Das postmoderne Subjekt

KLAUS-JÜRGEN BRUDER

Das postmoderne Subjekt *

* Colloquium vom 16.11.1995

I. Moderne – Postmoderne


Es gibt heute kaum einen Bereich unseres Lebens und Erlebens, unseres Alltags und Berufs, unserer Praxis, oder kein Gebiet des Wissens, in dem nicht von einem „tiefgreifenden Wandel“ die Rede wäre: Wandel der (Wert)-Haltungen und Einstellungen, der Arbeitsbedingungen und -verhältnisse, der Lebensstile, der (gesellschaftlichen) Bedingungen insgesamt, der theoretischen Auffassungen, der praktischen Antworten, Lösungsversuche, Interventionen. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, diesen Zustand einen „postmodernen“ zu nennen. Wir bezeichnen damit einen Zustand, in dem die bisherigen – die „modernen“ – Orientierungen nicht mehr funktionieren, nicht mehr greifen. Postmoderne wird so zur Diagnose des Zerfalls, der Auflösung: Auflösung der Familie, der Nachbarschaften, der gewachsenen Strukturen und Identitäten (van Reijen, 1988, S. 397). Diese Situation kann Unsicherheit und Desorientierung hervorrufen, sie kann die Sehnsucht nach der Rückkehr der alten Zustände entstehen lassen, verbunden mit dem Festhalten an den alten Lösungsmustern und Denkschablonen.

Der postmoderne Diskurs versucht eine andere Antwort auf diese Situation zu geben. In ihr erhält die Unsicherheit der gegenwärtigen Situation einen anderen Status, als den gerade skizzierten. Sie wird als Möglichkeit verstanden, nach neuen Antworten zu suchen. Die „postmoderne“ Antwort auf diese – postmoderne – Situation ist nicht beschwert durch die Trauer über den Verlust der alten, liebgewordenen Orientierungen und Denkmuster, im Gegenteil: die postmoderne Antwort ist eher beflügelt durch die Freude über die endlich gewonnene Freiheit, neue Wege wählen zu können, uns etwas Neues ausdenken zu können. Zuweilen ist sie nicht frei von Spott über die, die am Alten festzuhalten versuchen. Solchen Spott kennen wir von Baudrillard, wenn er feststellt: „Die Position des Subjekts [ist heute] schlichtweg unhaltbar geworden. Heute ist niemand mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen. … Diese unerfüllbare Aufgabe [ist] einfach lächerlich geworden … mit dem Universum der Psychologie und der bürgerlichen Subjektivität. Wir erleben die letzten Zuckungen dieser Subjektivität, und dabei werden immer noch neue Subjektivitäten erfunden“ (Baudrillard, 1983; dt.: 1985, S. 140).

Vor allem diese Reaktion, diese – spöttische – Antwort auf den Zustand der Kultur und Gesellschaft, ruft den erbitterten Widerspruch jener hervor, die darin eine Absage an ehrwürdige Traditionen europäischen Denkens sehen, eine Absage an die Moderne, einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung. Abfällige Urteile wie „Beliebigkeit“, Verantwortungslosigkeit oder Spielerei einer übersättigten Zeit werden dem postmodernen Diskurs entgegengehalten.

Der postmoderne Diskurs versteht sich in der Tat als eine Kritik an den Vorstellungen der Moderne, an ihren Konzepten von Rationalität und Identität, an ihrem Versagen in politischen und ökonomischen Entscheidungen, an der Legitimationsfunktion ihrer „großen Erzählungen“ – von Fortschritt und Emanzipation. Aber die Argumente sind nicht die einer „Gegenmoderne“, einer Revision der Moderne, sondern die Kritik an der Moderne gründet auf der Analyse, daß die Denkmuster und Lösungsvorstellungen der Moderne der postmodernen Situation nicht mehr gewachsen sind. Diese werden von der Praxis (der postmodernen Wissenschaften, des Wissens) nicht mehr bestätigt, die Praxis ist nicht mehr damit zu fassen. Was die Moderne als „Rationalität“ versteht, wird von der Postmoderne vielmehr als Einschränkung unseres Blickfeldes und unserer Erfahrung erlebt (van Reijen, 1992, S. 283). Jede sogenannte Wahrheit sei eine bloß temporäre Wahrheit (Hassan, 1987). Als postmodern gelten jene (Kultur)Äußerungen, die nicht vorgeben, etwas über den wahren Charakter der Welt und des Menschen auszusagen (van der Loo & van Reijen, 1992, S. 257). Eine „verbindliche Zielsetzung“ für Theoriebildung und -anwendung könne nicht begründet werden. Das Ziel müsse vielmehr offen bleiben. Die Bewegung auf das Ziel könne nicht als Fortschritt definiert werden. Es gebe nicht nur ein Ziel, sondern viele und der Streit über die Ziele werde immer „unvermeidlich antagonistisch“ bestimmt sein (van Reijen, 1992, S. 286). In der heutigen Kultur gebe es keine letztendliche Stabilität, keine Autorität und kein Zentrum.

Der postmoderne philosophische Diskurs reflektiert den umfassenden kulturellen Transformationsprozeß der Moderne und dessen Konsequenzen für das Subjekt. „Das Beunruhigende für den Menschen ist …, daß ihm seine (angebliche) Identität als ‘menschliches Wesen’ entgleitet …. [Die] Vorstellungen, die das unmittelbare Gefühl einer Identität des Menschen nähren, [sind] schwächer geworden. Nämlich: Erfahrung, Gedächtnis, Arbeit, Autonomie (oder Freiheit), …“ (Lyotard, 1985, S. 79f.).

Baudrillard macht sich lustig über die unhaltbar gewordene Vorstellung, Subjekt sein zu wollen, über die unerfüllbare Forderung an das Individuum, Subjekt sein zu müssen, über die Selbstüberschätzung bürgerlicher Subjektivität. „Die Subjekte sind tot, sie können nichts mehr produzieren, im Gegenteil, sie werden produziert. Wir sprechen nicht die Sprache – die Sprache spricht … uns. Wir machen nicht die Tradition, die Tradition macht uns“ (van Reijen, 1988, S. 398). Die Macht, die wir kraft unserer Rationalität über uns selbst, unsere Mitmenschen, unsere Umgebung und unsere Sprache zu haben glaubten, ist illusionär (van Reijen, 1988, S. 397).

„Wir glauben, daß wir überreden, verführen, überzeugen … – doch zwingt nur eine dialektische, erotische, didaktische, ethische, rhetorische, ‘ironische’ Diskursart ‘unseren’ Satz und ‘uns’ selbst ihren Verkettungsmodus auf. Es gibt keinen Grund, diese Spannungen Absichten … zu nennen“ (Lyotard, 1983, § 183). Die Inhalte des Ausgesagten haben ihren Ursprung nicht im Bewußtsein bzw. der Intention von Sprecher-Subjekten, sondern seien abhängig von den zur Verfügung stehenden, kulturell anerkannten Sprachstrukturen. Die Rolle eines Subjektes fällt den Satzstrukturen (Satzregelsystemen und Diskursarten) zu. Das Subjekt ist lediglich eine „Position“ im Satz (Lyotard, 1983, § 18). „Sender und Empfänger werden im Universum, das der Satz darstellt, situiert, genauso wie dessen Referent und dessen Sinn“ (Lyotard, 1983, § 18). Das „Ich“ werde erst durch Benennung, durch einen Namen konstituiert. Sprache wird somit Voraussetzung von Subjektivität (Lyotard, 1983, § 94).

Die Welt sei nur sprachlich faßbar. Aber die Sprache stehe nicht in einem Abbildungsverhältnis zu einer außer- oder vorsprachlich gegebenen Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit sei selbst bereits sprachlich konstituiert (s.a. Konstruktivismus). Sprache sei aber auch kein Königsweg zur Wahrheit. Das Ungesagte, das Schweigen sei der letzte Grund der Sprache (van Reijen, 1992, S. 283). Hören auf das Schweigen sei deshalb die Aufgabe der postmodernen Philosophie: sich auf Wahrheit ex negativo beziehen, so wie es die Aufgabe der postmodernen Kunst sei, das Undarstellbare darzustellen (Lyotard, 1988, S. 221). Das „Undarstellbare“: das ist jener „blinde Fleck“ im Denken, der jeder Innerlichkeit (oder traditionellen Subjektivität) immer schon entgehe, jene Differenz, die vom Bewußtsein nicht erfaßt werden könne. Das auf diese Weise „Ungedachte“ ist das kontingente sich Ereignen von Wirklichkeit, das, obwohl es vom Bewußtsein nicht zu fassen ist, gleichwohl in diesem stets anwesend ist und es unaufhörlich bedroht (Lyotard, 1990, S. 26). Dadurch ist das Bewußtsein ein Imaginäres, Effekt eines Nicht-Sehen-Könnens, Effekt einer Illusion. Oder, wie Dietmar Kamper schreibt: „… das Bewußtsein [ist] kein Organ der Erkenntnis, sondern eines der Abwehr von Erfahrung …“ (Kamper, 1988, S. 9; vgl. auch S. 108). Sich auf das kontingente sich Ereignen von Wirklichkeit einzulassen, hieße: in einem „Spiel ohne Regeln“ die Daten auf neuartige Weise zu synthetisieren, den Zugang zur Wirklichkeit sich nicht durch apriorische Erkenntnisregeln zu verstellen. Die Erkenntnisregeln ergeben sich erst nachträglich im Akt des Denkens. Das Spiel ohne Regeln ist für Lyotard die adäquate Weise, sich durch das Chaos spätkapitalistischer Gesellschaften zu bewegen (Lyotard, 1983, § 98). Lyotard beansprucht damit Handlungsspielräume für das Individuum zu erkunden und zu eröffnen.

Der Diskurs über die Postmoderne begann in den 60er Jahren in den USA als Kritik zunächst an der literarischen Moderne. Die postmoderne Kunst reagierte auf eine kulturelle Krise: Verwischen der Grenzen zwischen Hochkultur und Popkultur und Absage an die Interpretation (van Reijen, 1992, S. 9ff.). Sie artikulierte den Widerstand gegen die als erstarrt empfundene moderne Gesellschaft (van der Loo & van Reijen, 1992, S. 257).

Eine radikale Kritik der Moderne hat es seit deren Anfängen gegeben. Sie erreichte ihren Höhepunkt zum Zeitpunkt der Durchsetzung der modernen Gesellschaft in der Industrialisierung, der Großstadt. Diese Kritik, zunächst als kritisches Einklagen der Versprechen der Moderne in der Aufklärung, war bei Marx als Kritik der Produktionsweise formuliert. Das Kapital als Motor der Geschichte „kritisierte“ alle bisherige Geschichte in dem Sinne, daß es die vorgefundenen Verhältnisse auflöste, „verdampfte“: alles Traditionelle, alle Sicherheiten, die Fesseln der Produktivkräfte.

Nietzsche, Heidegger; Bataille, Blanchot, Lacan, Derrida machen auf unterschiedliche Weise ästhetische Verfahren zum Instrument einer philosophischen Kritik der Moderne. So unterlaufen sie die unausgesprochenen Voraussetzungen des rationalen philosophischen Diskurses, dem sie gleichwohl verpflichtet bleiben (Bürger, 1992). Postmodern ist: die Skepsis gegenüber jenen durch die Aufklärungsphilosophie begründeten Ansprüchen der Beweisbarkeit der Wahrheit unserer Urteile, der Möglichkeit eines Übergangs von kognitiven Urteilen zu moralischer Verpflichtung und der Kalkulierbarkeit und Legitimation von Interventionen (van Reijen, 1992, S. 282f.). Im Unterschied zur – klassischen – Kritik, die die Unmöglichkeit einklagt, sei es als – kulturkonservative – Kritik an den Menschen, sei es als – progressive – Kritik der Verhältnisse, die es den Menschen unmöglich machen, die Versprechen/Forderungen der Aufklärung auf die Freiheit des selbstbestimmten Subjekt-Seins zu realisieren/zu erfüllen, mißt der postmoderne Diskurs die Verhältnisse nicht mehr an den Versprechen der Aufklärung.

Was die postmoderne Diagnose der Zeit von der Marx’schen unterscheidet ist ihr Verzicht auf ein Jenseits dieses Zustandes, jenseits des Kapitalismus, jenseits dessen das Projekt einer humanen Gesellschaft erscheint, durch das Abstreifen der Fesseln der Produktivkräfte. Postmoderne Diskussion macht nicht nur die uneinlösbaren Versprechungen der Aufklärung lächerlich, sondern sie bezieht – bei Lyotard in La condition postmoderne (1979) – den Marxismus mit ein in ihre Kritik an den „großen Erzählungen“ der Aufklärung und des Idealismus. Diese seien – als große Erzählungen – fehlgeschlagen in ihrem Versuch, eine heterogene Wirklichkeit unter eine einzige Perspektive zu fassen, sei es der Erkenntnistheorie oder der Emanzipation. Sie erzeugten damit Terror und nicht Humanität (Lyotard, 1979, S. 113). Diese „Delegitimierung“ bereitet der Postmodernität den Weg (Lyotard, 1979, S. 118). Die Erfahrung des Scheiterns der Revolution(en), wenn nicht in der Eroberung der Macht, so spätestens im Versuch, bzw. Versprechen, andere Verhältnisse einzurichten, wird zur Absage an die revolutionäre Hoffnung auf die Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Ökonomie.

Diese Absage trug den Vertretern des postmodernen Diskurses den Vorwurf der Affirmation ein, und Fukuyama nennt seine Affirmation des triumphierenden Kapitalismus ja auch eine postmoderne (1992). Die affirmative Architektur der Metropolen war ihm darin vorausgegangen. Hier, im „anti-modernistischen Postmodernismus“, wie Frederic Jameson (1984) diesen im Unterschied zum „pro-modernistischen“ Lyotards bezeichnet, dreht sich die Kritik an der Moderne um: aus einer Absage an die Gewalt und Herrschaft wird eher eine Absage an die Menschen und die Emanzipationsversprechungen der Moderne. Der Mensch ist zwar eingeplant, aber nicht als Schöpfer dieser Inszenierungen und Bauten, sondern als ihnen Unterworfener.

Man sieht, der Begriff der Postmoderne wird von unterschiedlichen Positionen beansprucht, steht nicht für einen einheitlichen Diskurs, sondern für ein Forum, auf dem die unterschiedlichsten Diskutanten um die Hegemonie, die Definitionsmacht miteinander streiten. Politisch hat der Kapitalismus erst mal gesiegt, ist als Sieger hervorgegangen: aus der Konkurrenz der „Systeme“. Er scheint das einzig mögliche ökonomische System zu sein. Ökonomisch hat er damit aber noch lange nicht gesiegt, im Gegenteil, die Probleme scheinen eher größer zu werden – die Kriege sind ein Zeichen dafür – oder besser: sie werden offensichtlicher, sie können nicht mehr versteckt werden hinter dem Hinweis auf das andere „schlechtere“ System. In dieser Situation haben wir wieder den Legitimationsdiskurs: den Diskurs als Ablenkung, „Rauchschleier“: die Kritik am untergegangenen Konkurrenzsystem ersetzt die Selbstkritik des Kapitalismus. Hierfür werden Argumente der Postmodernen herangezogen.

 

II. Lyotard


Seyla Benhabib versteht den postmodernen Diskurs als Kritik der westlichen Rationalität aus der Perspektive ihrer Peripherie, vom Standpunkt derer, die von ihr ausgeschlossen wurden (1992). Dieser Ausschluß – der Frauen, der Kinder, der Narren und der Primitiven – war die Kehrseite der grandiosen Vision der modernen westlichen Zivilisation, der „Aufklärung“. Die Aufklärung hatte versucht, das „Andere“, das Heterogene, aus der als homogen vorgestellten sozialen Wirklichkeit zu eliminieren. Deshalb wird das Denken der Aufklärung im postmodernen Diskurs als „totalitäres“ denunziert [1].

„Aufklärung ist totalitär“ hieß es bereits in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno (1968 = 1947, S. 16). Von der Aufklärung werde nur anerkannt, was durch Einheit sich erfassen läßt. „Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen“ (ebd., S. 17). Horkheimer & Adorno erkennen darin „das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft selbst“ wieder. Diese sei „beherrscht vom Äquivalent.“ Sie mache „Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert“ (ebd., S. 18). Die Abstraktion, „das Werkzeug der Aufklärung“, verhalte sich zu ihren Objekten „als Liquidation“ (ebd., S. 24). „Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen untertan. …. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herren, im Kommando“ (ebd., S. 19). „Die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit“ (ebd., S. 25).

Die philosophische Postmoderne greift diesen Diskurs wieder auf, knüpft an ihn an – das ist zumindest eine mögliche Sichtweise. Jacques Derrida (1991) erkennt im „endlosen Spiel binärer Oppositionen“ den Versuch, die Anwesenheit des Anderen in den Texten der westlichen Metaphysik zu löschen. Die Logik der binären Oppositionen sei eine Logik der Unterwerfung und der Beherrschung: „Logik des Entweder-Oder“ (Horkheimer & Adorno, 1968 = 1947, S. 53). Ebenso wie für Lyotard, ist für Derrida die Differenz unaufhebbar: „Differänz“. Die condition postmoderne sei kein Pluralismus, sondern Folge von unlösbaren Gegensätzen (van der Loo & van Reijen, 1992, S. 261). Es gibt keine Synthesis, keine „Metasprache“ (Lyotard), „keine ‘Sprache’ im allgemeinen“, sondern viele Sprachen, viele Arten zu reden, Satz-Regelsysteme und Diskursarten: Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwischen diesen verschiedenen Sprachen bestehe ein unaufhebbarer Widerstreit (Lyotard, 1983) [2].

Dem Denken der Aufklärung, das sich darüber hinwegsetzt, wird – wie Horkheimer & Adorno formulierten – „die Rechnung präsentiert“ (1968 = 1947, S. 39): das „Andere der Vernunft“ sucht diese selbst heim (Foucault, 1961). „Mit der Versachlichung des Geistes wurden alle Beziehungen der Menschen selber verhext“ (Horkheimer & Adorno, 1968 = 1947, S. 41). Das Subjekt scheitert an der – fatalen – Strategie des Objekts (Baudrillard, 1985). „Die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst“ (Horkheimer & Adorno, 1968 = 1947, S. 39). „Das Erwachen des Subjekts [wurde] erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen (ebd., S. 19). „Innerlichkeit, die subjektiv beschränkte Gestalt der Wahrheit, war stets schon den äußeren Herren mehr als sie ahnte untertan“ (ebd., S. 171). Heute bestehe der Verdacht, daß die „menschliche Innerlichkeit“, die „selbstbezügliche Bewußtseinsinstanz, auf die die Moderne gesetzt hatte, zu einem universalen Gefängnis umgebaut“ werde, daß sich das Subjekt in der Immanenz des Imaginären selbst einschließe (Kamper, 1988, S. 104).

„Als Organ solcher Anpassung ist Aufklärung destruktiv“ stellen Horkheimer und Adorno fest (1968 = 1947, S. 56). Sie halten aber dennoch an der „Dialektik der Aufklärung“ fest, daran daß Aufklärung „als solche der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt ist“ (ebd., S. 55). Die Aufklärung habe jedoch „ihrer eigenen Verwirklichung entsagt“ (ebd., S. 56). Die „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (ebd., S. 7) sei das Ergebnis. Aufklärung komme erst dann (wieder) zu sich selbst, wenn sie „das falsche Absolute“ aufzuheben wage, das Prinzip der blinden Herrschaft, wenn sie dem letzten Einverständnis mit diesem absage (ebd., S. 56f).

Und Horkheimer & Adorno schließen mit der Zuversicht, daß das Wissen nun in die Auflösung des „falschen Absoluten“ überzugehen vermag (ebd., S. 56f.). Dies ist auch die Überzeugung der Vertreter der Postmoderne. Sie sehen im postmodernen Diskurs keinen Bruch mit dem der Aufklärung, sondern dessen Fortführung, Verflüssigung, Verwirklichung. Für Lyotard ist das postmoderne Wissen nicht nur ein Instrument der Herrschenden. „Es verfeinert [vielmehr] unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen“ (Lyotard, 1979; dt.: 1982, S. 16). Da das postmoderne Wissen seinen Grund „nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder“ (ebd., S. 16) habe, plädiert Lyotard für einen experimentellen philosophischen Diskurs ohne (apriorische) Erkenntnisregeln (1983, § 98).

„Ein solches Denken scheint mir gegenwärtig wegen seiner Begreifenskapazität und Wirklichkeitskompetenz an der Zeit zu sein“, schreibt Wolfgang Welsch (1993, S. 35). „Die einst für dubios gehaltenen ästhetischen Perspektiven erweisen sich zunehmend als die wirklichkeitsnäheren und erschließungskräftigeren …. Heutige ‘Wirklichkeit’ ist wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über Prozesse medialer Wahrnehmung konstituiert“ (ebd., S. 35). Dabei sei zu denken an Wahrnehmung allgemein, vornehmlich an ein Erfassen originärer Sachverhalte, die nicht etwa logisch-induktiv oder -deduktiv gewonnen werden können. „Wahrnehmungen dieser Art haben mit Innewerden, Gewahrwerden, Merken und Spüren zu tun. Es geht darum, Erstbedeutungen auf die Spur zu kommen, gerade auch solchen, die das Sinnenhafte überschreiten“ (ebd., S. 34). Es geht darum, die Wahrnehmungskapazität des Subjekts zu erweitern und damit auf die Herausforderungen und Verunsicherungen der Postmoderne zu reagieren, die sich aus dem Zusammenbruch der gewohnten raum-zeitlichen Ordnung (der Moderne) durch das Aufkommen der neuen technischen Medien für das Subjekt ergeben. Es geht „um die Vervielfältigung der Möglichkeiten, Daten zu verbinden, um neue Formen darzustellen und zu genießen“ (Lyotard, 1989, S. 71).

Die Situation des Subjekts heute ist durch die Singularität des Augenblicks bestimmt, durch isolierte, punktuelle Augenblicke, die nicht in einem eindeutigen Zusammenhang mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen stehen. Der kommende Augenblick ist ungewiß und undeterminiert. Das Subjekt wird mit der Kontingenz konfrontiert. Kein Blick auf Vergangenes oder Zukünftiges vermag Sicherheit (eines Sinnes) und Handlungsorientierung zu gewähren.

Im Zeitalter der Elektronik haben wir es nicht mehr mit Dingen sondern mit Immaterialien zu tun. Bei diesen kann jene scharfe Trennungslinie zwischen Geist und Materie, Subjekt und Objekt nicht mehr gezogen werden, durch die sich das neuzeitliche Subjekt konstituierte. Das souveräne Subjekt der Aufklärung gestaltete ihm Entgegen-stehendes (Ob-jektives). Der Raum dieser Gestaltung und Selbst-Gestaltung war das raum-zeitliche Kontinuum (Böhme & Böhme, 1985). Übersichtlichkeit und Vorhersehbarkeit der Welt der Moderne wurde durch verschiedene Strategien zur Eliminierung der Kontingenz erreicht. Mit dem Verlust dieser Stützen scheint das rational verfahrende neuzeitliche Subjekt kaum noch handlungsfähig. Deshalb die „Krise des Subjekts“. Das Subjekt ist nicht in der Lage, der Prozeß- und Ereignishaftigkeit unserer Welt zu begegnen, die veränderte Welt hoher Komplexität zu reflektieren, weil es an das neuzeitliche Raum-Zeit-Kontinuum gebunden ist. Das Paradoxe der Situation besteht darin, daß die Konzepte des neuzeitlichen Raum-Zeit-Kontinuums immer noch handlungsleitend sind.

Lyotard versucht, die Wahrnehmung ohne bewußtes Subjekt zu denken und damit auch ohne Einheit. Lyotard trägt damit „ein Konzept vor, das in einen sehr elementaren Bereich der Realitätswahrnehmung vordringt“ (Reese-Schäfer, 1989, S. 77), er „überspringt zwei traditionell entscheidende Momente des Denkens: das Bewußtsein und das Subjekt“ (Reese-Schäfer, 1989, S. 88).

Das Subjekt wird bei Lyotard durch ein System von Strukturen, Oppositionen und Differenzen ersetzt (Frank, 1989). Aber es waren bereits Horkheimer & Adorno, die feststellten, daß der einzelne „zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammenschrumpft, die sachlich von ihm erwartet werden“ (Horkheimer & Adorno, 1968 = 1947, S. 41). Jedermann wird seine eigene Geschichte und seinen eigenen Stil selbst bestimmen können; aber dieses „Eigene“ ist eine Illusion (van der Loo & van Reijen, 1992, S. 262).

„Aus dem Zerfall der Großen Erzählungen ergibt sich … keineswegs … die Zersetzung des sozialen Bandes, … Zustand einer aus individuellen Atomen bestehenden Masse …. Das Selbst, auf das jeder zurückgeworfen: ist nicht isoliert, es ist in einem Gefüge von Relationen gefangen; auf Posten gesetzt, die von Nachrichten verschiedener Natur passiert werden. Es ist niemals machtlos gegenüber diesen Nachrichten, die es durchqueren, indem sie ihm die Stelle des Senders oder des Empfängers oder des Referenten zuordnen“ (Lyotard, 1979; dt.: 1982, S. 55).

Das Paradigma des Bewußtseins wird bei Lyotard durch das Paradigma der Sprache ersetzt (Frank, 1989). Lyotard möchte von der Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeit der Sprachspiele überzeugen, davon, daß „Sprechen Kämpfen im Sinne des Spielens ist und Sprechakte einer allgemeinen Agonistik angehören“ (Lyotard, 1979; dt.: 1982, 40). Sprechen sei stets, infolge der Singularität der Sätze und des Fehlens einer Metaregel, von einer fundamentalen und unüberwindlichen Ungerechtigkeit durchzogen. Durch die Sprache werden Machtstrukturen aufgebaut und stabilisiert (s. Foucault, 1972). Nietzsches These, daß die Welt Wille zur Macht sei, reformuliert Lyotard unter heutigen Bedingungen, d.h. insbesondere unter sprachphilosophischen Gesichtspunkten. Der Kampf finde statt „zwischen Redestrukturen, die die Welt konstituieren“ (Taureck, 1991, S. 187f). Es bestehe die ständige Gefahr, daß ein Diskurs die Macht an sich reiße und die anderen Diskurse dadurch unterdrücke, daß er diese mit seinen eigenen Regeln beurteilt. „Die Möglichkeit von Sprache ist die Möglichkeit zur Gewalt als Beraubung von sprachlicher Artikulation“. Der Widerstreit handelt von dieser „Gewalt der Diskurse“, von „der Tendenz der Diskurse zur Verdrängung anderer Diskurse“, vom „Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst“ (Taureck, 1988, S. 291ff.). In der Gegenwart drohe die Hegemonie des Diskurses der Informatik.

Es gelte, „Widerstreite“ als solche zu bezeichnen (bezeugen) und unterdrücktem Sprechen durch die Suche nach einer geeigneten sprachlichen Artikulation zum Ausdruck zu verhelfen. Es können nur lokale und Kontext-spezifische Kriterien der Gültigkeit formuliert werden.

Lyotard als Anwalt des Heterogenen, Inkommensurablen und Singulären plädiert dafür, die Probleme unbedingt offen zu halten, sie als Probleme überhaupt erst bewußt werden zu lassen, statt vorschnelle Antworten zu geben. Diese Option impliziert einen „Polytheismus von Werten“ und eine Politik der Gerechtigkeit jenseits von Konsens (Benhabib, 1992, S. 9f.).

Die philosophische Postmoderne reagiert auf den Verlust des Glaubens, daß wir Beweisgründe für unsere fundamentalen demokratischen Werte haben können (van Reijen, 1992, S. 9ff.). Der Verzicht auf den Anspruch, gesichertes Wissens zu erwerben und mit Hilfe dieses Wissens die gesellschaftlichen Widersprüche zu versöhnen, seien die wichtigsten Voraussetzungen für die Sicherung demokratischer Verhältnisse (Lefort & Gauchet, 1990). Die wahre Theorie der Demokratie versuche nicht, die Antagonismen aufzuheben oder zu verschleiern, sondern mache klar, daß das „Unversöhnbare“ das Herzstück der noch ausstehenden Demokratie ist. Es manifestiere sich zum einen im „bürgerlichen Konflikt“ und liege zum anderen, wie das Es dem Ich, der Gesellschaft als ihr „Anderes“ zugrunde. Es manifestiere sich in den vielfältigen Repräsentationen: Nutzlosigkeit, Verschwendung, Sinnlosigkeit – die Symbolisierung des Verschiedenen (Lefort & Gauchet 1990).

Was in den Diagnosen der Postmoderne als „Auflösung des Subjekts“ (Gergen & Davis, 1985; Shotter & Gergen, 1989) erscheint, ist eine Auflösung der Subjekt-Philosophie (des 19. Jahrhunderts): durch den postmodernen Diskurs. Das Individuum als Subjekt, „das autonome Subjekt der philosophischen Aufklärung“ (van Reijen, 1992, S. 7) verstand sich als Herr über das Objekt: der Souverän, Bourgeois. Diesen Status hatten allerdings die wenigsten. Sie verharren im Zustand des Objekts. Dem Objekt wird der Subjekt-Status angedient: unterworfen, sich unterwerfend, werde es zum Herrn. „Das Subjekt ist im Anschluß an Kant definiert durch die Doppelung von Untertänigkeit und Freiheit“ (Kittler, 1988, S. 402). Das Individuum zerbricht an den Zumutungen, Subjekt sein zu sollen und es nicht sein zu können: Psychische Störungen als die Folge der „Überforderung des Ich“ (van der Loo & van Reijen, 1992, S. 230). „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“ (Freud). Es wird kontrolliert durch Wünsche, Bedürfnisse und Kräfte deren Wirkungen sowohl die Inhalte seiner „klaren und distinkten Ideen“ formen, als auch seine Fähigkeit sie zu organisieren (Benhabib, 1992, S. 207). Aber auch und wesentlicher: es werden ihm die Ressourcen vorenthalten, die zu seiner Realisierung erforderlich wären (s. Wahl, 1989).

Auflösung der Subjekt-Philosophie heißt: Auflösung der Forderung an das Individuum, Subjekt sein zu sollen. Für William James (in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts) hatte dies eine Befreiung bedeutet – vom System des Denkens, von den Fesseln der Theorie, vom Determinismus des fate, des Vaters und der Vergangenheit (s. Bruder, 1993). Das ist Postmoderne – als Diskurs (im Unterschied zur Postmoderne als Zustand): Diskurs der Befreiung, Ironisierung, Delegitimierung von Herrschaft. Foucault: das Subjekt (der Moderne) – geschaffen durch Disziplinarapparate, Überwachungsapparate und Internalisierung dieser Überwachung – verschwindet (wie „die Spur im Sand am Ufer der Geschichte“). Daß dieses verschwindet, kennzeichnet den Zustand der Postmoderne.

 

III. Foucault


Die Auflösung des Selbst: von William James ironisiert, begrüßt gegen die Fesselung des Subjekts, wird in der Postmoderne Realität. Weil es aber verschwindet, nicht durch Kritik und Reflexion, sondern durch die Verhältnisse selbst erzwungen, wird dieses Verschwinden als Zerfall erlebt, als Leiden, das nach Heilung verlangt: Heilung des Selbst (Kohut) [3]. Das schließt allerdings nicht jene andere James’sche Perspektive aus: nämlich die der „Herstellung der Einheit des Selbst“ als „zweiter Geburt“. Heute können wir diese Perspektive in Foucaults Projekt der Selbst-Konstituierung wieder finden [4]. Sie schließt die Notwendigkeit der Dekonstruktion des Diskurses der Herrschaft ein.

Im Gegensatz zu Lyotards subjektkritischer Haltung zeigt Foucault, daß nicht notwendig jede Form von Selbstbezug oder Subjektinstanz gescheitert ist. Ebensowenig müssen der Traum der Freiheit, die Hoffnung auf Änderung oder ratio oder Verstandesdenken als angemessene Orientierungsmittel des Subjekts überhaupt aufgegeben werden. Foucault hat in seinen letzten Jahren ganz neue Wege gefunden, über Subjektivität zu sprechen. Das Subjekt als ein experimentierendes, das sich in jedem Augenblick neu erschafft, das ein anderes würde, indem es sich durch gänzlich neue und andere Erfahrungen ständig transformiert. Foucault hält damit an Rationalität, Reflexivität, Freiheit und Emanzipation des Subjekts fest, daran, sie anders und im Hinblick auf andere Ziele zu denken: sie „im Modus der Aktualität“ zu denken. Lyotards experimenteller Diskurs ohne Regeln, das Austragen von Widerstreiten und die Erkundung neuer sprachlicher Operatoren wären für Foucault bereits Techniken des Selbst, Weisen der Subjektivierung.

Das Subjekt konstituiert bzw. subjektiviert sich durch seine Praktiken: Praktiken der Unterwerfung oder der Befreiung. Die Bedingungen für die Entstehung einer Subjektinstanz findet Foucault in der christlichen Beicht- und Geständnispraxis, bzw. deren säkularen Variationen (Tests, Code, Modell). Sie bringen das Subjekt überhaupt erst hervor, aber als ein unterworfenes, diszipliniertes, normalisiertes. „Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden“ (Foucault, 1976; dt.: 1977, I, S. 77). Mit dem Geständnis war die Hoffnung auf Selbsterkenntnis verbunden. Diese Hoffnung impliziert ein „tiefes“, „wahres“, aber verdecktes und darum zu befreiendes Selbst. Foucault wendet sich gegen diese Sichtweise. Er setzt bei der Ebene der Praktiken an. Von dort aus erscheint alles Zugrundeliegende, Wahre, Identische als Hypostasierung.

Das Subjekt Foucaults ist ein sich selbst Konstituierendes und Transformierendes. Subjektivität fällt mit dem Prozeß der Subjektivierung zusammen – Subjektivierung zugleich als eine Form der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Nach dem Ende der traditionellen Formen der Kritik und des Widerstandes werde „heute der Kampf gegen die Formen der Subjektivierung, die die Individuen in Machtnetze einspannen, gegen die Unterdrückung durch Subjektivierung zunehmend wichtiger, auch wenn die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind“ (Foucault, 1982, S. 247). Politische Kämpfe seien heute zunehmend Kämpfe um eine neue Subjektivität, bzw. Kämpfe gegen all das, was das Individuum an es selber fesselt und dadurch anderen unterwirft. „Wir müssen neue Formen von Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen“ (ebd., S. 250). Für die Individuen ginge es darum, die Praktiken, durch welche sie in die Machtnetze eingebunden werden, zu durchschauen – in einem „aktiven Schweigen“ „sich von sich selbst zu lösen“ – und ihnen Praktiken der Freiheit, die die Macht unterlaufen entgegenzusetzen, d. h. sich anders zu subjektivieren, „eine verändernde Erprobung seiner selber“ durchzuführen, „eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken“ (Foucault, 1984; dt.: 1986, II, S. 16).

Der Grundannahme des abendländischen Diskurses: Freiheit und Emanzipation durch Individuierung und Subjektivierung qua Entzifferung dieses Subjekts setzt Foucault Individuierung und Subjektivierung als Machttechniken, die die Individuen kontrollieren, entgegen. In der Praxis der christlichen Beichte wurden alle Vorgänge des Bewußtseins einer ständigen Selbstkontrolle unterzogen. Zentraler Gegenstand der Überprüfung war das Begehren. Damit konstituierte das Abendland eine Erfahrung, die die Subjekte dazu brachte, sich als Subjekte eines Begehrens anzuerkennen. Dadurch verfangen sich die Individuen immer wieder in der Normalisierungsmaschinerie. Ein befreites Subjekt heute müßte den Glauben an das Subjekt des Begehrens außer Kraft setzen. Das wäre eine neue Form der Subjektivierung (Ästhetik der Existenz). Das Mittel dazu ist für Foucault die „Genealogie“. Sie legt die historischen Umstände offen, unter denen „der abendländische Mensch sich jahrhundertelang als Begehrenssubjekt zu erkennen hatte“ (ebd., S. 12). In der heutigen Disziplinargesellschaft wird Normalisierung nicht durch direkte Machteinwirkung hergestellt, sondern durch „politische Technologie des Körpers“ (in Schule, Kaserne, Fabrik und Hospital). Die Geständnisprozedur wird zur „Geständniswissenschaft“ ausgebaut. Die „Sexualität“ ist ihr Zentrum. Das Begehren – im christlichen Diskurs negativ besetzt – erhält nun ein positives Vorzeichen. Die Heilsordnung wird therapeutisch.

Es müsse ein Selbstbezug erarbeitet werden, der die Individuen nicht versklave. Dieser sei nicht durch die Vorgabe eines bestimmten Wissens oder universell gültiger Regeln zu erreichen. Neue Subjektivierungsweisen können nur experimentell erarbeitet werden. Damit könnte „das Leben eines jeden … ein Kunstwerk werden“ (Foucault, 1982, S. 273). Diese „Ästhetik der Existenz“ sei unter den gegenwärtigen Bedingungen des Normalisierungsdruckes unverzichtbar, entspringe einer „Diagnose der Gefahr“. Foucault hat diese Subjektkonzeption aus der Reflexion um eine neue Ethik entwickelt, die das Verhalten, Denken nicht an einem vorausgesetzten Gesetz mißt, sondern daran, ob die jeweilige Existenzweise jenen Regeln der Selbstregierung oder Selbstregulierung gehorcht, die der freien Wahl überlassen sind (Deleuze, 1986, S. 166). Im Unterschied zu traditionellen Ethiken, die von einem wesenhaften „Ich“ ausgegangen sind und erklärten, daß dieses „Ich“ dann ein moralisches sei, wenn es sich einem allgemeinen Gesetz, einer Autorität unterwirft, ist bei Foucault das Subjekt ein historisches, sich veränderndes, sich transformierendes. Die Frage seiner Ethik als einer Ästhetik des Existenz ist die nach den Praktiken, die es dem Individuum gestatten, zu einer Form des Verhältnisses zu sich selbst zu finden, in der es sich als Subjekt einer moralischen und gesellschaftlich anerkannten Lebensführung konstituiert. Sie erfordere die Arbeit am reflektierenden Subjekt. Diese sei unverzichtbares Instrument für seine Freiheitspraxis, für die Erkundung neuer Wege der Subjektivierung.

 

Anmerkungen

[1] Ihab Hassan und Jean F. Lyotard sehen in einem entgrenzenden Antitotalismus den kritischen Hauptimpuls des Postmodernismus (van der Loo & van Reijen, 1992, S. 257).

[2] „Sie [- zwei ineinander nicht übersetzbare Sätze -] können in Hinblick auf einen durch eine Diskursart festgelegten Zweck miteinander verkettet werden. … Diese Diskursarten liefern Regeln …, mit denen Ziele erreicht werden können: Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtfertigen, Bewerten, Erschüttern, Kontrollieren“ (Lyotard, 1983, dt.: 1987, S. 10).

[3] Kohut diagnostiziert die „Fragmentierung des Selbst“ und führt diese auf schwerwiegende Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung, bzw. ihr Scheitern zurück (s. Kohut 1977).

[4] Zur Beziehung von Foucaults Ethik zu Kohut: s. Wolfstetter, 1985, S. 61-72, S. 69.

 

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