise den Diskurs der Postmoderne selbst aufgehoben.

 

I.

Beginnen wir also mit Lacan. Lacan eröffnet seine Seminare mit der Darstellung des Feldes der Sprache und der Funktion des Sprechens in der Analyse. Er entwickelt dort das folgende „Schema des Sprechens“ (2. Seminar: 1954/55).

Indem das Ich (a´)[1] sich an a (den anwesenden anderen) wendet, zu diesem zu sprechen meint, antwortet es () auf A (den abwesenden Anderen), den anderen aus seiner vergangenen Geschichte: die „Übertragung“.

Dass auf A antwortet ist a´ nicht bewusst. Der Diskurs des Anderen ist das Unbewusste. Er bestimmt unser Denken, Sprechen, usw. indem in ihn eintreten.

In diesem Sinne ist der Diskurs des Anderen die Macht, die unser Denken und Sprechen bestimmt. Und in diesem Sinne ist diese Macht unbewusst, wirkt ohne dass es uns bewusst wäre (oder zu sein brauchte).

 

Die Behauptung des Unbewussten durch die Psychoanalyse war bereits gegen die Moderne gerichtet, gegen die moderne Vorstellung vom souveränen Subjekt.

Das A, das hier durch die Psychoanalyse eingeführt, war in der Subjekt-Vorstellung der Moderne gestrichen, die Stelle die Macht war leer geblieben.

          

Dadurch gerade hatte sich das moderne Subjekt als Herr, als souverän gesetzt.

Die Psychoanalyse macht sich lustig über diesen „dummen August“, der noch nicht einmal Herr im eigenen Haus sei. Der lediglich verleugnet, dass es eine Macht gibt, die sein Handeln und Denken bestimme.

 

II.

Auch die Postmoderne ist eine Kritik des modernen Subjekts. Bei Lyotard scheint die Rolle eines Subjekts eher den Diskursen, Diskurs-Arten und Satzregelsystemen zuzufallen (Lyotard 1983, S. 10).

Ein Satz wird von einer Gruppe von Regeln gebildet (Regelsystem, Regime). Es gibt mehrere Regelsysteme von Sätzen: Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwei Sätze ungleichartiger, heterogener Regelsysteme lassen sich nicht ineinander übersetzen. Sie können in Hinblick auf einen durch eine Diskursart festgelegten Zweck miteinander verkettet werden. Wobei der Einsatz darin besteht, dass die beiden Parteien Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung eines Referenten erzielen. Diese Diskursarten liefern Regeln zur Verkettung ungleichartiger Sätze, mit denen Ziele erreicht werden können: Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtfertigen, Bewerten, Erschüttern, Kontrollieren (Lyotard 1983, These).

Die Ziele aber „erwachsen […] aus den Diskursarten. “Sie nehmen von den Sätzen Besitz und von den durch sie dargestellten Instanzen, insbesondere von „uns“. „Wir“ streben sie nicht an. Unsere „Absichten“ sind die Spannungen bei gewissen Verkettungsweisen, die die Diskursarten übertragen auf die Empfänger und Sender von Sätzen, auf deren Referenten und Bedeutungen. „Wir glauben, dass wir überreden, verführen, überzeugen … – doch zwingt nur eine dialektische, erotische, didaktische, ethische, rhetorische, „ironische“ Diskursart „unseren“ Satz und „uns“ selbst ihren Verkettungsmodus auf. Es gibt keinen Grund, diese Spannungen Absichten und Willen zu nennen, außer der Eitelkeit, – der Verkehrung des Anthropozentrismus – auf unser Konto zu verbuchen, was dem Vorkommnis und dem Widerstreit zukommt, den es zwischen den verschiedenen Weisen daran anzuknüpfen, hervorruft“ (Lyotard 1983, § 183). Das Subjekt ist „immer auf „Knoten“ des Kommunikationskreislaufes gesetzt, auf Posten, die von Nachrichten verschiedener Natur passiert werden. […] Sie durchqueren es, indem sie ihm die Stelle entweder des Senders oder des Empfängers oder des Referenten zuordnen“ (Lyotard 1979, S. 55).

Der Satz: enthält die Positionen:
Sender           Empfänger/Adressat           Referent            Bedeutung (Sinn)

„Sender und Empfänger sind markierte oder nicht-markierte Instanzen, die durch einen Satz dargestellt werden. Dieser Satz ist keine Botschaft, die von einem Sender zu einem Empfänger – beide von ihm unabhängig – gelangt. Sender und Empfänger werden im Universum, das der Satz darstellt, situiert, genauso wie dessen Referent und dessen Sinn“ (Lyotard 1983, § 18). Sie sind erst mit dem Satz gegeben, gehen ihm keinesfalls voraus.

Vergleichen wir diese Struktur mit dem Schema des Sprechens (bei Lacan), so fällt zunächst die Eindimensionalität auf: es fehlt der „2. Satz“ hinter, unter, jenseits des ersten, der gemeinte, jenseits des gesagten Satzes – der „Positivismus“ der Postmoderne (Foucault).

Dies wird noch deutlicher, wenn wir die Positionen im Satz anders schreiben, statt in einer Linie, folgendermaßen:

Sender                     Empfänger / Adressat
Referent                   Bedeutung (Sinn)

Wir können darin die Lacansche Formel des Diskurses erkennen (im Folgenden: Lacan 1969/70: Seminar XVII):

S1         ——>       S2        
                      a

Der Signifikant (S1) ist dadurch definiert, dass er ein Subjekt () für einen anderen Signifikanten (S2) repräsentiert.

Auch hier haben wir 4 Positionen (die hier von S1, S2, und a eingenommen werden):

Herrensignifikant  —->   Wissen     
Subjekt                          Genießen

Ebenfalls werden auch hier die Positionen nicht durch S1, S2, und a definiert, sondern durch den Diskurs:

Begehren      —->    Anderer              
Wahrheit                 Verlust (des Genießens)

Durch die unterschiedliche Positionierung auf den Positionen ergeben sich vier unterschiedliche Diskurse:
Diskurs des Herrn, der Wissenschaft, des Analytikers und der Hysterika:

 

Zugleich sind die Diskurse – durch eine Vierteldrehung – miteinander verbunden, die zeigt, dass sie alle den Diskurs des Herrn stützen. Die „Vielfalt“ der Diskurse ist also eine des „Diskurses des Herrn“, in dem das Subjekt als „gespaltenes“ () produziert wird: als „Sklave, der sich als Herr fühlt“.

Zurück zu Lyotard:

S1     ——>     S2                  Sender            Empfänger/ Adressat
a                                            Referent         Bedeutung (Sinn)

Zwar ist das Subjekt nicht Subjekt seines Satzes, Subjekt seiner Position – bei Lyotard ebenso wenig wie bei Lacan. Die Position wird ihm zugewiesen – durch den Satz. Es wird „gesprochen“ (Lacan).

Die Diskursart schreibt die Verknüpfung vor, dh in der Diskursart des Befehls kann man nur gehorsam folgen (oder Gehorsam verweigern; schweigen). Der Diskurs (die Diskursart) schreibt vor, wie, mit welchem Satz wir in ihn eintreten, wie wir unsere Sätze bilden („verketten“) – oder schweigen (müssen). In einem bestimmten Diskurs(Diskursart) nicht mögliche Sätze können nicht gebildet werden – sie können nur durch Schweigen vertreten werden. Die Macht (das Unbewusste) ist die Macht des Diskurses, Diskursmacht

Aber: das Unbewusste, bei Lacan der Diskurs des Anderen, wird hier (bei Lyotard) um den Anderen verkürzt. Das Unbewusste ist nur noch der Diskurs – ohne einen Anderen, der sein Subjekt wäre. Der Andere fehlt hier (in der postmodernen Formulierung Lyotards), und zwar nicht der konkrete andere, es fehlt nicht das Du der Dyade, sondern der abwesende Andere. Der Diskurs bleibt eigenartig „Herrenlos“.

Der Diskurs ist nicht mehr die „Dritte“ Dimension, jenseits der Dyade:

Alles spielt sich so ab, es gäbe es nur die Ebene a´ – a, die Ebene der Dyade. Auf ihr ist somit die „Intersubjektivität“ anzusiedeln, die der „Narration“. Und damit die Selbstkonstitution (in der Narration).

Wir stellen uns selbst her, ebenso wie unsere Welt, durch unsere Erzählungen, durch das Erzählen der Geschichte über mich (und andere). Es erscheint so, als ob das Subjekt wieder in seine Herrenrolle eingesetzt wäre, so als ob sich das Unbewusste aufgelöst hätte und damit: die Macht, die unser Reden, Denken, Handeln bestimmt, gegen unseren Willen und ohne unser Bewusstsein.

Zugleich ist aber diese Macht nicht zu bestreiten, die unser Reden, Denken, Handeln usw. bestimmt – gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins. Das ist die Situation der Postmoderne, die „condition postmoderne“ (Lyotard): die Macht ist unserem Bewusstsein nicht zugänglich. Sie ist “jenseits“ unseres Lebenshorizonts angesiedelt, unpersönlich, unserer bewussten Erfassung, unserer sinnlichen Erfahrung entzogen, abstrakt: nur an ihren Wirkungen zu erfassen (Foucault), die ohne unser Bewusstsein wie gegen unseren Willen zustande kommen: unbewusst

 

III.

Die Wirkungen der (abstrakten) Macht zeigen sich unbestreitbar in unserem Alltag. Dort sind sie (konkret) zu erfahren: in der Intersubjektivität personaler Beziehungen.

Und weil sie dort, in den Beziehungen erfahren werden, werden sie (die Wirkungen der abstrakten Macht) auch als solche (Wirkungen) der konkreten Beziehung wahrgenommen, als vom (anwesenden) anderen kommend, vom Subjekt beantwortet, agiert: Die „Machtkämpfe“ in den Beziehungen – als Kämpfe um Anerkennung des Subjekts durch den anderen, Kämpfe um Überlegenheit (Adler), als „Souveränität“ des Subjekts.

Und im Umkehrschluss werden die (gesellschaftlichen) Machtbeziehungen (-verhältnisse) nach dem Muster dieser Erfahrung/Wahrnehmung (in der Dyade) als Machtbeziehungen zwischen Personen gedeutet und in den Beziehungen begründet, als grundlegende, überhistorische condition humaine. Die Abstraktheit der (gesellschaftlichen) Macht wird konkretisiert, mit den Figuren unserer persönlichen Erfahrungswelt bevölkert. Deshalb ist (immer noch) die Max Webersche Definition von Macht überzeugend: Macht als „Chance“, innerhalb einer „sozialen Beziehung“ – seinen „eigenen Willen durchzusetzen“ (Weber 1922, S. 28). Macht als personale Macht über andere – innerhalb einer sozialen Beziehung: Die “Phantasmen der Macht“.

Mario Erdheim (1982) sieht in ihnen die Weise, wie sich die Beherrschten ihre für sie unerträglichen Lebensbedingungen, den Zustand gesellschaftlicher Herrschaft erträglicher zu machen versuchen, die Abstraktheit der Macht mit Fleisch und Blut auszustatten, fassbar zu machen. Sein Beispiel: Freud gegenüber der Kriegserklärung Franz Josefs. Dieser konnte sich nicht vorstellen, dass der Kaiser nicht – wie der ersehnte gütige Vater – alles für sein Volk gibt und den Feinden des Volkes die Stirn bietet – so wie es heute für uns unvorstellbar ist, Bush hätte den Anlass für den Krieg gegen den „Terrorismus“ selbst initiiert (Wie in dem Film „Loose Change“ (Kleingeld) von Dylan Avery ein US-Geheimdienst).

Allenfalls beurteilen wir die ergriffenen „Konsequenzen“ als falsch: der Krieg gegen den Terrorismus verstärke diesen erst, sagen wir, er zerstöre die Demokratie – der Zustand in Afghanistan und Irak bestätigt dies. Aber wir können kaum glauben, dass dies das Ziel (gewesen) sein könnte. Wir können sogar soweit gehen, die Erscheinungen (des Terrorismus in der arabischen Welt) als Folgen falscher Entscheidungen, Handlungen (des Westens) in der Vergangenheit zu erklären (die Demütigung der islamischen Welt – durch die westliche Überheblichkeit (Imperialismus). Wir können uns aber nicht vorstellen, dass diese „Folgen“ einkalkuliert (beabsichtigt) gewesen sein könnten, dass sie bereits in die Planung der „falschen Gründe“ eingegangen, einbezogen worden waren.

Genauso wie wir denken, es sei falsch, die bestehende Arbeitslosigkeit durch Verlängerung der Arbeitszeit zu bekämpfen – womit wir recht haben. Aber wir unterstellen dabei, dass es das Ziel der Politik sei, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Wir betrachten die Welt nicht aus der Perspektive der Herren, die die Folgen viel genauer im Auge haben, von denen wir immer nur überrascht sind, weil sie die „Ursachen“ selber geschaffen haben. Wir trauen den Machthabern nicht zu, derart zynisch jene „Folgen“ zu provozieren, dass sie den Tod von Tausenden einkalkulieren. Wir denken von der Herrschenden, sie seien „Menschen wie „du und Ich“ – Obwohl wir immer wieder eines Schlechteren belehrt werden.

 

IV.

Die Phantasmen der Macht entstammen aber nicht nur unserer Erfahrung der Macht(Wirkungen) in der Dyade, sie sind nicht nur Ausgeburt unserer Phantasie (des dummen August). Sie werden uns tagtäglich durch die Medien, durch die Politiker und „Meinungsmacher“ in den Medien angeboten, geradezu aufgedrängt. Sie reduzieren die gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhänge auf die Eigenschaften und Interessen von Personen, auf persönliche Beziehungen (die Figur des „Landesvaters“ – ebenso wie die „Verschwörungstheorien“). Sie sind also Produkte des Diskurses, der sie von außerhalb, aus dem “jenseits“ der Dyade in die (Narrationen der) konkrete(n) Lebenswelt eingeführt hat.

Der Diskurs bietet uns die Phantasmen an – als „Deutungen“, Interpretationen der Wirkungen der Macht. Er macht aus den Bildern, den Vorstellungen, die er den Narrationen der Lebenswelt entnommen hat, diskursive Elemente, er macht aus den Wirkungen der Macht eine Proposition, eine Behauptung, eine „Position im Satz“, auf die wir gemäß den Regeln der Diskursart „antworten“ können („Verkettung“). Er bietet sie unserer Stellungnahme an, gibt sie uns als die „Argumente“, denen wir unsere Zustimmung geben können (oder sie verweigern).

In der Möglichkeit der Zustimmung sind wir als Subjekte aufgerufen, nicht als Unterworfene, Beherrschte, nicht in Form von Befehl und Anordnung, sondern von Verführung und Anstachelung. “Die Macht unterdrückt nicht, sie stachelt an“ (Foucault 1982). Sogar während des NS gab es keinen Befehl für die Horrorversuche der Biologen (s. Deichmann 1995).

Aber dadurch, dass er in die Dyade von außen eingreift, ihre Erfahrungsbilder zu Argumenten für die Zustimmung zur Macht macht, fungiert der Diskurs (der Medien) als Diskurs der Macht (Bruder 2004) – nicht allein dadurch, dass die Medien in immer weniger Konzernen konzentriert sind und dass diese Konzerne selbst ökonomische Interessen haben, denen sie mit der Unterstützung anderer Unternehmen und der – kapitalistischen – Ökonomie dienen: Chomsky (2002), Bourdieu (1996).

Und zugleich versteckt dieser Diskurs der Medien die Macht hinter den Bildern der Dyade, macht diese Bilder zu Phantasmen der Macht: “Verstecken durch Zeigen“ (Bourdieu). Er entzieht die Macht unserer bewussten Wahrnehmung, macht sie unbewusst und verdoppelt so ihre Wirkungen.

Der Diskurs der Macht ist das Medium zwischen uns und der Macht: wir erfahren von der Macht nur – über ihre „blinden Wirkungen“ hinaus – was die Macht uns zu wissen gibt. Und zu wissen bekommen wir nur, was unserer Zustimmung dienlich, was sie befördern könnte: das Verschweigen der Macht – bis hin zur Lüge.

Die Lüge ist nichts anderes als Verstecken durch Zeigen: hinter der Lüge, dem geäußerten Satz steht immer ein zweiter, der nicht geäußert wird, der versteckt wird, durch den gesagten (Weinrich 1966). Hinter der Behauptung, durch den Krieg (gegen den Terrorismus) werde die Freiheit verteidigt, steht die nicht genannte Freiheit des Westens, der USA, der Ölkonzerne, die verteidigt werden soll. Hinter der Behauptung, durch Verlängerung der Arbeitszeit würden Arbeitsplätze erhalten, wird versteckt, dass das ganze Spiel selbstverständlich nur dann aufgeht, wenn gleichzeitig genügend Arbeitsplätze gestrichen werden. Diejenigen, die länger arbeiten „retten“ also ihre Arbeitsplätze um den Preis, dass sie einen Teil ihrer Kollegen in die Arbeitslosigkeit schicken (lassen).

Hannah Ahrendt hebt die realitätsverändernde Wirkung des behaupteten Satzes hervor: der Lügner will, dass sich die Sache so verhalte, wie er sie darstellt, dass die Welt sich nach seinen Behauptungen richtet. Insofern geht es ihm darum, mit der Behauptung der Unwahrheit die Realität zu verändern. In dieser Hinsicht sei der Lügner der Politiker par excellence.

Versteckt wird das – partikulare – Interesse der Mächtig(er)en, indem es als allgemeines dargestellt wird, das „Wachstum“ – „der Wirtschaft“ statt der Unternehmen, Konzerne erfordere „die Steuern“ zu senken, statt die Unternehmenssteuern, die Steuern auf Unternehmergewinne, es erfordere, die Lohnkosten und Sozialabgaben zu senken – für die Unternehmen, nicht für die Arbeitnehmer, “die Bürokratie“ abzubauen – nämlich diejenige, die der Freiheit der Unternehmen Schranken setzt, nicht die Bürokratie innerhalb der Unternehmen selbst, deren Kommandostruktur eher der militärischen Befehlsgewalt abgewonnen als der demokratischen Vorstellung von Mitbestimmung, die Freiheit der Unternehmen, sich keinen anderen „Gesetzen“ als denen des Marktes unterzuordnen (s. z.B.: Butterwegge 2005).

Verstecken durch Zeigen schließlich durch die Form, in der der Diskurs der Macht auftritt: als „vielstimmiger“, durch seine Vervielfältigung – die spezifisch „postmoderne“ Form des Versteckens durch Zeigen. Sie ist verbunden mit der medialen Vermittlung des Diskurs der Macht. Die Macht verschwindet hinter den Diskursen, die sie gleichwohl konzertant begleiten.

Diese „Vielfalt“ von Diskursen ist die des „Diskurses des Herrn“ (Lacan), sie organisieren alle die Zustimmung zur Macht. „Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern“ (Derrida 1993, S. 91). „Dank der Vermittlung der Medien“ werden „die Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur, und der akademischen Kultur“ „zu einem einzigen Diskurs verschmolzen“, der „überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum“ „organisiert und beherrscht“(ebd., S. 90). Derrida charakterisierte ihn als einen „herrschsüchtigen Diskurs“, der „das „Überleben“ der „alten Modelle der kapitalistischen und liberalen Welt“ „feiert“(Derrida 1993, S. 89).

 

V.

Durch unsere Zustimmung zum Diskurs der Macht, durch die Übernahme seiner Parolen machen wir uns zu Subjekten, Herren (Adler), behaupten uns als Herren.

Wir machen uns zu Subjekten vor dem Hintergrund der Ideologie des souveränen Subjekts, die damit affirmiert wird, verstärkt, den Phantasmen des dummen August. Die Phantasmen sind wirkungsvoll, sie sind das, womit die Macht uns folgen macht, folgen lässt. Um zu folgen, müssen wir uns als Subjekt angesprochen fühlen, müssen wir verleugnen, unterworfen zu sein, die Beschämung, einer Macht unterworfen zu sein, verleugnen, und dazu müssen wir die Zustimmung selbst verleugnen.

Es scheint so, als übernehmen wir – zumindest die Journalisten – die angebotenen „Argumente“ des Diskurs der Macht dankbar, denn sie ermöglichen uns, zustimmen zu können, ohne dass wir beschämt einräumen müssten, uns unterworfen zu haben.

Wenn durch Senkung der Lohnkosten Arbeitsplätze geschaffen werden, können wir selbst der Verlängerung der Arbeitszeit zustimmen; wenn der Krieg „für die Demokratie“, für die „Freiheit“ geführt wird, mit welchen Argumenten können wir dann unsere Zustimmung verweigern? Auch wenn wir anfangs darüber gelacht hatten, so ist uns das inzwischen vergangen, hat doch dieser Diskurs seine Wirkung so weit erzielt, dass wir bereit sind, der Verurteilung derer zuzustimmen, die sich gegen „unsere“ Bevormundung zur Wehr setzen. Der Chor der Empörung gegen die „Feinde der Freiheit“ ist einstimmig, wenn wir unsere Freiheit bedroht sehen, die Freiheit, überall auf der Welt einzugreifen, unsere Ordnung durchzusetzen, unsere Interessen. „Wir lassen uns nicht …“, „wir beugen uns nicht der Gewalt“ – eigenartig: aus dem Mund des Herrn (bzw. seines Hofstaates). Die Verteidigung der Macht mit den Argumenten ihrer Kritik.

Die neueste Ausgabe der Studie „Deutsche Zustände“, die unter der Federführung von Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld seit 2001 die ausländerfeindlichen Einstellungen der Deutschen erfasst, zeigt eine Zunahme der Ablehnung gegenüber den muslimischen Bevölkerungsteilen. Während im Jahr 2004 24% der Befragten Deutschen der Behauptung zustimmten “Die Zuwanderung sollte Muslimen generell untersagt werden“, ist deren Anteil im Jahr 2006 auf 28,5% angestiegen. Zum Vergleich: die Zustimmung zu der Behauptung “Juden haben zuviel Einfluss in Deutschland“ ist von 21,5% im Jahr 2002 auf 14,1% im Jahr 2006 gesunken.

Dieser „Bewusstseinswandel“ spiegelt die Berichterstattung in den Medien. Wie das „Zentrum für Türkeistudien“ feststellt, war zwischen 2000 und 2004 von Muslimen und dem Islam hauptsächlich dann die Rede, wenn es um Terroristen, Gewalt und andere negative Aspekte ging (s. Freitag vom 15.12.06, S. 4). Dieser Bewusstseinswandel ist nicht anders zu erklären, als jener unter der rot-grünen Regierung zu „mehr Markt“ vollzogene, und zwar, wie Klaus Dittko, Manager bei der PR-Agentur Scholz & Friends über diesen sagt: „letztlich nur durch medialen Druck“. Waren 1999 noch 60% der Deutschen der Meinung, „der Markt sei schuld an der hohen Arbeitslosigkeit“ und betrachteten nur 20% die Marktwirtschaft als eine Ordnung, die dem einzelnen besonders viel Freiheit biete, so waren 6 Jahre später, im Jahr 2005 bereits 43% für „mehr Markt“ – statt für „mehr Sozialstaat“. 11 Jahre davor, 1994 waren das 25 % [2] gewesen. Nur eine Minderheit vertritt: „mehr soziale Absicherung“. 1994 hatte fast die Hälfte der Befragten gemeint: „Aufgabe des Staates“ sei es „den Wohlstand zu sichern“. Inzwischen meinen dies nur noch 1/3, 2/3: denken, sie seien selbst dafür verantwortlich.[3]

Hinter dem „medialen Druck“ stehen allerdings andere Mächte, die von sich behaupten können: “wir haben das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reformen gestärkt“ – so Tietmeyer, früher Bundesbankpräsident oder Gesamtmetall-Präsident Kannegiesser: „Wir haben den Konsens darüber hergestellt, was für Reformen sinnvoll sind und das Land stärken“: “Dass der Sozialstaat schrumpfen müsse, dass die Wirtschaft mehr Freiheiten brauche“ (Dieter Rath von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ des Arbeit-Geberverbandes Gesamtmetall).

Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die als „nationales Kampagnen-Hauptquartier der Neokonservativen“ aus Wirtschaft und Politik bezeichnet wird („The International Economy“ (Winter 2005, S. 22), tritt als unabhängige Organisation von Bürgern auf, repräsentiert durch wissenschaftliche Experten, Paul Kirchhof wurde ja mittlerweile als Mitglied bekannt, neben ihm sind Meinhard Miegel, Hans-Werner Sinn, Bert Rürup noch bekannter. Auch eine Handvoll Journalisten befindet sich in ihren Reihen. Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ hat “Botschafter“ in allen Parteien, die dem neoliberalen Druck bisher nachgegeben haben von Kurt Biedenkopf, Lothar Späth und Gloß in der CDU über Dohnanj in der SPD bis zu Oswald Metzger von den Grünen. Sie treten in den Medien als unabhängige Experten auf oder führen als politische Konkurrenten in Talk-Runden (wie bei Christiansen) Scheingefechte (Gammelin & Hamann 2005, S. 154).

Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ ist nur eines von mehreren „Netzwerken“ der großen Unternehmen, die geheimbündlerisch im Hintergrund agieren, die offensiv die „neo“liberalen „Visionen“ in die Medien pushen: Senkung der Steuern auf die Gewinne der großen Unternehmen, Senkung und Deregulierung der Löhne, Privatisierung des sozialen Sektors. Wenn die Medien ihnen folgen, indem sie ihre Interpretationen und Kampagnen übernehmen, wenn sie ihre Interessen, Interpretationen bei den Darstellungen in den Medien durchsetzen, ihre Sicht, ihre Interpretation, ihre Vorschläge als Information verbreiten, so sind wieder sie die Macht, der wir konfrontiert sind, die sich aber unsichtbar macht, indem sie sich versteckt hinter der Unabhängigkeit der Medien, bzw. die Medien, die die Macht verstecken, hinter der Unabhängigkeit ihrer Berichterstattung.

Durch unsere Zustimmung zu den Parolen des Diskurses der Macht machen wir uns zu Subjekten – Subjekten des Diskurses. Indem wir in den Diskurs eintreten, nehmen wir die Position des Subjektes ein, die im Diskurs vorgesehen. Unser Beitrag zum Diskurs: der Beitrag von „“ ist Antwort auf (A) , entsprechend den Regeln des Diskurses (Lyotard). Subjekt also iS des Unterworfenen.

Unser Sprechen und Argumentieren, unsere Vorstellungen und Meinungen, die der Erfahrungswelt unseres konkreten Lebenszusammenhangs angehören, werden ins Register des Imaginären, Phantasmatischen gedrängt, indem der Diskurs (der Macht), der „überindividuelle“ Diskurs des symbolischen Registers, sie sich aneignet, durchdringt und sie zu „Argumenten“ der Unbewusstmachung der Macht macht.


Dem Subjekt enteignet treten seine Narrationen ihm als fremde Macht entgegen: als Teil, Momente des Diskurses der Macht, als Botschaft von Werbespots oder der »Inszenierung politischer Ereignisse« (Meyer & Kampmann 1998). Immer sind sie ein Rückgriff auf die Ebene der Erfahrung, der Beziehungen, des Imaginären, wenn zB politische Ereignisse und Konflikte in den Medien als Konflikte zwischen Personen dargestellt werden oder politische Personen als Verkörperungen von Eigenschaften, Kräften, Tendenzen, Tugenden, Programmen oder Mächten; oder als Verkörperungen archetypische Figuren: der Vater, die Mutter, der Freund, der Feind, der Gute, der Böse, der Verräter, der Unschuldige, der Weise, der Streber, der Intrigant, der Mächtige oder der Ohnmächtige usw. (Meyer & Kampmann 1998).

Die Lebenswelt wird abgelöst von der Medienwelt (Hanzig-Bätzing & Bätzing 2005, 143), die bis in die letzten Winkel des Alltäglichen vordringt, immer mehr mit der Wirklichkeit verschwimmt. Sie ersetzt die konkrete Erfahrbarkeit, sie stellt die Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Dingen in der Welt her. Unser Verhältnis zu Anderen begründet sich immer weniger aus sozialen Erfahrungen, sondern den medial vermittelten. Denn: nicht mehr der Ort zwischenmenschlichen Begegnens ist das Beziehung stiftende, sondern die Medien. Und sie durchdringen das Selbstverständnis des Einzelnen.

Diese Entfremdung des Subjekts (von sich, von seinen Beziehungen und Verhältnissen, von den Dingen seiner Welt, seinen eigenen Produkten) bestimmt die Subjektivierung im Diskurs der Macht: das sich selbst entfremdete Subjekt, seinem Begehren entfremdet, unbewusst. An dessen Stelle treten: die – falschen – Bedürfnisse, jemandem zu gefallen, Anerkennung durch andere: der „außen-geleitete Charakter“, von den Ansprüchen der anderen geleitet, sie zu erfüllen, ihnen zu genügen, den Parolen der anderen zu folgen, der Werbung, des Diskurses der Macht.

Postmoderne Subjektivität sei „die Fähigkeit, überall zugleich zu sein und sein Selbst überall verfügbar zu machen“ (Hanzig-Bätzing & Bätzing 2005, 142ff): die von den Medien geforderte „Unabhängigkeit“, „Autonomie“, „Flexibilität“. Diese Verfügbarkeit werde als Freiheitsgewinn ausgegeben. Beispielhaft dafür sei das Selbstverständnis des „neuen Angestellten“, von dem die Anforderungen des Arbeitgebers nicht mehr als fremde Ansprüche wahrgenommen werden“, sondern als Herausforderungen des Arbeitslebens selbst, und damit als Möglichkeit der Selbstverwirklichung. „Die einst als Unterwerfung unter die Logik der Marktwirtschaft erfahrene Arbeit gerät zur zynischen Metamorphose der Selbstunterwerfung des Arbeitnehmers“. „Die Widersprüche zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer“ „bekommen das Aussehen eines intrasubjektiven Konflikts“. Es “entsteht ein neues, in sich gespaltenes Subjekt, eine Arbeitnehmer-Unternehmer-Identität, die in nichts anderem besteht als in dem scheiternden Versuch, diese beiden antagonistischen Seiten seiner Innenwelt gegenseitig zu integrieren und zu versöhnen“: Das „gespaltene“ Subjekt . Es wird nicht mehr dafür bezahlt, dass es seine Arbeitsfähigkeit für eine bestimmte Zeit zur Verfügung stellt, vielmehr dafür, dass es – anstelle des Unternehmers – Verantwortung trägt – für das Arbeitsergebnis, dem es notwendigerweise seine gesamte Lebensplanung und schlussendlich sich selbst, seine Intelligenz und Kreativität, seine Person als Ganzes unterordnet“.

Die Konstruktion dieser „neuen“ Identitäten erfolgt durch das Individuum selbst. Es ist dem Individuum nicht bewusst, bzw. es wird verleugnet, dass sie Produkt des – vielstimmigen – Diskurses (der Medien) sind. Bewusst ist nur, was sich auf der Ebene des Imaginären abspielt, was das Subjekt über sein Tun und Wollen denkt, über die anderen, sein Bild von sich und den anderen.

Deshalb rekurriert der Diskurs der Macht auch auf diese Ebene, auf die Narrationen, der Dyade, deshalb wirkt er auch über diese Ebene, unbewusst. Durch ihn werden die Narrationen verbreitet, die die Individuen sich erzählen, Beziehungen stiften, durch sie werden die Beziehungen der Menschen organisiert.

Nicht bewusst ist die Besetzung dieser Ebene der konkreten Erfahrung, bzw. ihrer Narrationen durch den Diskurs der Macht, nicht bewusst ist, dass es die eigenen Produkte sind, die als fremde uns entgegentreten, als Teil des Diskurses der Macht, die Enteignung, die Entfremdung ist nicht bewusst.

Darauf baut die Vorstellung der Bewusstmachung als Perspektive der (Wieder)Aneignung der enteigneten, entfremdeten Produkte des Subjekts (durch das Subjekt selbst) als Möglichkeit der Aufhebung der Entfremdung und damit der Aufhebung der (entfremdenden, entfremdeten Macht): Das Projekt der Psychoanalyse  – jedenfalls in der von Lacan vertretenen Form. Aber wir können darin auch das Projekt der Postmoderne einordnen.

 

VI.

Lyotards Satz: „Es gibt keinen Meta-Diskurs“ ist (auch) so zu verstehen: der Meta-Diskurs ist nicht diskurstheoretisch zu begründen – sondern nur macht-praktisch – als Diskurs der Macht. Seine Hegemonie gründet auf der Macht jenseits des Diskurses, die er seinerseits sichert.

„Es gibt keinen Meta-Diskurs“ wäre also zugleich auch als eine Verweigerung zu verstehen, irgendeinen Diskurs als Meta-Diskurs anzuerkennen, die Eröffnung der Perspektive, sich mit der Macht selbst auseinanderzusetzen, die er sichert.

Hier liegt aber zugleich auch die Schwierigkeit: in der Abstraktheit der Macht. Die Abstraktheit der Macht ist nicht die des Diskurses, sondern dessen Bedingung. Sie ist die Bedingung für die Möglichkeit der Erfindung weiterer Abstraktionen, wie der damit eröffneten Möglichkeit ihrer „Konkretisierung“ mittels der Phantasmen.

Die Abstraktheit der Macht gründet in der Abstraktheit der gesellschaftlichen Synthese. Diese wird vermittelt nicht durch die gesellschaftlichen Beziehungen der Subjekt unmittelbar, nicht durch die Beziehung von „Herr und Knecht“, sondern die – wertproduzierende (abstrakte) – Arbeit.

Dh zugleich: der gesellschaftliche Zusammenhalt wird nicht durch den Diskurs (selbst) hergestellt. Abstrakte Macht ist die Herrschaft des Wertgesetzes. Durch den Diskurs wird Macht / Herrschaft nicht begründet, sondern legitimiert. Nicht erst der Diskurs der Macht abstrahiert, sondern bereits das Wertgesetz selbst. Die Dominanz des Diskurses des Herrn ist in dessen Herrschaft begründet. Solange die Produktion von Wert (dh Mehrwert) die gesellschaftlich bestimmende bleibt, bleibt jeder Diskurs dem Diskurs des Herrn unterworfen, reproduziert diesen.

 

 

 

 

 

 

 

Die Herrschaft des Wertgesetzes, die abstrakte Herrschaft ist, die Macht der Abstraktion – gegenüber dem konkreten Leben – Herrschaft des Werts über den Gebrauchswert, des stofflichen Reichtums gegenüber dem entfalteten Individuum, des Mehr“werts“ statt der Mehr“lust“ (Lacan).

Bereits durch die Herrschaft des Wertgesetzes wird die Dimension des Konkreten in seiner Form verändert. Nicht erst durch den Diskurs der Macht treten uns die alltäglichen Dinge und Beziehungen, unter denen sie hergestellt werden als fremde Macht entgegen, die uns fordert, antreibt, hetzt, statt dass wir sie genießen können („Mehrwert statt Mehrlust“). Die Entfremdung ist das Ergebnis bereits der abstrakten Herrschaft des Wertgesetzes. Die abstrakte Form(bestimmung) bestimmt das Subjekt, seine Subjektivierung (und die Abstraktionen – des Diskurses – der Psychologie).

Aber der Diskurs der Macht ist kein bloßes Begleitphänomen der abstrakten Macht. Der Diskurs zielt auf Zustimmung zur Macht, Zustimmung zum Diskurs der Macht. Er organisiert die Zustimmung (manufactoring consent: Chomsky).

Und Zustimmung zum Diskurs der Macht ist der Inhalt von “Subjektivierung“: sich zum Subjekt (seines Handelns) zu machen, indem man die Parolen des Diskurs der Macht als eigene ausgibt und vertritt.

Diese Form der Subjektivierung bedeutet die Unbewusstmachung der Macht, die das Individuum davon abhält, die Herrschaft des Wertgesetzes abzuschütteln.

Dazu formt auch er, der Diskurs, die Dimension des Konkreten ständig um, auf die er rekurriert, indem er sie “interpretiert“ – und aus ihr ein Argument für die Zustimmung zum Diskurs der Macht macht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird nach dem Modell der personalen Beziehung vorgestellt, – wie wir das bereits bei den Phantasmen der Macht gesehen haben – so auch in der Ökonomie, die nach dem Modell der Ökonomie des Familienhaushalts gedacht wird: ökonomisches “Wachstum“ wird danach in Abhängigkeit von Kostenreduzierung der Arbeit gedacht, wo es sich längst aus diesem Zusammenhang gelöst hat.

Dass „uns“ „die Arbeit ausgeht“ – das Schreckgespenst unserer Tage – statt dass wir uns über die Möglichkeit, Perspektive Befreiung von Mühsal und Plage freuen können, die eine Freisetzung für individuell gewünschte Gestaltung unserer verfügbaren Zeit wäre.

Die Arbeit geht „uns“ aus, weil sie ökonomisch nicht mehr nötig ist, bzw. weil immer weniger Arbeit nötig ist, um die Produkte des Lebens aller zu produzieren. Sie ist in Wissenschaft und Technologie materialisiert (diese produziert immer mehr vom Wert).

Wir können uns jedoch diese Befreiung vom Zwang zur Arbeit nur als Geißel vorstellen, denn wir kennen sie nur in der Gestalt der Arbeitslosigkeit. Und Arbeitslosigkeit bedeutet zugleich, der Mittel beraubt zu sein, unser Leben so führen zu können, wie es möglich wäre, angesichts der gesteigerten Produktivität, nämlich in Sorglosigkeit und Wohlstand, Glück: “Zuckererbsen für jedermann“ wie Heinrich Heine gesungen hatte.

Dass dieser Traum vom Paradies auf Erden nicht in Erfüllung geht, dass im Gegenteil, wer leben will auch arbeiten muss – entfremdet arbeiten muss – und wer keine (entfremdete) Arbeit hat, auch nicht in Würde leben darf, das wird uns tagtäglich eingebleut, aus allen Kanälen dröhnt es uns entgegen: Der Trick des „there is no alternative“: die Aufmerksamkeit wird abgelenkt von dem, auf das wir uns einlassen, indem wir dem zustimmen, das unserem Blick gezeigt wird. Aus dem Blick gerät, dem Bewusstsein entzogen wird dadurch, dass der konkrete Lebensalltag selbst durch das bestimmt wird, was wir nicht sehen, zu sehen bekommen, was unserem Blick entzogen wird durch die Macht bestimmt, inhaltlich geformt ist und dass der Möglichkeit seiner Veränderung wiederum durch die Macht sehr enge Grenzen gesetzt sind.

Die Abnahme der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ist eine Wirkung des Wertgesetzes, nämlich der gesteigerten Produktivität, nicht aber deren ungleiche Verteilung, so dass die einen überhaupt keine Arbeit mehr haben, und damit der Möglichkeit beraubt sind, ihr Leben auf dem Niveau der anderen zu führen, während die anderen weiterhin unverändert lange arbeiten müssen (oder sogar länger), so dass auch sie die Produkte ihrer Arbeit nicht genießen können.

Die(se) ungleiche Verteilung nicht die Wirkung des Wertgesetzes, sondern der Macht(haber). Statt die – aufgrund der gestiegenen Produktivität gegebene Möglichkeit der Reduzierung der Arbeitszeit aller auf das gesellschaftlich notwendige Maß gleichmäßig zu verteilen, nützen sie diese Abnahme notwendiger Arbeit zur Produktion von Arbeitslosigkeit und damit von Armut, Not für die von Arbeitslosigkeit betroffenen, missbrauchen sie die Möglichkeit der Befreiung von mühseliger, anstrengender, eintöniger, monotoner Arbeit zur Knechtung und Entwürdigung.

Dass die Macht es ist, die die mögliche Aufhebung der Entfremdung sabotiert, deren Realisierung mit der Abnahme notwendiger Arbeit zum Greifen nahe liegt, dieser Umstand wird durch den Diskurs der Macht dem Bewusstsein entzogen. Die Pervertierung dieser Möglichkeit der Befreiung von sinnloser Arbeit zur Produktion von Arbeitslosigkeit, und damit von Armut und Entwürdigung, sie wird als von Menschen unabhängiges Entwicklungsgesetz behauptet oder als von den von Arbeitslosigkeit betroffenen selbst verursacht, Ergebnis ihrer mangelnden Anstrengung, fehlenden Leistungswillens, ihres Versagens. Das „Streben nach sozialem Aufstieg lasse nach“, so SPD-Chef Beck (taz 9.10.06, S. 8). Dies sei die Ursache des sogen. „neuen Unterschichten-Problems“. So als ob ungleiche Verteilung von Arbeit und Lebenschancen, von Mühsal und Armut, Elend, Hunger und Krankheit – in einer Gesellschaft, in der gleichzeitig der Reichtum ins Unermessliche wächst – auf der Ebene der konkreten Lebensbedingungen des einzelnen verursacht sei, und deshalb auch auf dieser Ebene durch den Einzelnen zu lösen.

 

VII.

Die Abnahme der gesellschaftlich notwendigen Arbeit (in ihrer Form der abstrakten, wertschöpfenden Arbeit) entzieht dem Wertgesetz die Basis seiner Notwendigkeit. Damit taucht die Perspektive der Abschaffung der auf ihr basierenden abstrakten Herrschaft auf (Gorz 1997).

Gegen diese Perspektive richten sich alle Anstrengungen, an dieser Form von Arbeit festzuhalten. Die Produktion von Arbeitslosigkeit ist eine Möglichkeit. Es ist unübersehbar, dass diese Aufrechterhaltung der (abstrakten wertschöpfenden) Arbeit eine Anstrengung der Macht ist, dass die Behauptung ihrer Notwendigkeit eine bloße Behauptung (der Macht) ist, ein „Argument“ im Diskurs der Macht.

Die andere Möglichkeit, die (abstrakte, wertschöpfende) Arbeit aufrechtzuerhalten, ist, diese in andere Bereiche zu tragen (Gorz, S. 191), die bisher frei von der Herrschaft des Wertgesetzes waren, die bisher „außerhalb“ der wertschöpfenden Arbeit angesiedelt waren, in die „Freizeit“, Pflege, medizinische Versorgung, Hausarbeit, Urlaub, Kultur, Bildung, Universitäten usw. Die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, ihre Unterwerfung unter, wie es euphemistisch heißt, „Effizienzkriterien“ (zB „Qualitätsmanagement“, „Qualitätssicherung“: s. Bruder 2006 a).

Auch diese Möglichkeit ist dem Bewegungsgesetz des Kapitals inhärent, konstitutiv: die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ist eine der Expropriation, der – ursprünglichen – Enteignung – früher von den Produktionsmitteln, heute von den Kompetenzen und Zuständigkeiten, die noch nicht – wertschöpfende – Arbeit sind, um sie zu solcher „Arbeit“ zu machen. Aber auch hier ist der Diskurs der Macht notwendig: um diese Ausbreitung zu propagieren, dh die ihrer Selbstbestimmtheit Enteigneten und ihrer Kompetenz als fremder Macht Konfrontierten als Subjekte ihres Handelns anzusprechen.

Eine zentrale Rolle in dem Prozess, Arbeit in Nicht-Arbeits-Bereiche zu tragen, spielt heute dabei der Computer, die Computerisierung –
ganz praktisch und damit zugleich als Propagierung dieser Ausbreitung. Er ermöglicht, dass wir jene Arbeiten übernehmen – unbezahlt und unter Verschwendung unserer Lebenszeit – die bisher von den Firmen und Behörden selbst geleistet worden war: Flugpläne und Tickets selber ausdrucken, Formulare und Unterlagen jeder Art besorgen, bis zur Lieferung druckfertiger Manuskripte an die Verlage.

Vielen macht diese Arbeit auch noch Spaß – sie vermittelt ein Gefühl der Kompetenz, Beherrschung der Maschine: “Sklaven, die sich für Herren halten“. Der Spaß, einen Apparat bedienen zu können, macht abstrakt werdende Herrschaft erträglicher als die konkrete, persönliche. Weizenbaum (Freitag 29.9.06, S. 3) trifft dennoch den Punkt nicht, wenn er den Vertretern der Künstlichen Intelligenz entgegenhält, was diese für die Stärke des Computers halten, sei seine Schwäche, nämlich seine „Eindeutigkeit“, denn diese verleugne die „Mehrdeutigkeit der Welt“. Das gilt nur solange, solange das Wertgesetz nicht diese Eindeutigkeit selbst hergestellt haben wird. Mit der Computerisierung wird diese „spielerisch“ hergestellt: Die Vermischung von wertschaffender Arbeit als indirekter (abstrakter) Macht mit direkter Herrschaft durch Ausübung von Kontrolle.

 

VIII.

Wenn die Macht abstrakt wird, bedeutet das nicht dass sie verschwunden ist, sich aufgelöst hat. Sie wird nicht mehr (konkret) fassbar, verortbar, dh sie „ist überall“, ihre Wirkungen bleiben, “an ihren Wirkungen“ ist sie nach wie vor erfahrbar: in den Handlungen jedweder Person, Institution, Praxis, jedem Sprechen: im Busfahrer ebenso wie im Fahrgast, im Lehrer wie im Schüler, im Kind wie in der Mutter: im anderen – der Dyade: Die Situation der Postmoderne, „condition postmoderne“.

Wir sind auf die Dyade verwiesen, dort unsere Unzufriedenheit, unsere Wut und Aggression auszuagieren, unsere Kämpfe gegen die Macht – des anderen – zu führen, in den Beziehungen, die wir dadurch zerstören, dass wir sie als Ursache unserer Leiden, unserer Unzufriedenheit betrachten.

Der Diskurs der Postmoderne spiegelt diese Situation, wenn er die Hegemonie der „Großen Erzählungen“ (des Diskurses der Macht ) in „vergisst“, wenn er allein die „kleinen Erzählungen“ (der Dyade) gelten lässt. Als ob diese unabhängig, unberührt vom Diskurs der Macht wären, als ob es nicht der Diskurs der Macht wäre, der uns zugleich auf die Dyade verweist, dort die „Feinde“ definiert, die Sündenböcke: die „Sozialschmarotzer“, die Kinderlosen, die Alten, die Ausländer, die Moslems, die Hundebesitzer, die Raucher.

Diese Abstraktion von der Macht im Diskurs der Postmoderne macht ihn aber noch nicht zum Diskurs der Macht: Er propagiert nicht die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Macht – wie die (Neo)Konservativen, er negiert die Macht. Er propagiert nicht die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Basis der abstrakten Macht, das Wertgesetz – wie die (Neo)Liberalen, er negiert dieses.

Wenn er darauf besteht, dass nicht alles, was wir für naturgegeben halten, zu halten uns nahegelegt, aufgedrängt, zugemutet wird, dies auch ist, wirklich notwendig ist, sondern von Menschen gemacht (konstruiert) ist und durch uns fixiert, eröffnet er die Perspektive für die Möglichkeit der condition humaine / postmoderne zur Freisetzung von unnötigen, überholten, entwürdigenden Beschränkungen, zur Veränderung unserer unbefriedigenden Lebensbedingungen, zur Selbsterschaffung, Selbstschöpfung, „Ästhetik des Existenz“.

Dies ist keine Affirmation des Bestehenden der Macht, sondern deren Kritik, Protest gegen die Verweigerung, Enteignung dieser Möglichkeiten durch die Macht (Kritik der Entfremdung). Es ist keine Affirmation des Diskurses der Macht, sondern Kritik der Legitimation der Macht (und der durch sie hergestellten und aufrechterhaltenen Bedingungen) durch die Großen Erzählungen des Diskurses der Macht, die diese Bedingungen fixieren, indem sie sie legitimieren.

In der Zurückweisung jeder Form unbegründeter Macht, dh in nichts anderem als in der Macht selbst begründeter Herrschaft, liegt die Delegitimierung der Metatheorie, der postmoderne Diskurs verweist sie auf den Rang einer Erzählung unter anderen.

Trotzdem liegt darin die Gefahr, in die Affirmation des Bestehenden abzugleiten, als ob der Pluralismus der Erzählungen, ihre Gleichberechtigung bereits verwirklicht wäre, in der Abstraktion von der Macht, die die Hegemonie der einen (Meta) Erzählung durchsetzt. Diese Abstraktion lässt das Spiel mit den Diskursen als ein harmloses erscheinen, angesichts der tatsächlichen Macht(ausübung), der Ungleichheit, angesichts von Hunger, Elend, Zerstörung und Krieg.

Dies ist der „Positivismus“ der Postmoderne. Als ob es kein „Jenseits“ des Konkreten gäbe, jenseits des konkret fassbaren der Dyade, verweist uns diese Abstraktion von der Macht auf die Dyade zurück, auf die Gattungsmöglichkeiten der condition humaine. Er macht uns ohnmächtig gegenüber der behaupteten Faktizität und Unveränderlichkeit des Bestehenden (Unrechts, Gewalt, Elend, Hunger), wie er selber machtlos ist gegen seine Instrumentalisierung durch den Diskurs der Macht, zur Werbung für die Macht mit den Argumenten der Kritik der Macht, Zur Werbung für den Kapitalismus mit den Versprechungen von Autonomie, Selbstbestimmung, Kreativität und Emanzipation (Boltanski & Chiapello). Statt wie früher (bieder-modern) dem Arbeitslosen entgegen zu halten, er sei an seiner Arbeitslosigkeit selber schuld, kann man „postmodern“ heute sagen: “genieße Deine Freiheit“, „nütze die Chance zur Flexibilität“ (s. Bruder-Bezzel 2005).

Dies ist nicht der Zynismus des Diskurses der Postmoderne, sondern der des Diskurses der Macht. Der Diskurs bestimmt die Bedeutung des Arguments, nicht umgekehrt. Und die Wirkungsmacht des Diskurses wird bestimmt durch die Macht, die er verteidigt, sie ist die Wirkung der Macht, die ihn trägt. Aufgrund der Konstitution der Bedeutung durch den Diskurs, kann dieser jedes Argument aufgreifen, es wird immer die Bedeutung annehmen, die im Diskurs vorgesehen ist, die dieser ihm geben wird.

Dass der Diskurs der Macht Ideen des Diskurses der Postmoderne aufgreift, dies könnte zwar als Ausdruck der Verbreitung der Ideen der Postmoderne gesehen werden, dass der Diskurs der Macht sie aufnehmen müsse. Aber er greift vorzugsweise solche Vorstellungen auf, die uns wertvoll sind, denen wir zustimmen können, unsere Zustimmung nicht verweigern können – aber unsere Zustimmung, die den Argumenten gelten soll, stärkt den Diskurs der Macht.

Er ist der Herrendiskurs. Und der Herr des Diskurses ist dieser nicht zuletzt deshalb, weil wir ihm zutrauen, was er verspricht: nicht nur die „Schaffung von Arbeitsplätzen“ – durch Verlängerung der Arbeitszeit, sondern auch „Selbstbestimmung, Freiheit, Autonomie“ – durch Produktion von Arbeitslosigkeit, wiederum, weil er ja im Besitz der Produktionsmittel ist.

Es ist unsere Zustimmung, die ihn in der Position des Herrn des Diskurses hält, so wie sie uns in der Position des Subjektivierten (Sklaven) hält.

Zustimmung, Unbewusstmachung, Entfremdung weisen zugleich auf die Möglichkeit einer Subjektwerdung jenseits der Macht (der Herrschaft der abstrakten Macht des Wertgesetzes) hin, der Möglichkeit der Aufhebung der Entfremdung – aber nicht als Rückkehr zum Imaginären der Dyade, sondern in der Aufhebung der Herrschaft des Wertgesetzes. Nur dadurch ist die Restitution (Rückeroberung) der Dimension des Konkreten denkbar, dh als die gesellschaftliche Organisierung des Lebens – ohne die Vermittlung des Wertgesetzes.

 


 

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Klaus-Jürgen Bruder, Jg. 1941, Psychoanalytiker, Professor für Psychologie, Freie Universität Berlin, FB 12, Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Psychologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin;
Herausgeber der Schriftenreihe »Subjektivität und Postmoderne« im Psychosozial-Verlag Giessen; Mitherausgeber der Zeitschrift »Geschichte der Psychologie«; Veröffentlichungen u.a.: Kritik der bürgerlichen Psychologie. Zur Theorie des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft. Frankfurt/M. (Fischer) 1973; Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1982; Jugend. Psychologie einer Kultur. (mit Almuth Bruder-Bezzel) München (Urban & Schwarzenberg) 1984; Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1993; Monster oder liebe Eltern. Sexueller Missbrauch in der Familie. (mit Sigrid Richter-Unger) Berlin, Weimar: (Aufbau-Verlag) 1993, 2. Auflage: Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1997; »Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben«. Psychoanalyse und Biographieforschung. Giessen (Psychosozial-Verlag) 2003; Kreativität und Determination. Studien zu Nietzsche, Freud und Adler (mit Almuth Bruder-Bezzel). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2004; Individualpsychologische Psychoanalyse (mit Almuth Bruder-Bezzel). Frankfurt/M. (Peter Lang) 2006.

Mail: klaus-juergen.bruder@fu-berlin.de

 


 

[1] Lacan schreibt „a“ für das Ich und „a´“ für den anderen. Mir scheint aber die umgekehrte Schreibweise konsequenter: „Das Ich ist ein anderer“. Eine weitere Begründung findet diese Schreibweise in Lacans Notation des Diskurses, wo „a“ für das „Objekt des Begehrens steht. Außerdem setze ich hier bereits Lacans spätere Schreibweise für „Subjekt“ ein.
[2] Umfrage des Bundesverbands der deutschen Banken
[3] Befragung durch die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“